Kimons Sturz. Die Verfassungsänderung und der Bruch mit Sparta

[535] Die demokratische Partei hat es vielleicht nicht ungern gesehen, daß Kimon seine Politik durchsetzte. Die 4000 Hopliten, die er nach Messenien führte, gehörten großenteils den Reihen ihrer Gegner an; vor allem aber war dadurch Kimon selbst aufs neue aus Athen entfernt. So hatte Ephialtes freien Spielraum. Er beantragte, den Areopag seiner politischen Rechte zu entkleiden und ihm die Oberaufsicht über den Staat zu nehmen. Wie der Kampf sich gestaltet hat und wie die Verfassungsänderung durchgesetzt wurde, wissen wir nicht. Nur das Ergebnis steht fest, daß die Gesetze, die Ephialtes und sein Genosse Archestratos einbrachten – denn um Gesetze handelte es sich, nicht um einen einfachen Volksbeschluß –, angenommen wurden604. Vielleicht war der Areopag [536] so eingeschüchtert, daß er auf sein Einspruchsrecht verzichtete. Mit welcher persönlichen Erbitterung der Kampf geführt worden ist, zeigt, daß Ephialtes bald darauf ermordet wurde605. Der Mörder ist nie mit Sicherheit ermittelt, die Tat nie gesühnt worden. – Die Entscheidung im Inneren sprach tatsächlich auch der bisherigen äußeren Politik das Urteil. Sie zeigte ihre Wirkung sofort. Die Hoffnungen, welche Sparta auf die athenischen Truppen gesetzt hatte, erfüllten sich nicht, die Belagerung kam nicht vorwärts. Jetzt aber, wo im Staat die Gegenpartei ans Ruder gekommen war, konnten die Spartaner die Anwesenheit der Rivalen im eigenen Lande nur mit schwerem Mißtrauen betrachten. Mochten sie sich auf Kimon und die ihm Nahestehenden noch so sicher verlassen können, so gab es doch auch im Heere Demokraten, und die Masse der Truppen fügte sich unzweifelhaft der gefallenen Entscheidung und den Gesetzen der Heimat. Mußten nicht alle demokratischen und antispartanischen Elemente im Peloponnes mit den Athenern Fühlung suchen? War es nicht zu erwarten, daß die athenischen Truppen mit den Messeniern in Verbindung traten – die Sympathien für den unterdrückten Volksstamm waren in Athen wie anderswo in Griechenland stark genug –, daß man die Anwesenheit der Truppen in Messenien zu einem Handstreich benutzte? Solche Erwägungen bestimmten die spartanische Regierung, sich der gefährlichen Gäste zu entledigen. Unter der Erklärung, daß man ihrer Dienste nicht mehr bedürfe, forderte man Kimon auf, seine Truppen zurückzuführen. Über die Bedeutung der Maßregel war kein Mensch im Zweifel. Als Kimon auf dem Rückmarsch den Isthmos passieren wollte, machten die Korinther Miene, ihm das Betreten ihres Gebiets zu weigern; nur durch energisches Auftreten, das sich auf vorherige Anfragen gar nicht erst einließ, konnte er den Durchmarsch erzwingen606.

Das Verhalten der Spartaner hat den Sieg der demokratischen [537] Partei entschieden; Kimon hatte allen Halt verloren. Ein Versuch, die Verfassungsänderung rückgängig zu machen, scheiterte vollkommen; im Frühjahr 461 erlag Kimon dem Ostrakismos und mußte Athen verlassen. Der Reihe nach wurden die Forderungen der Radikalen Gesetz. Das Wichtigste war die Einführung einer Geldentschädigung für die Übernahme aller durch das Los besetzten Staatsstellen, also für die Verwaltungsämter607, für den Rat und für die Gerichte, die erst dadurch zu wirklichen Volksgerichten wurden. Die Gerichtshöfe wurden fortan aus 6000 für jedes Jahr bestellten Geschworenen für jede Verhandlung ausgelost608; zugelassen war jeder unbescholtene Bürger über 30 Jahre. Da jeder Gerichtshof mit mehreren hundert Geschworenen besetzt wurde, bezogen täglich, außer an Festtagen, Tausende den Richtersold. Niedrig genug freilich waren die gezahlten Summen auch für die damaligen Verhältnisse: der Richter erhielt 2 Obolen (30 Pfennig)609, die Ratsmänner und Beamten ursprünglich wohl kaum mehr, d.h. so viel, daß der Empfänger davon zur Not seinen Unterhalt für den Tag bestreiten konnte. Es sind Diäten, nicht Gehälter. Scharf tritt der Unterschied der antiken und der modernen Staatsidee hervor: der Begriff eines Berufsamts, das seinen Mann ernährt so gut wie jeder andere Beruf, ist der radikalen Demokratie vielleicht noch fremder als jeder anderen antiken Staatsform; als er auf Umwegen durch das Kaisertum eingeführt wurde, hat er den Untergang des antiken Staats herbeigeführt. Diejenigen Ämter, welche Befähigung und Vorbereitung erfordern und daher auch Kosten verursachen, bleiben immer Ehrenstellen, für die keine Entschädigung [538] gewährt wird – so die militärischen Ämter, und nun gar die außerordentliche Stellung eines Beraters und Leiters des Volks. Die Erledigung der laufenden Geschäfte dagegen in Rat und Verwaltung wie die Urteilsfindung im Gericht erfordern lediglich Ehrlichkeit und Pflichtgefühl, keine höhere Einsicht oder Geschicklichkeit. Hier ist daher eine Entschädigung für die aufgewendete Zeit am Platze: nur dadurch wird jeder Bürger in die Lage versetzt, seine bürgerlichen Funktionen wirklich auszuüben. – Die Konsequenz war, daß im Jahr 457 das Archontat auch den Zeugiten zugänglich gemacht wurde. Noch weiter zu gehen ist selbst der radikalen Demokratie nicht in den Sinn gekommen. Daß ein völlig besitzloser Arbeiter oder Händler die Stellung des Präsidenten, des Königs, des Gerichtsvorstands bekleiden und später im Areopag sitzen solle, widersprach dem sozialen Empfinden doch allzusehr. Auch war nicht zu erwarten, daß ein Thete den Wunsch verspüren sollte, gegen eine auf die Dauer doch nicht ausreichende Entschädigung seinen Erwerb ein Jahr lang aufzugeben. – Andere Einrichtungen zum Besten der Massen kamen hinzu, vor allem eine Vermehrung der Festlichkeiten und die Einführung von Schaugeldern (Theorika), damit der Bürger bei den dramatischen und musikalischen Aufführungen feiern könne, ohne zu darben. Auch außerordentliche Spenden sind dem Volk nicht selten gewährt worden610.

[539] Aus der Verfassung wurden mit den politischen Rechten des Areopags die letzten Spuren einer selbständigen, das souveräne Volk bevormundenden Regierung beseitigt. Die Funktionen des Areopags sind zum Teil auf den Rat der Fünfhundert übertragen, der jetzt vollständig der geschäftsführende Ausschuß des Volks geworden ist – daher wird jetzt für jeden Volksbeschluß eine Vorberatung im Rat obligatorisch (προβούλευμα, vgl. o. S. 322, 1). Er führt die Aufsicht über alle Beamten, vor allem über das Finanzwesen; alle Finanzkommissionen sind von ihm abhängig und dürfen nur unter seiner Mitwirkung Gelder einnehmen oder auszahlen. Auch die Polizeigewalt, die früher der Areopag ausübte, steht jetzt dem Rat zu; er kann Geldstrafen verhängen und auf offener Tat ertappte Verbrecher festsetzen und hinrichten lassen. Erst beträchtlich später ist auch in diesen Fällen die Entscheidung den Gerichten überwiesen worden611. – Die höchsten politischen Aufgaben, welche dem Areopag gestellt waren, sind dagegen dem Geschworenengericht der Heliäa zugefallen. Die Richter haben geschworen, [540] nach den Gesetzen, und wo diese nicht zureichen, nach bester Einsicht zu entscheiden; so können die Gesetze ihrer Obhut anvertraut werden. Alle staats- und verwaltungsrechtlichen Entscheidungen sind ihnen überwiesen: die – vom Rat vorbereitete – Prüfung der Qualifikation und der Amtsführung der Beamten, die Streitigkeiten über die Heranziehung zu Liturgien usw. Wenn das Volk einen gesetzwidrigen Beschluß faßt, hat jeder Bürger das Recht, gegen den Antragsteller Klage zu erheben; dadurch wird der Beschluß suspendiert, und die Gerichte entscheiden, ob er gültig ist oder nicht612. Auch wenn es sich bei einer Entscheidung nicht um das Belieben oder den Vorteil des Souveräns, sondern um Recht und Billigkeit handelt, treten die Gerichte ein. So vor allem, wenn das Volk die bestehenden Gesetze für unzulänglich befunden hat und ihre Ergänzung oder Abänderung wünscht. Im 4. Jahrhundert, vielleicht aber schon seit Ephialtes, wird alljährlich in der [541] ersten regelmäßigen Volksversammlung die Frage gestellt, ob die bisherigen Gesetze als ausreichend erachtet wer den; es kann aber auch zu anderen Zeiten ein dahingehender Antrag eingebracht werden. Dann hat jeder das Recht, neue Gesetzesvorschläge einzubringen, oder aber das Volk beauftragt eine Kommission, Vorschläge zu machen. Die Entscheidung dagegen gibt nicht die Volksversammlung, sondern ein Geschworenengericht von »Gesetzgebern« (νομοϑέται), vor dem ein regelrechter Prozeß zwischen den alten Gesetzen und den neuen Vorschlägen geführt wird613. Nach demselben Verfahren werden die Tribute der Bundesgenossen festgesetzt, so daß diesen eine unparteiische Berücksichtigung ihrer Verhältnisse hier ebenso garantiert ist, wie bei den nach Athen überwiesenen Prozessen. In allen diesen Fällen wirkt der Rat mit den Geschworenen zusammen und bereitet ihre Entscheidung in derselben Weise vor wie sonst die der Volksversammlung. Daher gelten Rat und Geschworene als die berufenen Repräsentanten [542] des gesamten Staats. Aus ihnen werden z.B. die staatlichen Opferkommissionen für Götterfeste entnommen614. Ebenso leisten sie insgesamt rebellischen Bundesstädten nach ihrer Wiederunterwerfung den Eid, der diesen die Erhaltung ihres Gemeinwesens und die gerechte Behandlung ihrer Bürger in den Prozessen zusichert, ohne freilich dadurch das souveräne Volk selbst zu binden (vgl. u. S. 667).

So können die Athener sich rühmen, daß im Gegensatz zu der auf Gewalt begründeten Willkürherrschaft eines Einzelnen oder auch einer bevorrechteten Klasse oder Körperschaft in Athen lediglich die Gesetze herrschen; alle Beamten, Rat und Gericht und jeder einzelne Bürger sind verpflichtet, dafür zu sorgen, daß sie streng befolgt werden. Innerhalb dieser Schranken ist der Demos vollkommen frei und wie ein echter Souverän auch vollkommen unverantwortlich. Faßt er einen gesetzwidrigen Beschluß, ergreift er Maßregeln, die ins Verderben führen, so trifft nach attischem Staatsrecht die Verantwortung moralisch und rechtlich die Redner, die ihm schlecht geraten und ihn zu ungesetzlichen oder törichten Handlungen verführt haben, eventuell auch die geschäftsführenden Prytanen, welche die gesetzwidrige Abstimmung [543] zugelassen haben. Alle Organe, die der Staat besitzt, sind nur Werkzeuge, Mandatare des alleinregierenden Volks. Sie vermögen nur, in den ihnen gewiesenen Bahnen die Verwaltung zu führen und die ihnen vom Souverän, der Volksversammlung, gegebenen Befehle zu vollziehen. Regieren, d.h. der äußeren und inneren Politik die Direktive geben, ein Budget aufstellen, einen Feldzug oder eine diplomatische Verhandlung leiten, kann weder der Rat mit den kurzlebigen Prytanenausschüssen, noch irgendeine der zahllosen Kommissionen. Sie alle haben keine andere Autorität als die rein abstrakte der Gesetze: und diese schnüren sie in engbegrenzte Kompetenzen ein und stellen sie gegenseitig unter die schärfste Kontrolle. Sie ersetzen die sittliche Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen, die allein eine schöpferische politische Tätigkeit ermöglicht, durch die rechtliche. Das Mißtrauen gegen die Persönlichkeit, das im tiefsten Wesen der Demokratie und des Gleichheitsprinzips liegt und daher auch alle modernen Staaten immer mehr überwuchert hat, scheint aus der Gestaltung des attischen Staats überall hervor. Der blinde Zufall, nicht irgendwelche Befähigung setzt den Rat und mit Ausnahme der Hellenotamien alle Kommissionen der Verwaltung zusammen; sie alle haben nur zu tun, was jeder beliebige andere, den das Los im nächsten Jahr an ihre Stelle führt, ebensogut tun kann. Außerdem darf niemand eins dieser Ämter zweimal bekleiden noch dem Rat in seinem Leben öfter als zweimal angehören. Jede Bildung einer Tradition, einer Autorität in Rat und Ämtern ist vollständig ausgeschlossen; für die Führung der laufenden Geschäfte sind sie völlig abhängig von ganz untergeordneten Werkzeugen, Schreibern aus niederem Stand615 oder aus den Staatssklaven. Am drastischsten tritt das Fehlen jeder leitenden Regierung in dem Finanzwesen hervor (u. S. 679): all die zahlreichen Finanzkommissionen sind lediglich Kassenverwalter. Sie sind für den Bestand ihrer Kassen und die Leistung der auf sie angewiesenen Zahlungen verantwortlich und werden, wenn ein Defekt oder gar ein Unterschleif vorliegt, streng [544] bestraft616; alle aufgelaufenen Rechnungen werden alle vier Jahre bei den Großen Panathenäen von einem vom Rat ernannten Rechnungshof von 30 »Rechenmeistern« geprüft617. Aber wie wäre irgendeine dieser Kommissionen oder der sie beaufsichtigende Rat imstande gewesen, einen Finanzplan zu entwerfen oder auch nur die finanzielle Lage des Staats und seine Bedürfnisse wirklich zu übersehen? All das ist ausschließlich Aufgabe des amtlosen Staatsmanns, des Demagogen618. Sollte der Zufall einmal einen tüchtigen Mann in ein Amt führen, so ist ihm Zeit und Raum benommen, wirklich etwas zu leisten. Für besondere Aufträge, bei denen Sachverständige unentbehrlich sind, wie Bauten oder Gesandtschaften, ernennt das Volk allerdings die Männer, die ihm geeignet scheinen; aber ihnen sind ihre Kompetenzen genau vorgeschrieben. Selbständiger stehen nur die Strategen da und vor allem ihr Oberhaupt. Doch auch dieser vermag nur etwas, solange er das Vertrauen des Volks behauptet; schlägt die Stimmung um, so ist er lahmgelegt, ganz abgesehen davon, daß das Volk ihn jederzeit vom Amt suspendieren kann: in jeder Prytanie wird es befragt, ob es mit der Amtsführung der Strategen einverstanden ist; wird die Frage verneint, dann haben die Gerichte die Entscheidung.

So ist in der Tat in Athen mit der Selbstregierung des Volks so bitterer Ernst gemacht wie niemals vorher noch nachher in der Geschichte. Es gibt in Athen keine Regierung, kein Ministerium, keine Autorität als die Volksversammlung. Jeder Athener hat das Recht, ihr seine Ansicht vorzutragen und zu versuchen, ob seine Ratschläge Gehör finden; aus den Vorschlägen wählt das Volk kraft der ihm innewohnenden Weisheit aus, was ihm am zweckdienlichsten erscheint. Aber nur um so deutlicher zeigt sich, daß die attische Demokratie tatsächlich auf eine Institution zugeschnitten ist, von der die geschriebene Verfassung nichts weiß: auf die Leitung des Staats durch den vom Vertrauen des Volks [545] auf unbegrenzte Zeit an seine Spitze berufenen Demagogen. Ihm die Bahn frei zu machen, haben zuerst Kleisthenes, dann Themistokles ihre Reformen eingeführt; Ephialtes und Perikles haben den letzten Schritt getan, indem sie den letzten Rest einer selbständigen Autorität beseitigten und zugleich durch die Heranziehung der besitzlosen Menge zum Regiment die neue Ordnung auf die breiteste Basis stellten. Die Massen, und mögen sie noch so oft sich versammeln – außer den regelmäßigen vier Versammlungen in der Prytanie jederzeit, wenn rasche und außerordentliche Entscheidungen erforderlich waren –, selbst regieren können sie nicht; irgendeine Einheit aber muß da sein. Einen Überblick über die Lage des Staats, das Finanzwesen, die äußere Politik in Krieg und Frieden kann nur gewinnen, wer die Staatsgeschäfte als seinen Lebensberuf treibt. Einfluß zu gewinnen, sei es auf einzelnen Gebieten, sei es auf die Gesamtleitung, mögen beliebig viele versuchen; gedeihen kann der Staat nur, wenn die Politiker sich einer überlegenen Persönlichkeit unterordnen, oder wenn, falls mehrere um den Primat kämpfen, der Souverän eine definitive Entscheidung trifft – die Form dafür bot der Ostrakismos – und sich dann dem Mann seiner Wahl mit vollem Vertrauen hingibt. Dieser Regent oder, wenn man lieber will, dieser Premierminister des souveränen Volks kann aber – das ist auch noch für Perikles selbstverständlich – nur ein Mann aus den ersten Familien des Landes sein; denn die Stellung setzt die volle Hingabe aller Kräfte an den Staat voraus, ohne daß sie irgendwelchen materiellen Gewinn oder auch nur einen Ersatz für die aufgewandte Arbeit, für die großen Ausgaben der leitenden Stellung gewährt noch gewähren darf. Darauf beruht es, daß der Kampf um die Verfassung zugleich ein Ringen der großen Adelsgeschlechter um die Herrschaft gewesen ist, daß das ehrgeizigste von ihnen, die Alkmeoniden, jetzt in seiner weiblichen Linie durch Perikles vertreten, in demokratischen Konzessionen allen anderen den Rang ablief, um dadurch um so sicherer und dauernder für sich selbst die Herrschaft zu gewinnen. Aber die Kehrseite fehlt nicht. Solange der Demagoge das Vertrauen der Massen behauptet, ist seine Stellung so unumschränkt und allmächtig wie nur je die eines erblichen Monarchen[546] oder eines erfolgreichen Usurpators. Aber hören seine Erfolge auf, regt sich das Mißtrauen, wissen kühne Rivalen ihm die Volksgunst zu entziehen und eine neue politische Wendung herbeizuführen, dann kann seine Macht so jäh und so völlig zusammenbrechen, wie nur je die eines Tyrannen. Und mit der politischen Katastrophe ist es nicht getan. Es war ein gefährliches Amt, dem Volk von Athen zu dienen. Der Demos war souverän und unverantwortlich; die Schuld für jeden scheinbaren oder wirklichen Mißerfolg, für jede Verscherzung seiner Gunst trug nicht er, sondern seine Ratgeber; so war es sein gutes Recht, sie zur Verantwortung zu ziehen. Das hat der attische Demos so eifrig und so erbarmungslos getan wie nur der launischste Despot. Es ist der Ruhm des Perikles und seiner Genossen, daß sie bei der Umwälzung von 461 jedes gerichtliche Nachspiel gemieden haben und selbst der nach der Thasischen Expedition gemachte Versuch, Kimon zu verurteilen, nicht wieder aufgenommen wurde. Sonst aber hat im Leben der athenischen Demokratie jede Wendung im großen wie im kleinen zu den schlimmsten Prozessen geführt; ihr Andenken ist gebrandmarkt durch die unabsehbare Reihe schimpflicher politischer Urteile gegen die leitenden Staatsmänner wie gegen Feldherrn und Gesandte, von den Prozessen des Miltiades und Themistokles an. Noch weit verhängnisvoller aber war es, wenn mit dem Sturz des leitenden Staatsmanns zugleich sein Posten vakant wurde, wenn die Gegner zwar die Kraft hatten, ihn zu beseitigen, aber nicht, ihn zu ersetzen. Das war bisher nicht oder doch nur vorübergehend eingetreten, solange noch ein Fortschritt der inneren Entwicklung möglich war. Jetzt aber, mit der Umwälzung von 461, war das letzte Ziel erreicht, über das hinaus niemand mehr gehen konnte, und zugleich war mit dem Sturz des Areopags der letzte Hemmschuh beseitigt. War es zu erwarten, daß die emanzipierten Massen, wenn sie sich einmal fühlen gelernt hatten, sich aufs neue der Autorität eines auch noch so bedeutenden Mannes fügen würden? War das nicht der Fall, dann mußten die Schattenseiten der radikalen Demokratie um so furchtbarer hervortreten, dann mußte sich zeigen, was es bedeutete, einen Staat, der eine Großmacht sein wollte und mußte, zu organisieren ohne eine Regierung. [547] Der attische Staat ohne anerkannten Demagogen war nichts anderes als permanente Anarchie. Einstweilen freilich lagen derartige Gedanken und Besorgnisse noch fern. Gerade der Umstand, daß Perikles und seine Genossen den breiten Massen die Beteiligung am Staatsleben eröffnet hatten, gab ihnen den festesten Halt; diese empfanden, daß sie ohne ihren Führer sich nicht behaupten konnten. Dadurch hat Perikles eine Stellung gewonnen, die auch schwere Stürme unerschüttert bestehen und Mißerfolge ertragen konnte, wie sie jedem anderen Staatsmann verhängnisvoll geworden wären.

Die konservative Partei hat die Durchführung des demokratischen Programms nicht hindern können. Die Extremen waren so erbittert über den Sieg des Pöbels, daß man den Ausbruch eines Bürgerkriegs, den Versuch, mit Spartas Hilfe die alte Verfassung wiederherzustellen, befürchtete. Aber bei den Gemäßigten überwog das Staatsgefühl; sie fügten sich; wenn auch mit der stillen Hoffnung, dereinst die Umwälzung rückgängig machen zu können. Das brüske Vorgehen Spartas übte auf die innere Krisis einen heilsamen Einfluß. Auch unter den Anhängern des Alten war weitaus die Mehrzahl entrüstet über die Beleidigung, die Athen, die noch dazu gerade Kimon erfahren hatte, und einverstanden damit, daß man den Handschuh aufnahm. Sofort trat Athen in ein Bündnis mit Argos und mit Thessalien, den Widersachern Spartas. Der hellenische Waffenbund gegen Persien war zerrissen, die politische Konstellation der Pisistratidenzeit wiederhergestellt. Ein Mann wie Myronides, der bereits zur Zeit des Xerxes neben Kimon und Aristides tätig gewesen war und durchaus auf dem Boden der alten Ordnung stand – über die Parteistellung des Tolmides und Leokrates, die neben ihm als Feldherrn hervortraten, wissen wir nichts –, stellte seine Kraft der neuen Politik zur Verfügung und hat zu ihren Erfolgen fast am meisten beigetragen619. Seinem Beispiel werden viele gefolgt sein; auch Äschylos billigt das Bündnis mit Argos (Eumen. 289. 669. 762). Nur eine Forderung [548] stellten sie dagegen auf: die Fortführung des Nationalkriegs gegen Persien, und daher zunächst die Wiederaufnahme der Befreiung Cyperns, die man seit Pausanias' Feldzug 478 hatte liegen lassen620. Es galt zu zeigen, daß Athen trotz des Bundes mit dem perserfreundlichen Argos an der nationalen Politik festhielt. Die radikale Partei war bereit, auf diese Forderung einzugehen. Die Verhältnisse waren günstig, die völlige Ohnmacht des Perserreichs schien klar vor Augen zu liegen; eine Erweiterung des Machtbereichs, eine Erschließung Phönikiens und Ägyptens für den attischen Handel konnte der demokratischen Politik nur willkommen sein. So trat der Radikalismus die Herrschaft an mit dem umfassendsten Programm, das sich denken ließ: zugleich ein Kampf um die Herrschaft in Griechenland und energische Fortführung des Perserkriegs. Gelang es, das Ziel zu erreichen, so hatte die athenische Bürgerschaft nicht nur die Suprematie in Hellas, sondern zugleich die Weltherrschaft gewonnen. Große Anstrengungen und Opfer mußte der Kampf kosten; aber die Erfolge der letzten Jahrzehnte hatten das Selbstvertrauen mächtig gesteigert, und die volle Entfesselung der Kräfte der Bürgerschaft durch die Verfassungsänderung stärkte die Überzeugung, allen Gegnern gewachsen zu sein. Mit keckem Mut und voller Siegeszuversicht ging man in den gewaltigen Kampf.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 535-550.
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