Vorwort zur ersten Auflage

Nach den Vorbemerkungen zum dritten und vierten Bande würde der fünfte keines weiteren Geleitworts bedürfen, wenn nicht ein neuer Fund hier noch Berücksichtigung erheischte.

Im Herbst 1901 hat BRUNO KEIL unter dem Titel Anonymus Argentinensis ein Papyrusblatt veröffentlicht und mit einem an wertvollen Exkursen reichen Kommentar begleitet, dessen Rückseite Notizen über die Geschichte Athens im fünften Jahrhundert enthält. Das Blatt ist in der Mitte der Länge nach durchgerissen, so daß von den 26 Zeilen immer nur die zweite Hälfte erhalten ist. Geschrieben ist der Text etwa gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. Die Aufzeichnungen erinnern an die unter Heraklides' Namen gehenden Auszüge aus Aristoteles' Politien; es sind zusammenhangslose Exzerpte aus einem größeren Werk, wahrscheinlich, trotz der abweichenden Ansicht des Herausgebers, doch aus einer Atthis; genauer wird sich die Vorlage schwerlich bestimmen lassen. Soweit man nach dem Erhaltenen urteilen kann, sind die Notizen, wenn auch ebenso sprunghaft, so doch sorgfältiger exzerpiert als die des sog. Heraklides; ob die Vorlage selbst einen größeren Wert beanspruchen darf, darüber kann nur die Analyse der einzelnen Angaben Aufschluß gewähren, die freilich durch die unvollständige Erhaltung, die nur in wenigen Fällen einigermaßen sichere Ergänzungen zuläßt, außerordentlich erschwert wird.

Im ersten Paragraphen war von der Einsetzung einer Baukommission die Rede, offenbar für die Akropolis, und dann heißt es: καὶ τὸν Παρϑενῶνα μετ᾽ ἔτη ι᾽, κα[ταπολεμηϑέντων ἤδη τῶν Περ]σῶν, ἤρξαντο οἰκοδομῆσαι. Falls der Verfasser hierbei das urkundliche Datum des Beginns des Parthenonbaus, 447, im Auge hat, würden die Beschlüsse über die Bauten ins Jahr 457, in die Zeit der Schlacht bei Tanagra, fallen. Die sorgfältigen und eingehenden [9] Untersuchungen des Herausgebers1 zeigen, daß allgemeine Beschlüsse über die Neugestaltung der Akropolis für diesen Zeitpunkt recht wahrscheinlich sind: so scheint der Papyrus hier eine richtige Notiz zu bewahren, oder, korrekter gesprochen, ehemals bewahrt zu haben.

Wesentlich anders steht es mit der nächsten Angabe, daß unter Euthydemos (korrekt Euthynos, 450/49) auf Antrag des Perikles die Verlegung des Bundesschatzes von 5000 Talenten von Delos nach der Akropolis beschlossen worden sei. Daß Perikles die Maßregel beantragt hat, mag richtig sein; aber die angegebene Summe ist einfach absurd und das Datum völlig unmöglich. Denn wir wissen urkundlich, daß seit 454 die ἀπαρχή der eingehenden Tribute von den Hellenotamien an die Göttin auf der Burg gezahlt ist; daß trotzdem der Schatz selbst noch vier Jahre lang auf Delos geblieben sei, wird trotz allem, was BR. KEIL zur Verteidigung dieser, wenn die Angabe des Papyrus richtig ist, unvermeidlichen Folgerung ausführt, bei ruhiger Erwägung schwerlich irgend jemand für glaublich halten. Überdies ist die Verlegung des Schatzes im Jahre 450/49 ebensowenig zu erklären, wie sie 454, unmittelbar nach der ägyptischen Katastrophe, natürlich, ja notwendig war.

Die weitere Angabe, daß der Rat die Kontrolle über die alten Trieren führen und 100 neue bauen soll, wird richtig sein. – Dann folgen teils unverständliche, teils gleichgültige Exzerpte (über einen Hilfszug gegen die Thebaner innerhalb 3 Tagen, über den Namen einer Triere, über die Namen der Teile des Peloponnesischen Kriegs – hier erscheint der Name »Archidamischer Krieg« zum ersten Mal in der historischen Literatur [vgl. Bd. IV 2, 32 Anm. 1] –, über Adeimantos' Verrat bei Ägospotamoi), und zum Schluß eine Reihe von Angaben über die nach dem Sturz der Dreißig vorgenommenen Änderungen (darunter über die Kolakreten, deren Ersetzung durch andere Finanzbeamte berichtet sein wird, [10] wie die erhaltenen Worte πάλαι κωλακρέται schließen lassen). Am wertvollsten darunter würde, wenn sie vollständig ergänzbar wäre, die Notiz sein, daß im Jahre des Pythodoros oder der Anarchie τὴν τῶν νομοφυλάκων ἀρχὴν [. .... ἀν]δρῶν ις᾽. Die Frage nach den Nomophylakes gehört zu den dunkelsten der attischen Verfassungsgeschichte (vgl. Bd. IV 1, 541 Anm. 1). Es ist anerkannt, daß diejenigen Nomophylakes, von denen Philochoros im 7. Buch erzählte (lex. Cantabr. s.v.), erst in die Zeit des Demetrios von Phaleron gehören; möglich aber bleibt es, daß (wie BR. KEIL annimmt) die anschließende Angabe καὶ κατέστησαν, ὡς Φιλόχορος, ὅτε Ἐφιάλτης μόνα κατέλιπε τῇ ἐξ Ἀρείου πάγου βουλῇ τὰ ὑπὲρ τοῦ σώματος doch eine richtige Nachricht enthält, wenn die Nomophylakes auch im fünften Jahrhundert eine größere Rolle im öffentlichen Leben gewiß nicht gespielt haben. Zu einem sicheren Resultat ist aber auch mit der fragmentarischen Notiz unseres Papyrus nicht zu kommen. In derselben scheint von einer Behörde von 16 Nomophylaken die Rede zu sein. So unwahrscheinlich wie möglich ist jedoch BR. KEILS Annahme, hier sei ihre Aufhebung unter der Anarchie berichtet worden. Viel wahrscheinlicher ist, daß von der Einsetzung einer derartigen Behörde durch die Dreißig die Rede war, die dann natürlich den Sturz der Oligarchie nicht überlebt hat. –

Zu meinem Bedauern habe ich die Schrift von JOSEPH BRUNŠMID, Die Inschriften und Münzen der griechischen Städte Dalmatiens, 1898 (Abh. des archäol-epigr. Seminars der Universität Wien, Heft XIII) und die darin S. 2ff. mitgeteilte wichtige Inschrift von Schwarzkorkyra zu spät kennengelernt, um sie S. 154 noch berücksichtigen zu können, obwohl dieselbe auch von DITTENBERGER in der Sylloge unter no. 933 abgedruckt und eingehend kommentiert ist. Die Inschrift stammt aus dem vierten Jahrhundert und enthält einen Vertrag zwischen den Issäern und zwei vermutlich illyrischen Machthabern, Pyllos und seinem Sohn Dazos, über den Grundbesitz der in die neugegründete Stadt entsandten Kolonisten. Daraus geht hervor, daß Issa in der Zeit des Dionysios oder kurz nachher auf Schwarzkorkyra eine Kolonie angelegt hat.

Halle a.S., den 25. Januar 1902


Eduard Meyer


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. VI6-VII7,IX9-XII12.
Lizenz:
Kategorien: