Befreiung Thebens.

Bruch zwischen Athen und Sparta

[364] Die thebanischen Flüchtlinge hatten in Athen Schutz gefunden. Bei einem Versuche, die Heimat von der doppelten Zwingherrschaft der Oligarchen und der Spartaner zu befreien, konnten sie der Sympathie des attischen Demos sicher sein; wenn er auch nicht wagen durfte, offen zu den Waffen zu greifen, war doch kein Zweifel, daß er ihnen dieselbe Unterstützung gewähren würde, welche er selbst bei dem Sturz der Dreißig in Theben gefunden hatte. Auch in Theben war an eine offene Erhebung nicht zu denken; die spartanische Garnison von etwa 1500 Mann unter drei höheren Offizieren hielt die entwaffnete Bürgerschaft in Unterwürfigkeit, und Leontiadas und sein Anhang schalteten in der Stadt unumschränkt, besetzten die militärischen und zivilen Ämter mit zuverlässigen Genossen und gingen gegen die Verdächtigen mit Hinrichtungen und Verbannungen vor. Nur durch Überfall und Mord konnte man hoffen, zum Ziele zu gelangen. Die Exulanten fanden unter ihren Gesinnungsgenossen in Theben eine Anzahl entschlossener Männer, die bereit waren, die Hand dazu zu bieten und alles vorzubereiten: in Athen waren die maßgebenden Kreise, vor allem Kephalos, insgeheim mit dem Unternehmen einverstanden. Im Dezember 379 glaubte man den geeigneten Moment gekommen. Zwei athenische Strategen führten unter irgendeinem Vorwand die mobilen Truppen an die Grenze. Die Exulanten sammelten sich in der thriasischen Ebene (ö. von Eleusis); sieben von ihnen, junge Männer aus vornehmen Häusern, geführt von Melon, schlichen sich als Jäger verkleidet in Theben ein und fanden im Hause des Charon Aufnahme. Hier sammelten sich die Genossen aus Theben. Das unwirtliche Winterwetter begünstigte das Unternehmen; [364] eine unbestimmte Kunde, die zu den Machthabern drang, wurde nicht genügend beachtet, eine Warnung aus Athen – wo das Vorhaben nicht verborgen bleiben konnte – kam zu spät. Phyllidas, der Sekretär der Polemarchen Archias und Philippos, war im Komplott und lud seine beiden Vorgesetzten – es war der Festtag der Aphrodite – zu einem wüsten Gelage. Die Diener wurden entfernt, die Verschworenen als Hetären verkleidet eingeführt. Sie stießen die Polemarchen nieder, ebenso den Archon Kabirichos; Leontiadas und Hypates (vielleicht der dritte Polemarch) wurden in ihren Häusern überfallen. Dann wurde das Gefängnis erbrochen und die Bürger zur Freiheit aufgerufen; die Heiligtümer und die Werkstätten der Waffenschmiede boten Rüstungen in genügender Zahl. Die Besatzung der Kadmea rührte sich nicht; die entscheidenden Vorgänge hatten sich so rasch und geheim abgespielt, daß sie erst spät Kunde erhielt, und dann wagten die überraschten Kommandanten keinen Ausfall mehr612. Am nächsten Morgen trat das Volk zusammen. Die Oligarchie wurde aufgehoben, die Demokratie wiederhergestellt und mit ihr [365] das Amt der Böotarchen613, das den Anspruch auf die Herrschaft über Böotien involvierte. Unter den Gewählten waren die Führer der Befreier, Melon und Charon, ferner Gorgidas und Pelopidas, der Sohn des Hippokles aus einem der vornehmsten und reichsten Häuser, der sich besonders ausgezeichnet und Leontiadas nach hartem Ringen niedergeworfen hatte. Gleich darauf trafen die übrigen Flüchtlinge ein und wenig später die athenischen Truppen; die beiden Strategen hatten kein Bedenken getragen, den Thebanern Hilfe zu bringen und damit dem Volk die Entscheidung über den Kopf wegzunehmen614. Die Besatzung der Kadmea suchte aus Platää und Thespiä Verstärkungen heranzuziehen; doch die Zuzüge wurden abgefangen und die Belagerung begonnen. Die Lebensmittel waren knapp und die Truppen aus den Bundesstädten unzuverlässig; die Kommandanten aber hatten durch ihren Mangel an Energie alle Autorität eingebüßt. So kapitulierten sie auf freien Abzug, wenige Tage, ehe das spartanische Entsatzheer eintreffen konnte. Die spartanisch gesinnten Thebaner freilich, welche sich auf die Burg geflüchtet hatten, wurden mit ihren Kindern [366] niedergemacht, soweit sie nicht von den Athenern gerettet wurden.

In Sparta hat man auf die Kunde von den Vorgängen in Theben sofort ein Heer aufgeboten. Den Oberbefehl erhielt König Kleombrotos, Agesipolis' Bruder und Nachfolger; Agesilaos hielt sich zurück, um nicht der Opposition, die ihm sein Eintreten für jede Zwingherrschaft zum Vorwurf machte, neue Nahrung zu geben. Bis indessen im Winter das Heer, das auch diesmal meist aus Bundesgenossen und Söldnern bestand, mobil gemacht war, verging längere Zeit; als Kleombrotos in Megara angelangt war, hatte die Kadmea kapituliert. Von den Kommandanten wurden zwei hingerichtet, der dritte, Lysandridas, der sich zur Zeit des Aufstandes in Haliartos befunden hatte, in eine schwere Geldstrafe verurteilt615. Viel konnte Kleombrotos jetzt nicht mehr ausrichten. Die Athener unter Chabrias besetzten die Landesgrenzen und sperrten ihm die Heerstraße; er mußte auf Gebirgspfaden über Platäa vorrücken. Den Paß gelang es zu forcieren, aber für eine Feldschlacht gegen den thebanischen Heerbann war er zu schwach. Nachdem er 16 Tage im Lande gestanden hatte, ließ er Sphodrias mit dem dritten Teile seines Heeres in Thespiä, westlich von Theben, zurück und trat den Heimweg an. – Trotzdem ist das energische Vorgehen Spartas nicht ohne Folgen geblieben. Die Hoffnung, die man in Theben und Athen hegen mochte, daß die Empörung um sich greifen und auch Korinth sich aufs neue erheben werde wie im J. 395, erfüllte sich nicht. In beiden Staaten beschloß man einzulenken: Theben erklärte sich bereit, Spartas Suprematie anzuerkennen und auf alle weiteren Ansprüche zu verzichten616, und Athen, das sich schon von einer neuen Invasion bedroht sah, zog die beiden Feldherrn, die eigenmächtig den [367] Thebanern Hilfe gebracht hatten, zur Verantwortung und verurteilte sie zum Tode617; der eine wurde hingerichtet, der andere war rechtzeitig entflohen. Die thebanisch gesinnten Staatsmänner hatten ihren Willen nicht durchsetzen können.

Aber Sparta konnte sich zum Nachgeben nicht entschließen. Hatte es doch seither alle Schwierigkeiten überwunden und soeben erst Phlius und Olynth niedergeworfen, trotz ihres hartnäckigen Widerstandes; wie sollte es sich vor dem isolierten und unter die Zwingherrschaft einer Rotte von Revolutionären geratenen Theben fürchten und damit zugeben, daß es zu schwach sei, seinen Willen durchzusetzen? Thebens Angebot wurde abgewiesen und das Kommando für den nächsten Feldzug Agesilaos übertragen. Um sicher zu gehen, war es allerdings nötig, Athen vollends für den Anschluß an Sparta zu gewinnen; daher ging eine spartanische Gesandtschaft nach Athen, um die Verhandlungen zu führen. Sicherer Verlaß war indessen auf den Demos niemals, mochte er auch momentan eingeschüchtert sein; weitaus das Erwünschteste war es, wenn Sparta die Stellung wieder gewinnen konnte, die es im Jahre 403 leichtsinnig aufgegeben hatte. Es kann ernstlich kein Zweifel sein, daß, wie früher Phöbidas, so jetzt Sphodrias, wenn nicht im Auftrag, so doch in geheimem Einvernehmen mit den leitenden Männern in Sparta gehandelt hat, als er einen Handstreich auf den Piräeus versuchte. Wenn daneben nicht nur von spartanischer, sondern wie es scheint auch von thebanischer Seite behauptet wird, daß er dazu durch Einflüsterungen und Geld der thebanischen Patriotenpartei verlockt sei, die in einem Bruch zwischen Sparta und Athen die einzige Möglichkeit der Rettung sah, so kann auch das etwas Wahres enthalten: die erste Anregung mag von hier aus gekommen sein. Nur bleibt es doch fraglich, ob Pelopidas und seine Genossen mit Sicherheit voraussehen konnten, daß der Anschlag scheitern müsse; wenn er aber gelang, waren sie rettungslos verloren. Tatsache ist, daß Sphodrias noch vor Beginn des Frühlings 378 spät abends von Thespiä aufbrach, in der [368] Hoffnung, noch vor Tagesanbruch den Piräeus überfallen zu können, in dessen Mauern die Tore nicht eingesetzt waren. Aber er hatte die Entfernung unterschätzt; als der Morgen graute, war er nicht über Thria (östlich von Eleusis) hinausgekommen. Jetzt ließ sich sein Unternehmen weder ausführen noch verheimlichen; er kehrte um und plünderte unterwegs die umliegenden Ortschaften. In Athen hatte man sofort die gesamte Bevölkerung zu den Waffen gerufen und die spartanischen Gesandten festgenommen. Diese konnten nachweisen, daß sie an dem schnöden Friedensbruch völlig unschuldig seien, und verhießen glänzende Genugtuung. So entschlossen sich die Athener zu warten; die Gefahren eines neuen Krieges in der jetzigen Lage standen ihnen klar vor Augen. In Sparta erhoben denn auch die Ephoren Anklage gegen Sphodrias vor dem Rat der Geronten, und dieser wagte nicht, sich zu stellen; trotzdem wurde er freigesprochen. Persönliche Momente haben mitgewirkt: Sphodrias gehörte zu dem Anhang des Kleombrotos; Agesilaos, der ihm feindlich gesinnt war, wurde durch seinen Sohn gewonnen; aber ausschlaggebend kann, wenigstens für Agesilaos' Haltung, nur die Erwägung gewesen sein, daß man sich Athen gegenüber doch schon hoffnungslos kompromittiert habe und um seinetwillen einen bewährten und energischen Mann nicht nutzlos opfern dürfe. Damit hatte freilich der spartanische Staat Sphodrias' Friedensbruch offiziell sanktioniert618.

Auf die Kunde von Sphodrias' Freisprechung war in Athen kein Halten mehr; jetzt lag klar vor Augen, wessen man sich von [369] Sparta zu versehen hatte, wenn es Theben bezwang. Die böotische Partei, geführt von Kephalos und Thrasybul von Kollytos, gewann die volle Herrschaft. Stadt und Land wurden in Verteidigungszustand gesetzt und auf Kephalos' Antrag die Allianz mit Theben abgeschlossen619. 5000 Mann unter Chabrias, meist geworbene Peltasten, dazu 200 Reiter, stießen zum thebanischen Heer. Man wußte, daß man den Feinden in der Feldschlacht nicht gewachsen sei; die thebanischen Bürgertruppen waren noch nicht geschult. Aber Chabrias, durch seine Kriegserfahrung zum Leiter der Operationen berufen, hatte bereits in Ägypten den Verteidigungskrieg organisiert (o. S. 305); er deckte das thebanische Gebiet durch ein ausgedehntes System von Palisaden und Gräben. Als Agesilaos im Sommer 378 mit einem Heer von insgesamt 18000 Mann und 1500 Reitern, darunter 5 spartanische Moren und Kontingente von allen Bundesgenossen, von Megara aus über Thespiä vorrückte, konnte er eine Feldschlacht nicht erzwingen. Nach mehreren kleinen Scharmützeln gelang es ihm allerdings, in die Verschanzungen einzudringen; aber Chabrias' Peltasten erwarteten seinen Angriff in fester Stellung, mit vorgestreckter Lanze kniend, so daß der Schild den ganzen Körper deckte. Da wagte Agesilaos den Sturm nicht; er mußte sich begnügen, das Land nach Kräften zu verwüsten. Dann kehrte er heim; eine größere Armee ohne fremde Subsidien, wie sie vor Olynth Makedonien und in Kleinasien die Beute gewährt hatte, länger als ein paar Sommermonate im Felde zu halten, gestattete die wirtschaftliche und politische Organisation der Peloponnesier jetzt so wenig wie früher. In Thespiä ließ er Phöbidas zurück. Bei einem Angriff der Thebaner wagte dieser sich in der Verfolgung zu weit vor; er selbst fiel, seine Truppen wurden vollständig geschlagen. Thespiä selbst konnte nur mit Mühe bis zur Ankunft einer stärkeren spartanischen Besatzung gehalten werden; denn hier wie in allen böotischen Landstädten stand die Menge mit ihren Sympathien auf seiten der Thebaner620.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 364-370.
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