Die Kulturzusammenhänge und die Abhängigkeit vom Süden

[838] 541. In der Entwicklung Europas sind uns die Berührungen mit der Welt des Orients und des Aegaeischen Meers überall entgegengetreten. So entsteht die Frage, wie diese Zusammenhänge geschichtlich aufzufassen sind; sie ist von uns schon mehrfach berührt worden. Für sich, isoliert betrachtet, scheint in den einzelnen Gebieten überall eine kontinuierliche Entwicklung vorzuliegen; die älteren Formen bilden sich um, die primitivere Kultur wird durch eine fortgeschrittenere ersetzt, die allmählich zu voller Ausbildung gelangt, Übergangsformen lassen sich vielfach nachweisen. So entsteht der Schein, als habe sich die Entwicklung überall selbständig vollzogen und sei die Annahme fremder Beeinflussung und Übertragung unnötig und verkehrt; dazu kommt, daß gerade den kräftigen, voll ausgebildeten Formen, in denen uns die Steinzeit z.B. in Skandinavien entgegentritt, der Erdgeruch des Spontanen, Bodenständigen anzuhaften scheint. Daraus ergab sich mit Notwendigkeit die Folgerung, daß, wenn sich hier die Kultur selbständig entwickelt hatte, die gleichartigen Formen, die sich anderswo, und namentlich in den Kulturländern des Südostens finden, aus den nördlichen Gebieten entlehnt sein müßten. So stehen sich gegenwärtig zwei entgegengesetzte Ansichten schroff gegenüber: die eine führt die Entwicklung Europas [838] auf eine ununterbrochene Einwirkung der Kulturländer des Südostens zurück und betrachtet Europa als einen um diese gelagerten Außenkreis, die andere nimmt für Europa volle Selbständigkeit in Anspruch und sucht umgekehrt einen starken Einfluß der nordischen Entwicklung auf die Kulturen des Südostens, speziell der griechisch-aegaeischen Welt nachzuweisen. Nicht selten sind diese Probleme durch Verquickung mit der Frage nach der Heimat und der schon für die Urzeit postulierten geschichtlichen Wirkung der Indogermanen weiter verwirrt worden: ja manche Dilettanten behaupten in kecker Negierung aller geschichtlichen Tatsachen, daß alle wahre Kultur indogermanischen (»arischen«) Ursprungs sei. Derartige Phantasien sind wissenschaftlich vollständig gegenstandslos und können, so breit sie sich in populären Kreisen machen, eine ernsthafte Diskussion nicht beanspruchen; anders steht es dagegen mit dem großen kulturgeschichtlichen Problem. Nun soll gar nicht geleugnet werden, daß eine Einwirkung eines kulturell auf weit niedrigerer Stufe stehenden Volkes auf ein fortgeschritteneres auch auf dem Gebiet der Technik und des Kunsthandwerks (der Dekoration) sehr wohl möglich ist-so haben z.B. die Griechen die Herstellung und Bearbeitung des Stahls von den Chalybern oder Chaldern am Pontus (§ 475) gelernt oder die Römer das spanische Schwert übernommen, und Tabak und Pfeife, die die gesamte Erde erobert haben, stammen von den Indianern, und zwar von den auf ganz primitiver Kulturstufe stehenden Indianern Nordamerikas – und auch auf diesem Gebiete stattgefunden haben kann, z.B. bei dem Spiralmotiv (§ 533). Aber wirklich erwiesen ist sie bisher wenigstens noch nirgends, und mit vollem Recht haben gerade die tiefdringendsten skandinavischen Forscher, vor allem MONTELIUS und SOPHUS MÜLLER, sich gegen sie durchaus ablehnend verhalten und überall die Abhängigkeit der europäischen Entwicklung von der des Orients und des Aegaeischen Meeres behauptet. Gerade in Skandinavien tritt die totale Abhängigkeit der Entwicklung von den fortgeschrittenen Ländern überall offensichtlich hervor, in der Steinzeit sowohl wie in der Bronzezeit [839] und in den folgenden Epochen; die relative Selbständigkeit, die es in beschränktem Gebiet zeigt, läßt sie nur um so deutlicher erkennen.


Mit diesen Bemerkungen soll natürlich nicht gesagt sein, daß ich jede der von S. MÜLLER oder MONTELIUS aufgestellten Annahmen vertreten möchte, z.B. die Abhängigkeit der megalithischen Steingräber (§ 535) vom Orient. Ein Hauptvertreter der Selbständigkeit Europas und Bekämpfer der Annahme fremder Einflüsse ist S. REINACH (Le mirage oriental, in L'Anthropologie 1893, und in zahl reichen anderen Aufsätzen), und früher A. MILCHHÖFER, Anfänge der Kunst in Griechenland, 1883, ferner M. MUCH, HUBERT SCHMIDT u.a.


542. Aber diese Abhängigkeit gilt für ganz Europa. Äußerlich, aber darum nur um so überzeugender, weil auf von der inneren Entwicklung völlig unabhängigen Momenten beruhend, wird sie durch die Chronologie erwiesen. Im fünften und der ersten Hälfte des vierten Jahrtausends, als in Aegypten die steinzeitliche Kultur bereits zu voller Ausbildung gelangte, in der Dekoration der Tongefäße die verschiedensten Formen zunächst der geometrischen Ornamentik (daneben auch die Spirale), dann der Bemalung mit Pflanzen, Tieren und Szenen des menschlichen Lebens sich in rascher Folge ablösten, stand Europa noch in dem Stadium der Kjökkenmöddinger und den Anfängen der neolithischen Zeit. Die Verwendung des Kupfers beginnt in Aegypten spätestens um die Mitte des vierten Jahrtausends. Dann erwächst in Sinear und um dieselbe Zeit, zu Anfang des dritten Jahrtausends, wenn auch noch auf primitiverer Stufe, in Troja und Kreta aus der steinzeitlichen Kultur eine höhere und reichere Gestaltung, die ständig weiter fortschreitet; seit der Mitte des dritten Jahrtausends gelangt die Metallkultur in der Aegaeischen Welt zur vollen Entwicklung, zu Ende des Jahrtausends beginnt in Kreta die Kamareskultur. Erst um diese Zeit dringen in Europa langsam und schrittweise Kupfer und Bronze ein, und die für das Metall geschaffenen Formen gelangen in die Steintechnik Norddeutschlands und Skandinaviens. Und so ist es immer geblieben: die Entwicklung Europas folgt in beträchtlichem zeitlichen Abstand der der[840] orientalisch-aegaeischen Welt. Zuerst gelangten in der mykenischen Epoche Sicilien und Italien zu reicherer Lebensgestaltung, die nie wieder ganz erlischt, aber ihre völlige Abhängigkeit von der selbständigen Entwicklung Griechenlands niemals verliert, sondern alles mitmacht, was hier geschaffen wird; und von Italien aus strahlen diese Einflüsse weiter nach Norden und Westen aus, soweit nicht die Griechen hier bereits unmittelbar einwirken.

543. Diesem chronologischen Gang der Entwicklung entspricht ihr innerer Charakter, die absolute Unselbständigkeit und die Inferiorität der europäischen Kulturen. Eigenes hat, wenn auch nur in recht beschränktem Maße, Europa in der gesamten Entwicklung der vorchristlichen Zeit nur zweimal geschaffen-denn die nordische Steinzeit ist, wie wir gesehen haben, trotz ihrer Eigenart in ihrem Innern total abhängig von den südlichen Einflüssen –: einmal in den großen Steingräbern, sodann in der eigenartigen Kulturentwicklung der Gebiete östlich von den Karpathen, die dann weiter ins Donaugebiet ausstrahlt (§§ 533. 537). Hier ist uns am Ende der steinzeitlichen Epoche eine eigenartige Gefäßmalerei entgegengetreten, die ebenso wie die zugehörigen Tonfiguren von Menschen und Tieren sich eng mit der gleichzeitigen Entwicklung der beginnenden Bronzekultur des Aegaeischen Meeres berührt und vielleicht auf diese Einfluß geübt hat (so in dem Spiralmotiv), wenn auch umgekehrt eine Einwirkung von Süden nach Norden auch hier vielleicht doch noch erwiesen werden wird. Jedenfalls aber hat diese Kultur des Dniestr- und Dnieprgebiets ein neues, eigenartiges Moment in die weitere Entwicklung eingeführt, die Verbrennung der Toten. Aber auch diese Ansätze zu selbständiger Gestaltung führen nicht weiter: weder ist aus den megalithischen Gräbern eine wirkliche Steinarchitektur hervorgegangen, noch hat die ostkarpathische Kultur eine Fortsetzung gefunden; vielmehr bricht sie hier mit dem Ende der Steinzeit jäh ab, für die folgende Epoche sind diese Gebiete gänzlich verödet. Im Aegaeischen Meer dagegen führen die Momente, in denen seine Entwicklung sich [841] mit der des Nordens berührt, sofort weiter: hier entsteht eine große Architektur, eine reiche künstlerische Gefäßdekoration, eine nach allen Richtungen hin durchgebildete, wahrhaft geschichtliche Kultur; und dieselbe Entwicklung hat sich schon mehr als ein Jahrtausend vorher in Aegypten und etwas später in Sinear und dann auch im übrigen Vorderasien vollzogen. Vollends deutlich tritt die Inferiorität Europas zu Tage, wenn wir die Keramik und namentlich die eigentliche bildende Kunst betrachten, so weit von einer solchen in Europa die Rede sein kann. Die wenigen Versuche, aus Knochen, Stein und Ton (und in der Steinzeit Skandinaviens aus Bernstein) menschliche und tierische Figuren zu bilden-in größerer Fülle kommen auch sie nur in den ostkarpathischen Gebieten und weiter im Donaugebiet (Butmir u.ä.) vor –, sind über die rohesten Ansätze niemals hinausgekommen, und ebensowenig die gelegentlich (namentlich in Skandinavien) vorkommenden Felszeichnungen. Irgend etwas, was sich auch nur von ferne den Kunstschöpfungen der um viele Jahrtausende vorausliegenden Blütezeit der paläolithischen Epoche, der Magdalénien (§ 530), an die Seite stellen läßt, hat Europa, soweit es nicht unter griechischem Einfluß steht, bis auf den Beginn des Mittelalters nicht zu schaffen vermocht, so weit es auch in der materiellen Gestaltung des Lebens über die paläolithische Zeit hinaus vorgeschritten war. Eben darauf beruht es, daß in Europa die moderne, mit dem Mittelalter beginnende Entwicklung unmittelbar an die »prähistorische« Zeit ansetzt und eine der Kulturentwicklung des Orients und der klassischen Völker entsprechende Periode vollständig fehlt. Wer daher einseitig von der Betrachtung der Entwicklung Europas (mit Ausschluß der klassischen Völker) ausgeht, gelangt nur zu leicht zu einem ganz falschen Bilde der Entwicklung und beachtet die historisch entscheidenden Momente überhaupt nicht. Die maßgebenden prähistorischen Forscher haben sich allerdings von diesem Fehler vollkommen freigehalten; aber andere, namentlich Kulturhistoriker und Nationalökonomen, sind ihm nur zu häufig verfallen.

[842] 544. Auf diesem Mangel an selbständiger schöpferischer Kraft beruht es, daß die Völker Europas vor der Römerzeit keine Geschichte haben; die Kehrseite davon ist, daß sie in ihrer Entwicklung gänzlich von den fortgeschrittenen Völkern des Südens und Ostens abhängig sind. Bis auf die Völkerwanderung und die Einführung des Christentums, und im Grunde noch weit darüber hinaus, zehrt das westliche, zentrale und nördliche Europa durchaus von fremdem Gut; was es selbständig hinzubringt, ist die frische Kraft noch unkultivierter aber gesunder Völker, die dann auf dem Boden und aus den übernommenen Elementen der alten Kultur, nachdem sie das fremde Gut in sich aufgenommen haben und nachdem sie hineingezwängt sind in die Aufgaben des geschichtlichen Lebens, auch ihrer Eigenart einen adäquaten Ausdruck zu gewinnen und schöpferisch zu wirken vermögen. Das gilt auch von den Indogermanen der Urzeit, falls diese europäischen Ursprungs sein sollten. Sie besitzen zweifellos eine hohe Begabung und selbständige Eigenart; aber zu einer unabhängigen Entwicklung ist diese nur bei den Ariern in Asien gelangt. In Europa dagegen haben die indogermanischen Völker nur da kulturell und geschichtlich schöpferisch gewirkt, wo sie in den Kreis der bereits bestehenden Kultur eintraten, d.h. in Griechenland und dann in Italien; im übrigen Europa bleiben sie noch weit über ein Jahrtausend lang passiv und auf niedriger Kulturstufe, bis sie durch Rom wenigstens teilweise in die Weltkultur hineingezogen werden. Schon in der Ausgestaltung der Steinzeit haben wir diese Abhängigkeit Europas kennen gelernt; in den folgenden Epochen, in der Bronzezeit und in den eisenzeitlichen Perioden der Hallstatt- und Latènekulturen und weiter in der römischen und in der Völkerwanderungszeit tritt sie überall noch greifbarer hervor; wie wäre es da denkbar, daß das Verhältnis vorher, am Ende der Steinzeit und zu Beginn der Metallzeit, ein anderes gewesen, daß, abgesehen etwa von gelegentlichen technischen Entlehnungen, die Völker Europas die Gebenden und nicht die Empfangenden gewesen seien? Vielmehr stimmen die Ergebnisse der chronologischen [843] Betrachtung vollständig zu den Tatsachen der inneren Entwicklung. Aegypten hat überall die Führung; hier hat sich zuerst, und zwar völlig selbständig, eine höhere Kultur gebildet und stetig weiter entwickelt. Dann folgt Sinear, vielleicht gleichfalls unabhängig, aber mit einer weniger durchgebildeten Kultur. Bei allen anderen Völkern-wenn wir von Ostasien und von den Ariern Irans und Indiens absehen-ist gleichzeitig wohl eine gewisse Zivilisation erreicht, so bei den Semiten, in Kleinasien (Troja), auf Kreta und auch in Europa und bei den Indogermanen; aber zu höherer Kultur und geschichtlichem Leben gelangen sie nur, soweit sie den befruchtenden Einfluß der beiden ältesten Kulturländer erfahren und von hier aus in den Kreis der fortschreitenden historischen Entwicklung hineingezogen werden. Dadurch ist in Vorderasien und in höherem Maße in der Welt des Aegaeischen Meers eine eigene Kultur erwachsen, in der die fremden Einflüsse überall erkennbar sind; und diese Kultur strahlt dann wieder aus auf den europäischen Kontinent. Das griechische Festland wird ganz in sie hineingezogen und gewinnt bald die Führung; aber selbst das demnächst am stärksten betroffene Gebiet, Italien mit Sicilien, ist noch Jahrhunderte lang völlig passiv geblieben, und das übrige Europa ist vollends noch über ein Jahrtausend hindurch trotz aller Rezeption fremden Guts zu einem wahrhaft entwickelten Kulturleben und einer Geschichte nicht gelangt, sondern diese ist ihm von außen gewaltsam aufgezwängt worden. Von Griechenland und Italien abgesehen, liegt die geschichtliche Initiative trotz der Völkerwanderungen, die zu gelegentlichen Eingriffen in die Kulturländer führen, bis weit in die christlichen Zeiten hinein nicht in Europa.

545. Bei dieser Sachlage wird noch klarer als bisher, daß wir aus den Funden und der Kulturentwicklung der prähistorischen Zeit Europas ethnographische Aufschlüsse nicht gewinnen können. Kultureinwirkungen und Kulturkreise können wir greifen, aber die Völker nicht-soweit nicht geschichtliche Nachrichten der fremden Kulturvölker uns darüber unterrichten. Theoretisch ist es sehr wohl möglich, daß, wie die [844] nordischen Forscher annehmen, Skandinavien von der Steinzeit bis auf die Gegenwart von demselben (indogermanischen oder germanischen) Volk bewohnt gewesen ist; aber die in der Kulturentwicklung vorliegenden Zusammenhänge, die als Beweis dafür angeführt werden, können in Wirklichkeit gar nichts beweisen. Es ist eben so möglich, daß eine tiefgreifende Verschiebung der Bevölkerung inmitten einer durchaus homogen erscheinenden Kulturepoche oder auch zur Zeit eines Kulturwechsels stattgefunden hat. Und ebenso liegt es überall. Als ein wirklich selbständiges Volksgebiet tritt uns nur das Land östlich der Karpathen mit seiner Leichenverbrennung und seiner bemalten Keramik entgegen. Aber wenn diese und die in ihr verwerteten Motive weithin in die Donauländer und darüber hinaus ausstrahlen, so läßt sich in keiner Weise behaupten, daß wir es hier überall mit derselben Bevölkerung zu tun haben; und auch bei den Funden des Dniestr- und Dnieprgebiets ist es sehr fraglich, ob ihre Eigenart ausreicht, um das Volkstum ihrer Träger wirklich zu fassen, falls nicht andersartige Zeugnisse weitere Aufschlüsse hinzubringen sollten (vgl. § 570).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 838-846.
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