Kulturelle Zustände. Die Nationalität. Die Kunst

[568] 419. Das Reich von Sumer und Akkad umfaßt ein Jahrhundert der Blüte unter kräftigen Herrschern und mehr als zwei Jahrhunderte der Zersetzung und langsamen Dahinsiechens, verbunden mit verheerenden Invasionen von außen. Das ist charakteristisch für die Entwicklung Sinears: niemals ist es hier gelungen, wie im Pharaonenreich, eine längere Epoche festgeordneten Regiments und innerer Einigung des Landes zu schaffen, und alle Staaten, die hier entstanden sind, tragen immer nur einen ephemeren Charakter. Daher ist denn auch die Kulturblüte trotz aller Bemühungen energischer Herrscher immer nur kurz gewesen; von großen und dauernden Schöpfungen hat das Land nur wenig aufzuweisen (vgl. § 453). Trotzdem ist die Zeit des Reichs von Sumer und Akkad, wenigstens unter der Dynastie von Ur, eine Glanzzeit Sinears gewesen, und lebt als solche in der Erinnerung weiter: die von ihm geschaffene Benennung des Reichs wird immer von neuem wieder hervorgesucht. Im praktischen Leben freilich war die sumerische Sprache damals im Norden jedenfalls schon ganz ausgestorben, und mag auch im Süden, im Lande Sumer, stark zurückgedrängt sein, wie das Vorwiegen semitischer Königsnamen in allen Dynastien und auch die ausschließliche Verwendung der semitischen Sprache in Susa zeigt. Aber wenigstens auf religiösem Gebiete und darum zugleich in der Jugenderziehung der höheren Stände, der »Schreiber« und Priester, hat sich die dominierende Stellung der alten sumerischen Kultursprache dauernd erhalten, ähnlich der des Lateinischen im Mittelalter, des Sanskrit in Indien, des Chinesischen in Japan. Die damals gebildeten Formen des Kultus, der religiösen Anschauungen und Mythen, auch die Formen der Bauten und der Kunst, in denen die altsumerischen Traditionen mit den von den Ak kadiern gegebenen neuen Anregungen durchtränkt und zu einer Einheit verschmolzen sind, sind für die Folgezeit bis zum Untergang der einheimischen Kultur die herrschenden geblieben.


Zur Frage der Nationalität vgl. E. HUBER, Die Personennamen aus der Zeit der Könige von Ur und Isin, Assyr. Bibl. XXI, nach dem die Namen dieser Zeit aus Tello und Nippur sumerisch, aber meist nach semitischem Schema gebildet sind [dazu vgl. THUREAU-DANGIN, Z. Ass. XXI 267, der diesen Satz mindestens einschränken will].


420. Aber für uns sind die drei Jahrhunderte des Reichs fast völlig leer. An größeren Denkmälern hat es, so weit die bisherigen Funde reichen, nur die mächtigen Tempeltürme mit ihren Höfen hinterlassen, und es ist fraglich, ob neue Ausgrabungen z.B. in Ur oder Uruk wesentlich mehr bringen werden. Der Unterschied gegen das Reich von Akkad tritt bei ihnen charakteristisch in einem an sich ganz unwesentlichen Moment hervor: während die gewaltigen Ziegel Sargons und Naramsins einen imposanten Eindruck machen, sind die Dungis und seiner Nachfolger viel kleiner und unscheinbarer, und ebenso ihre Schriftzeichen. Das beruht auf technischen Gründen: man erkannte, daß die riesigen Dimensionen der älteren Zeit unnötig und lästig waren; aber es kann doch [570] als ein Symbol dafür dienen, wie sehr das spätere Reich an frischer Kraft hinter dem älteren zurückstand. Denn hier hat sich nicht, wie in Aegypten bei den Schöpfungen der fünften Dynastie im Gegensatz zur vierten, gleichzeitig ein innerer Fortschritt vollzogen: neue Ideen hat das jüngere Reich nicht geschaffen, sondern es zehrt lediglich von dem aus dem älteren ererbten Gut. Freilich trifft es sich besonders ungünstig, daß wir nach den Denkmälern Gudeas kaum ein einziges größeres plastisches Monument besitzen, das wir dieser Zeit zuweisen könnten; aber schwerlich ist die Plastik der folgenden Zeit über die Leistungen Gudeas hinausgekommen. In der Sauberkeit der Arbeit und der Beherrschung der Technik zeigen die letzteren einen Fortschritt über Naramsin hinaus; dafür tritt aber in der Rundplastik, im Gegensatz zum Relief, die alte sumerische Plumpheit oft noch sehr peinlich hervor (§ 409). Vom Reich von Sumer und Akkad sind, abgesehen von einigen Kleinfunden aus Tello-darunter dem hübschen, mit trefflicher Naturbeobachtung gearbeiteten kleinen Hund Sumuilus (§ 417 A.), der nur dadurch häßlich entstellt ist, daß sein ganzer Rücken nach sumerischer Art mit Schriftzeichen bedeckt ist –, die Siegelcylinder die einzigen erhaltenen Kunstdenkmäler. Sie bilden die Ergänzung zu den Reliefs Gudeas; und man wird annehmen dürfen, daß sie vielfach auf plastische Vorbilder zurückgehen, die in die Wände der Tempel eingelassen waren. Sehr stark ist unter ihnen die Einführung des Besitzers des Siegels vor einen Hauptgott-vor allem Sin von Ur-durch seinen Schutzgott vertreten; daneben stehen mythologische Szenen, namentlich aus der Gilgamešsage, wie bei Sargon. Auch hier tritt die Befähigung zu größeren Kompositionen hervor, die vor allem in den mehrfach erhaltenen Darstellungen der Himmelfahrt Etanas (§ 375) bedeutende Kunstwerke geschaffen hat: die Auffahrt Etanas auf dem Rücken des Adlers ist in eine liebevoll ausgeführte Szene des täglichen Lebens hineingesetzt, die als Staffage dient: die Hirten, die ihre Herden aus den Hürden heraustreiben, und die Bäcker, die runde Kuchen backen, schauen [571] erstaunt zu dem Wunder hinauf, und ebenso zwei große Hirtenhunde. Zugleich tritt auch hier die Neigung zu symmetrischem Aufbau hervor, die für die Kunst Sinears charakteristisch ist. In der Technik der Cylinder ist das kräftige, tief herausgearbeitete Relief, das die Schöpfungen der akkadischen Zeit auszeichnet, durch eine flachere Behandlung ersetzt; aber auch hier zeigt sich eine feine und saubere Arbeit, die wir auch für die Reliefs voraussetzen dürfen.


Die einzige mir bekannte Statue, die dieser Zeit angehören wird, ist der Torso eines Herrschers in sumerischem Mantel, mit Halsband, die Hände ineinander gelegt (der Kopf fehlt), den Sutruknachundi aus Tupliaš nach Susa verschleppt hat: Délég. en Perse VI (Textes élam. sém. III) pl. 3. – Über die Cylinder s. § 405 A. Sumerier und Semiten S. 63ff. Die meisten datierten Exemplare stammen aus der Zeit der Dynastie von Ur, dazu einer von Pursin II. von Isin. Etanamythus: HEUZEY, Déc. pl. 30 bis, 13 und p. 299. HERMANN, Orient. Lit.-Z. IX 477ff. Am vortrefflichsten ist ein vom Berliner Museum erworbenes Exemplar, s. Amtl. Berichte aus den Kgl. Kunstsammlungen 1908, S. 233f.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 568-572.
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