4. Die judäische Aristokratie und die Schwäche des davidischen Königthums.

[400] Einem entscheidenden Entwicklungsproceß in dem judäischen Staatsleben, dem Auftauchen einer übermächtigen Aristokratie, hat man bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl viele Vorgänge in den letzten 150 Jahren des Reiches Juda erst dadurch das richtige Verständniß erhalten. Auch hier hat sich aus der patriarchalisch-republikanischen Ordnung das absolute Königthum entwickelt, und dieses hatte neben sich sein Correlat, eine Aristokratie. Die Stellung dieser Aristokratie dem Königthum gegenüber muß daher genetisch behandelt werden. Der letzte judäische König Zedekia sprach mit einem unterdrückten Seufzer zu den Fürsten Juda's, als sie den Tod Jeremia's drohend verlangten: »Er ist in eurer Hand, denn der König kann doch mit euch nichts sprechen.« (Jeremia 38, 5): רבד םכתא לכוי ךלמה ןיא יכ. Daraus folgt schon, daß der König gegenüber der Aristokratie ohnmächtig war. Eine Unterredung, die er heimlich mit Jeremia geführt hatte, sollte auf seinen ausdrücklichen Wunsch geheim bleiben, damit die Fürsten nichts davon erführen (das. V. 24-26). Doch diese Abhängigkeit Zedekia's kann. in der unglücklichen Zeitlage ihren Grund gehabt haben, weil sie argwöhnisch gegen ihn waren, daß er ein falsches Spiel treibe. Indessen erscheint diese Abhängigkeit des Königthums schon früher. unter Chiskija. Liest man die jesaianisch-prophetische Standrede an Schebna (22, 15-25) mit Aufmerksamkeit, so erkennt man daraus die Schattenhaftigkeit des Königs gegenüber den Fürsten. Dieser Schebna führte [400] den Titel ןכוס, er war לע תיבה, Palastaufseher und hatte die Macht eines major domus. Es folgt aber aus dieser Rede, daß dieses Amt ein stetiges war. Denn, wie Jesaia Schebna's Sturz prophezeit, fügt er gleich hinzu, daß ein Würdigerer seine Stelle einnehmen werde, nämlich Eljakim ben Chilkijjahu. Dieser Eljakim stammte aus dem davidischen Hause (Vers 23-24) ויבא תיבל דובכ אסכל היהו ויבא תיב דובכ לכ וילע ולתו. Vorangeht: תיב חתפמ יתתנו ומכש לע דוד, er werde die Schlüssel des Hauses Davids auf seiner Schulter tragen, er werde öffnen und schließen u.s.w., und der Ort, wo Gott ihn feststellen werde, werde ein Ehrenthron für sein väterliches Haus sein. Diese poetische Schilderung involvirt in diesem Abschnitt dreierlei: einmal, daß dieser Eljakim von königlich davidischer Linie war, dann, daß er dieselbe Stellung haben sollte, wie sein Vorgänger, dessen Sturz vorausgesagt wird, und endlich daß mit dieser Stellung (בצמ, דמעמ) eine ausgedehnte Macht verbunden war. Indem Jesaia Eljakim verheißt, daß die Herrschaft, welche Schebna bis dahin inne hatte, dem Ersteren zugewiesen werden würde, ודיב ןתא ךתלשממו, folgt daraus, daß das Amt des ןכס Machtvollkommenheit und Herrschaft in sich schloß, was auch aus dem folgenden hervorgeht הדוהי תיבלו םלשורי בשיל באל היהו, er werde zum Vater, d.h. zum Angesehenen sein, nicht bloß für die Bewohner der Hauptstadt, sondern auch für das ganze Haus Juda. Da verkündet wird, daß Eljakim, der Würdigere, Schebna's Stelle einnehmen werde, so ist es unzweifelhaft, daß die Machtstellung mit der Person des ןכס oder des Palastaufsehers verbunden war. Deshalb sagt auch der Verstheil von Schebna's Sturz aus ןמאנ םוקמב העוקתה דתיה שומת, der Pflock, der in einem festen Orte eingeschlagen ist, werde weichen, d.h. er werde seine bisher innegehabte Machtstellung einbüßen. Die Frage drängt sich daher auf, wenn der Sochên oder der Palastaufseher diese ausgedehnte, omnipotente Herrschaft über das Reich Juda innegehabt hat, wo blieb da der König? Und die Antwort ergiebt sich von selbst: le roi regnait, mais il ne gouvernait pas. Die Königsmacht war durch den jedesmaligen Palastaufseher beschränkt, dieser war der major domus.

War dem so, so kann man voraussetzen, daß die Rüstungen zum Kriege gegen Sancherib nicht vom König Chiskija, sondern von dem major domus betrieben worden sind. Demgemäß bildet die ganze Prophezeiung in diesem Kapitel ein einheitliches Ganzes, und man braucht es nicht in zwei separate Partieen zu zerlegen. Es besteht lediglich aus zwei Hälften. In der Ersten rügt der Prophet die Kriegsrüstungen, von welchen allein das Heil erwartet wurde und nicht von Gott (V. 11): קוחרמ הרציו הישע לא םתטבה אלו םתיאד אל. In der zweiten interpellirt er den Machtinhaber Schebna und prophezeit dessen Sturz. Er will offenbar damit sagen, daß die Kriegsrüstungen von diesem ausgegangen seien. Damit schwindet auch das Befreundende, daß der Prophet gerade unter Chiskija's Regierung den Mangel an Gottvertrauen rügt, obwohl dieser König überall als gottesfürchtig und gottvertrauend geschildert wird. Chiskija war allerdings fromm, aber die Fürsten, speciell der major domus, hatten mehr Vertrauen zu weltlichen Mitteln, zu Kriegsrüstungen. Daher wird in allen Jesaianischen Prophezeiungen aus der Chiskijanischen Zeit der König mit Stillschweigen übergangen. Er war bei allen Unternehmungen von den Großen abhängig, oder richtiger ohnmächtig, ebenso wie später Zedekia. Diese, und an ihrer Spitze der Sochên, hatten allein die Entscheidung. Daher stellt diese Prophezeiung die Fürsten an die Spitze ךחי ודדנ ךיניצק לכ, »alle deine Häuptlinge fliehen allesammt.« Die Rügen sind gegen diese gerichtet. ובר יכ םתיאר דוד ריע יעיקב תאו םתישע הוקמו המוחה...וצתתו...וצבקתו. Darunter [401] sind die Fürsten Judas zu verstehen, welche den Krieg und die Vertheidigungsmittel unabhängig vom König und vielleicht gegen seinen Willen geleitet haben.

Auch andere Reden Jesaia's aus dieser Zeit sind gegen die Fürsten gerichtet, so (28, 14): ןוצל ישנא הזה םעה ילשמ. Bei der Rüge gegen das Bündniß mit Aegypten fehlt die Bemerkung nicht, daß die Fürsten es waren, welche nach Aegypten gegangen waren und dort als Unterhändler gewirkt haben (V. 30, 4) ויה יכ ועיני םנח ויכאלמו ןירש ןעוצב17. »Die Fürsten waren in Tanis und die Boten langten in Taphnae an.« Gegen diese Fürsten ist auch der ironische Passus gerichtet (32, 1. 5): ורשי טפשמל םירשלו. »Ueber Fürsten (wird der König) regieren, daß sie nach Recht herrschen sollen«, d.h. der König wird künftig im Stande sein, die Fürsten dahin zu bringen, daß sie nicht, wie bisher, ungerecht richten und herrschen sollen. ארקי אל לבנ בידנל דוע, »der Verworfene wird nicht mehr ein Vornehmer, ein Fürst, genannt werden.« Die mächtige judäische Aristokratie ist in dieser Rede drastisch geschildert. Der sittliche Zorn dieses und anderer Propheten ist lediglich gegen diese gerichtet – Schebna war der erste, mächtigste und unwürdigste unter den Fürsten Juda's.

Es ist absurd, anzunehmen, daß Schebna ein Ausländer gewesen sei, den Achas etwa aufgenommen, und dem er die mächtige Stellung übertragen hätte. Sollte ihn Chiskija auch noch beibehalten haben? So weit war es noch nicht gekommen, daß Ausländer das wichtigste Amt eingenommen haben sollten. Nein, Schebna war nur nicht vom Hause David's, wie Eljakim, sonst aber ein Judäer, aber er maaßte sich in seiner Macht das Höchste an, sich im Erbbegräbniß der Davididen ein Grabmal auszuhauen. Darum interpellirte ihn Jesaia (V. 16) ךל תבצח יכ הפ ךל ימו הפ ךל המ רבק הפ, »was hast du »hier« und wein hast du »hier«, daß du dir »hier« ein Grab aushaust?« Das »hier« bezieht sich auf das königliche Grabgewölbe auf dem Berge Zion. Die Stellung eines ןכס datirte schwerlich erst aus Chiskija's Zeit, sondern war schon vor ihm vorhanden. Der hohe Beamte תיבה לע »über den Palast« war wohl stets Verweser. Es läßt sich denken, daß dieses bedeutende Amt in der Regel von einem Seitenverwandten des davidischen Hauses verwaltet wurde. Ein Nebenzweig desselben war das Haus Naïhan, welches von einem Propheten neben das Haus David's gewissermaßen paritätisch gestellt wird (Zacharia 12, 12) דבל תוחפשמ תוחפשמ ץראה הדפסו דבל ןתנ תיב תחפשמ...דבל דוד תיב תחפשמ. Unter der »Familie des Hauses Nathan« ist wohl unstreitig die jenes Nathan, des Sohnes David, zu verstehen, welche der regierenden Familie am nächsten stand. Da diese Rede Zacharia's II. aus Jojakim's Zeit stammt (s.o. S. 398), so geht daraus hervor, daß die Familie Nathan sich bis zuletzt, bis zum Untergang des Staates erhalten hat.

Die jüdische Aristokratie bestand aus drei Klassen: Die eine bildeten die Prinzen (ךלמה ינב), Oheime, Vettern des jedesmaligen Königs und die Nachkommen der jüngeren Linie (vgl. o. 332, N. 1). Die zweite Klasse waren die Geschlechter, die תובאה ישאר, auch םינקז und םיניצק genannt. Die dritte bildeten die jedesmaligen Hofbeamten, die Palatini, die ךלמה ידבע. Jeremia 34, 19 sind die םלשורי ירשו הדוהי ירש genannt, und gleich darauf וירשו והיקדצ (V. 21). Unter jenen ist der Geschlechts- und unter diesen der Hof-Adel zu verstehen. Aus Jesaia 5, 8 fg. geht hervor, daß die Aristokraten auf Latifundien ausgingen, Haus an Haus und Feld an Feld rückten.

[402] Seit wann mag die Macht der judäischen Aristokratie welche den König in Abhängigkeit von ihrem Willen gebracht hatte, datiren? Ein bestimmtes Datum liegt nicht vor. Es scheint, daß ihre Omnipotenz unter Jotham bereits einen hohen Grad erreicht hat. Amazia war durch eine Verschwörung umgekommen, und diese war wahrscheinlich von den Aristokraten ausgegangen, wie die, welche Amon das Leben gekostet hat (Könige II. 21, 23). Usia brachte die letzten Jahre seiner Regierung im Aussatzhause zu, während welcher sein Sohn Jotham Reichsverweser war. Jotham war damals noch jung. Es läßt sich denken, daß die Aristokratie diese halb königslose Zeit zu ihrer Machtvergrößerung benutzt hat. Jotham war kein imposanter Charakter, welcher im Stande gewesen wäre, das Auftreten der Aristokraten zu hemmen. Die erste lange Rede Jesaia's (Kap. 2-5), welche Jotham's Zeit angehört (o. S. 112, N. 2), kämpft bereits gegen die Macht und den Uebermuth der Aristokraten an (vergl. 3, 14 fg.). Die Weiber, gegen deren übermäßigen Luxus, Gefallsucht und Pantoffelherrschaft Jesaia so schneidend losfuhr, waren Aristokratenfrauen. Erst von dieser Zeit an, unter Jotham, Achas, Chiskija und bis zu Ende spielen die הדוהי ירש eine einflußreiche Rolle. Die Rede Zephanja's, die er während Josia's Minderjährigkeit gehalten hat, klagt die Fürsten und die Prinzen an, daß sie fremdes Wesen und götzendienerische Bräuche eingeführt haben (1, 8): שובלמ םישבלה לכ לעו ךלמה ינב לעו םירשה לע יתדקפו ירכנ. Erst dadurch ist so vieles Räthselhafte in der judäischen Geschichte erklärbar. Es ist wohl Thatsache, daß Chiskija das Götzenwesen aus dem Lande gewiesen hat, und doch begann es unter seinem Sohne Manasse zu wuchern und behauptete sich bis zum 18. Jahre Josia's. Ganz gewiß hat es Manasse selbst nicht wieder eingeführt; denn er war im Beginn seiner Regierung noch ein Knabe. Demnach haben es gewiß lediglich die Aristokraten eingeführt. Darum wiederholte es sich nach Josia's Tod, und seine Purification wurde ebenso illusorisch wie die Chiskija's. Gegen die Aristokraten entbrannte daher ganz besonders der Eifer der Propheten, weil diese in der nachjesatanischen Zeit das Heft in Händen hatten Zuweilen werden sie in der Apostrophe angeführt, wie (Micha 3, 1): בקעי ישאר אנ ועמש oder unter der Benennung תיב הדוהי ךלמ (Jeremia 21, 11 fg.), womit der Hofadel, die Prinzen und die Würdenträger gemeint sind. Aber auch da, wo die Aristokraten nicht ausdrücklich genannt sind, galten die Strafreden der Propheten im Allgemeinen lediglich ihnen, weil sie die Tonangeber für die Nachäffung des Fremden, der Götzenkulte und der Modelaster waren.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1902, Band 2.1, S. 400-403.
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