Der zweite athenische Seebund

[370] Aber Athen verfolgte ein höheres Ziel als Theben zu retten und sich der von Sparta drohenden Gefahr zu erwehren. Jetzt war der Moment gekommen, das Programm auszuführen, welches Isokrates zwei Jahre zuvor der Welt verkündet hatte621. Während des Winters 378/7 legte Athen in Konferenzen mit seinen alten Bundesgenossen (o. S. 302ff.) Chios, Mytilene, Methymna, Rhodos, Byzanz und mit Theben die grundlegenden Satzungen eines neuen Bundesfest622. Die Wiederaufnahme der nationalen Ziele der [371] Perserkriege mußte freilich auf die Zukunft vertagt werden: der König von Asien war zur Zeit für Athen wie für jeden anderen griechischen Staat unantastbar, und gerade jetzt hielt Athen es für ratsam, ihn sich durch Überlassung des Iphikrates für den ägyptischen Feldzug (o. S. 313) zu verpflichten. Auch sonst verzichtete Athen auf alle Aspirationen der Großmachtpolitik; der neue Bund sollte nicht eine Wiederherstellung des Reichs der Zeit des Kleon und Alkibiades sein, wie sie Thrasybul im J. 389 versucht hatte, sondern eine Rückkehr zu den ursprünglichen Ordnungen des Delischen Bundes aus der Zeit des Aristides, von denen Athen zu seinem Verderben abgewichen war. Der Königsfriede mußte die Grundlage der Neuordnung Griechenlands bleiben, im Inneren wie nach außen. Aber seine Bestimmungen wurden gerade von der Macht, welche sich für seinen Garanten ausgab, Jahr für Jahr mit Füßen getreten. So erging denn im März 377 der Aufruf an alle Hellenen und Barbaren, soweit sie nicht durch den Frieden dem König überlassen waren, sich mit Athen und seinen Bundesgenossen zu verbinden, »damit die Spartaner die Griechen frei und autonom in Ruhe leben lassen, in sicherem Besitz ihres Gebiets«. Die Verbündeten schlössen sich, im Anschluß an den Vertrag mit Chios (o. S. 303), zu einem Staatenbunde zusammen und hielten jedem, der wollte, den Beitritt offen. Athen erhielt die politische Führung und das militärische Kommando; aber alle Mißstände des alten Reichs, über die die Bündner sich mit Recht beschwert hatten, wurden verfemt und der Bund durch starke Garantien gegen ihre Wiederkehr geschützt623. Eine ständige Versammlung von Delegierten der Bundesstaaten (σύνεδροι) tagt in Athen, legt ihre Beschlüsse dem athenischen Volk vor und [372] nimmt von diesem durch Vermittlung des Vorsitzenden des Rats Anträge entgegen. Athen selbst hat in diesem Bundesrat weder Sitz noch Stimme, sondern faßt seine Beschlüsse selbständig und kann die Anträge der Bündner annehmen oder verwerfen. So soll jede Vergewaltigung vermieden werden; die Bundesgenossen insgesamt stehen den Athenern als Einheit gegenüber, wie im Delischen Bunde (Bd. IV 1, 465.), aber beide Teile sind darauf angewiesen, sich zu einigen, wie in einem modernen Staat Krone und Parlament. Nur gemeinsam können sie Krieg und Frieden beschließen. Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt durch übereinstimmende Beschlüsse; den Eid nehmen und leisten sowohl die Beamten Athens wie die Delegierten. Alle Übergriffe Athens sind verpönt, die Intervention in Verfassungsfragen, die Entsendung von Garnisonen und Aufsichtsbeamten; seine Verfassung kann jeder Staat ein richten, wie er Lust hat. Ebenso fällt der Gerichtszwang fort; für Prozesse zwischen Athenern und Bündnern wird bei höheren Beträgen die Überweisung an das Gericht einer vereinbarten Stadt (ἔκκλητος πόλις) vorgeschrieben624. Feierlich verzichtet Athen auf alle Ansprüche auf Landbesitz in den verbündeten Gemeinden, welche dem Staat und seinen Bürgern aus den Zeiten des Reichs zustanden und deren Wiedergewinnung ein wesentlicher Antrieb zu der Eroberungspolitik des letzten Krieges gewesen war (o. S. 249); die darauf bezüglichen Urkunden sollen vernichtet werden. Ja man ging noch darüber hinaus: »Vom J. 378/7 an soll es keinem Athener, weder einem Privatmann noch dem Staat, gestattet sein, im Gebiet der Bündner ein Haus oder [373] ein Grundstück zu erwerben, sei es durch Kauf oder durch Hypothek oder wie sonst625.» Wer sich dagegen vergeht, soll vor das Gericht der Bundesversammlung gestellt werden; und wenn irgendjemand einen Antrag gegen die Grundsatzungen des neuen Bundes einbringt, verpflichtet sich Athen, ihn als Hochverräter von einem Gericht von Athenern und Bundesgenossen aburteilen zu lassen. Nur die Verpflichtung haben alle Verbündeten übernommen, jeden Angriff auf einen von ihnen gemeinsam abzuwehren: der Bund trägt zunächst die Form einer Defensivallianz, wie ehemals gegen die Perser, so jetzt gegen Sparta. Aber tatsächlich geht er unter den gegenwärtigen Verhältnissen sofort in ein Schutz- und Trutzbündnis über: in einer aus dem J. 375 erhaltenen Eidesformel schwören die Athener – und vermutlich war diese Formel von Anfang an festgesetzt –: »betreffs Kriegs und Friedens werde ich tun, was die Majorität der Bundesgenossen beschließt, und auch alles andere tun nach den Beschlüssen der Bundesgenossen«, während die neu zutretende Gemeinde schwört, in allem »den Beschlüssen der Athener und der Bundesgenossen« zu folgen626. Daß beide stets harmonisch Hand in Hand gehen, ist dabei selbstverständliche Voraussetzung. – Zum Kriegführen brauchte man Truppen (jetzt vorwiegend Söldner), Schiffe und vor allem anderen Geld, die man dem Vorort zur Verfügung stellen mußte. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Höhe der Kontingente und der Beiträge – für die man, um den alten, gehässige Erinnerungen weckenden Namen »Abgaben« (φόροι) zu vermeiden, die wohlklingende Bezeichnung »Beisteuern« (συντάξεις) wählte – zunächst vom Bundesrat festgesetzt wurde, wenn auch im Zusammenwirken mit Athen und seinen Exekutivbeamten, den Strategen, und vermutlich hatten diese ihm auch Rechnung zu legen; aber unvermeidlich war es, daß tatsächlich wenigstens in Kriegszeiten – und eine Friedensepoche hat der neue Bund niemals erlebt – die Bestimmung mehr und mehr in die Hände Athens fiel, zumal man ihm die Beitreibung notgedrungen überlassen mußte. Denn der [374] Bund hatte keine Exekutivorgane und konnte keine haben, sondern war dafür ausschließlich auf Athen und seine Beamten angewiesen.

Auch der neue Bund verleugnet den Charakter seiner Zeit nicht. Sein Antlitz ist rückwärts gewandt, nicht vorwärts; er verdammt die Bestrebungen zur Schöpfung einer starken und einheitlichen staatlichen Macht, wie sie gleichzeitig in Olynth und Theben zu dem Versuche der Gründung eines Einheitsstaats führten, und sieht sein Ideal in den Bildungen einer längst vergangenen Zeit, die von der Geschichte nur zu rasch als unhaltbar erwiesen waren. Darin liegt seine innere Schwäche: indem er, wie jede Restauration, ein theoretisches Ideal verwirklichen will, gerät er in Widerspruch mit den im realen Leben dominierenden Gewalten und sieht sich alsbald gezwungen, ihnen nachzugeben und in der Praxis seine Prinzipien zu verleugnen. Ein Bund, wo Recht und Macht so ungleich verteilt sind, kann auf die Dauer nicht bestehen. So ist auch Athen nur zu bald in die alten Bahnen gedrängt worden, trotz alles Idealismus; und der dadurch hervorgerufene Rückschlag war alsdann um so stärker, da es nicht mehr wie ehemals die Macht besaß, die Bündner auf die Dauer unter seinen Willen zu zwingen. – Aber idealistisch gedacht war das Unternehmen allerdings. Wenn es hohe Anerkennung verdient, daß die Bundesgenossen, und zwar zunächst meist von den gegenwärtigen Händeln weit abgelegene Städte und Inseln, trotz aller Erfahrungen der Vergangenheit sich noch einmal Athens Vormacht gefügt haben, so gereicht es Athen nicht minder zur Ehre, daß die ärmere Bevölkerung sich bereit erklärte, definitiv auf die Hoffnung zu verzichten, wie ihre Väter auf Kosten der Bündner leben zu können, und daß die Reichen sich noch einmal neue schwere Lasten auferlegten. Schon in den Friedensjahren muß der Bestand der athenischen Flotte beträchtlich vermehrt worden sein; jetzt beschloß Athen, 10000 Soldaten (natürlich vorwiegend Söldner) ins Feld zu stellen und 100 Trieren zu bemannen, und traf Anstalten zu einer raschen und ständigen Vermehrung der Flotte, die in den nächsten Jahren trotz des Kriegs durchgeführt wurde627. Um für die finanziellen Leistungen der[375] Bürgerschaft eine feste Grundlage zu gewinnen, wurde der gesamte Besitz der Bürgerschaft (und der Metöken), Immobilien und Mobilien, eingeschätzt; die Schatzung ergab einen Gesamtbetrag von 5750 Talenten (31280000 Mark). Auf Grund derselben wurde die Bürgerschaft in Steuerbezirke (Symmorien)628 geteilt, welche die Vermögenssteuer aufzubringen hatten; die Verteilung geschah jetzt auf Grund der Schatzung629, nicht mehr nach den seit dem Dekeleischen Kriege für finanzielle Zwecke völlig unbrauchbar gewordenen (Bd. IV 2, 313.), aber vom Staatsrecht immer noch beibehaltenen solonischen Steuerklassen630.

Unter den Staatsmännern, welche die neue Richtung der attischen Politik geleitet haben, beginnt neben den alten Häuptern der thebanisch gesinnten Partei, Kephalos und Thrasybulos, jetzt der Schwestersohn des Agyrrhios, Kallistratos von Aphidnä631, eine leitende Stellung zu gewinnen. Die militärische Führung fiel dem Chabrias zu, der sich im letzten Feldzug so vortrefflich bewährt und als dem in Ägypten abwesenden Iphikrates mindestens ebenbürtig erwiesen hatte. Iphikrates632 hatte sich aus niederen Verhältnissen emporgearbeitet und im Korinthischen Kriege seinen militärischen Ruhm begründet; zeitlebens, auch seitdem er zu [376] großem Wohlstand gelangt war und Schlösser im Thrakien besaß (o. S. 304), bewahrte er die Haltung des echten Berufssoldaten, streng gegen sich und gegen andere. Chabrias dagegen, einer reichen Familie entstammend, war eine leichtlebige Natur, den Genüssen des Lebens nicht abhold und auch den geistigen Interessen zugetan633 – das beweist seine Freundschaft mit Plato. Gern ließ er sich gehen; seinen Reichtum verwendete er wie die Staatsmänner des fünften Jahrhunderts zu glänzenden Festen und Spenden an das Volk; auch Rennpferde hat er gehalten und im J. 374 einen Sieg bei den Pythien seinen Siegen im Felde angereiht. In der Schlacht zeigte er den klaren Blick des Feldherrn, der die Verhältnisse richtig beurteilt, und daneben einen frohen Kampfesmut, der es dem tapfersten seiner Soldaten zuvortat. Neben ihm tritt jetzt Timotheos634 hervor, der Schüler des Isokrates (o. S. 363), der Erbe des großen, auf Cypern erworbenen Vermögens Konons. Er erstrebte ein höheres Ziel als seine Rivalen; wie Perikles, Alkibiades, Thrasybul, wie sein eigener Vater wollte er nicht nur der Feldherr, sondern auch der leitende Staatsmann der neuen Großmacht sein. Im Kriege und in der äußeren Politik, namentlich in der Behandlung der Bündner und in der Kunst, ohne Gewaltsamkeit Geld zu beschaffen, erwies er sich seiner Aufgabe gewachsen. Aber ihm fehlte die Gabe, das athenische Volk richtig zu behandeln; hochfahrend und verschlossen sah er auf die Menge herab, und die Demagogen durch ein schmeichelndes Wort zu gewinnen oder wenigstens nach Nikias' Art ihnen den Mund zu stopfen, hielt er unter seiner Würde635. – Schon für das Jahr 378/7 waren neben Chabrias auch Timotheos und Kallistratos zu Strategen gewählt worden636; Chabrias leitete damals die Verteidigung Thebens. Jetzt, gleich nach der Gründung des Bundes, ging er nach Euböa, wo [377] alle Städte ihn mit Begeisterung als Befreier aufnahmen bis auf das ehemals von Athen so arg mißhandelte Hestiäa, in dem überdies eine spartanische Besatzung lag (o. S. 294f.)637. Des weiteren traten die kleineren Inseln im Norden bei, wie Peparethos und Skiathos, ferner die thrakischen Städte Perinthos, ohne Zweifel durch den Einfluß von Byzanz, und Maronea, sowie vielleicht Tenedos. Die Kykladen dagegen blieben noch unter spartanischer Herrschaft638.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 370-378.
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