Die Schöpfung der attischen Flotte

[335] Die Wiederaufnahme der persischen Rüstungen und der Bau des Athoskanals haben die Entscheidung in Athen herbeigeführt: im Frühjahr 482 wurde Aristides ostrakisiert. Auch wurden die Ostrakisierten angewiesen, bei Strafe der Acht – die zugleich die Vermögenseinziehung zur Folge haben würde – die Küsten des Saronischen Meerbusens zu meiden: die Gefahr lag nahe genug, daß sie verbunden an der attischen Küste erscheinen und, auf ihren Anhang im Lande gestützt, ihre Rückkehr erzwingen könnten402. – In demselben Jahre gelang es Themistokles, den Flottenbau durchzusetzen. Bisher waren die Überschüsse aus den Pachtgeldern der Laurischen Bergwerke nach altem Brauch unter die Bürgerschaft verteilt worden; und gerade jetzt waren sie durch [336] Erschließung einer neuen Grube sehr gestiegen. Themistokles beantragte, die Erträgnisse für den Flottenbau zu verwenden. Bisher hatten die Verwaltungsbezirke, die Naukrarien, die Schiffe gestellt; fortan sollte der Staat selbst eine Flotte haben – daher werden die Naukrarien jetzt abgeschafft. Nur die Instandsetzung der Schiffe zum Dienst blieb nach wie vor eine »Leistung« (Leiturgie) der einzelnen Bürger, die den Vermögenden der Reihe nach auferlegt ward (Trierarchie). Daß die neuen Schiffe Trieren sein mußten, verstand sich von selbst. Der Bau wurde, da der Staat dafür keinerlei Organ besaß, auf die leistungsfähigen Bürger verteilt, denen der Staat die nötigen Summen überwies, angeblich für jedes Schiff ein Talent. Der Bau wurde rasch gefördert; in den dritthalb Jahren bis zum Ausbruch des Kriegs ist die Zahl der Trieren auf weit über 100, angeblich sogar auf 180 gebracht worden. Wie es scheint, wollte man einen Bestand von 200 Trieren erreichen403. Nach späteren Begriffen waren sie freilich unvollkommen genug, schwerfällig und daher an Schnelligkeit den phönikischen Schiffen nicht gewachsen, dabei schmal und ohne durchgehendes Deck, nur mit Vorder- und Hinterkastellen, so daß die an Bord genommenen Krieger (Epibaten), 14 Hopliten und 4 Bogenschützen, [337] in ihren Bewegungen sehr gehemmt waren404. Trotzdem durfte man hoffen, wenn man von den übrigen Seestädten Unterstützung erhielt, der persischen Flotte annähernd gewachsen zu sein; hätten doch auch die Ionier sich zur See behaupten können, wenn sie einig gewesen wären.

Durch die Schöpfung der Flotte wurde die Wehrkraft Athens mehr als verdoppelt. Denn der Bestand des Hoplitenheers wurde dadurch nicht berührt, abgesehen von den Epibaten, die es an die Schiffe abgab; die etwa 27000 Ruderer, welche man für die 180 attischen Schiffe bei Salamis – falls die Zahl wirklich richtig ist – brauchte, konnten ohne Mühe von den Theten gestellt werden, vielleicht mit Heranziehung der Metöken und einzelner zuverlässiger Sklaven. Ausgehoben wurde die Schiffsmannschaft nach den Gemeindebezirken (Demen) von den Demarchen. – Auch sonst hat Athen sich durch militärische Reformen für den Perserkrieg vorbereitet. Wie in Sparta und den übrigen peloponnesischen Gemeinden war auch in Athen die Bürgerwehr eine geschlossene Hoplitenphalanx; man besaß weder Reiterei noch Leichtbewaffnete. Aber bei Marathon hatte man trotz des entscheidenden Sieges der Hopliten empfunden, wie wertvoll zur Schwächung und Abwehr des feindlichen Pfeilangriffs eine Unterstützung der Phalanx durch leichtbewegliche Schützen sein würde. Material war dafür, da sie keinerlei weiterer Ausrüstung und nur geringer Übung bedurften, in den Theten reichlich vorhanden. [338] So wurde aus diesen für den bevorstehenden Krieg ein Schützenkorps von 800 Mann ausgehoben, und auch auf jedes Schiff, wie schon erwähnt, neben den Hopliten 4 Schützen gestellt405.

Nach mehr als zehnjährigem Ringen war Themistokles ans Ziel gelangt. Athen war dabei, ein Werk zu schaffen, wie es die griechische Welt noch nicht gesehen hatte; seine Flotte überflügelte jetzt die Seemacht von Korinth, Ägina, Korkyra weitaus, selbst die Gelons, die bei Herodot (VII 158) jedenfalls übertrieben auf 200 Trieren angegeben wird, konnte sich schwerlich mit ihr messen. Mit berechtigter Zuversicht durfte Athen dem großen Kriege entgegensehen. An dem Hinweis, daß es mit den bisherigen Streitkräften nicht einmal imstande gewesen war, Ägina die Spitze zu bieten, wird Themistokles es nicht haben fehlen lassen; aber mit Unrecht rückt unsere anekdotisch gefärbte Überlieferung das in den Vordergrund – in Wirklichkeit ist ja die Flotte gar nicht gegen Ägina verwendet worden, wozu doch 481 noch Zeit gewesen wäre, wenn man in törichter Beschränktheit über den lokalen Interessen die allgemeinen hätte hintansetzen wollen – und läßt die größte staatsmännische Tat, welche die Weltgeschichte bis dahin aufzuweisen hat, als ein Werk des Zufalls erscheinen, daß Athen mit Ägina Krieg führte und daß im Jahr 483 eine neue Silbermine entdeckt wurde. Themistokles' Schöpfung ist erwachsen aus der klaren Einsicht in die gebieterische Notwendigkeit der äußeren Politik, die hier wie in allen großen Fragen als das schöpferische Element im Leben der Nationen sich erweist. Aber sie war zugleich von folgenschwerer Bedeutung für die innere Gestaltung des attischen Staats. Für den wahren Staatsmann sind alle politischen Fragen Machtfragen, auch die der inneren Politik. Themistokles steht viel zu hoch, als daß er auf ein politisches Parteiprogramm hätte eingeschworen sein und der Verwirklichung eines doktrinären Verfassungsideals hätte nachjagen können. Auch die [339] Staatsform ist für ihn nur ein Faktor in seiner Rechnung. Nicht weil er selbst Demokrat war, sondern weil sich sein Ziel mit den bestehenden Institutionen nicht erreichen ließ, mußte er alles daransetzen, die moderne, demokratische Entwicklung zu fördern. Mit Recht betrachten die Theoretiker der späteren Zeit, die die entschwundenen Zustände der Zeit des Kleisthenes und Solon wiederherstellen möchten, ihn als den eigentlichen Begründer der attischen Demokratie: Ephialtes und Perikles haben aus seinen Schöpfungen nur die Konsequenzen gezogen. Er hat der Souveränität des Volkes durch die Beseitigung des Archontats zum entscheidenden Ausdruck verholfen; er hat die Stellung des amtlosen Demagogen begründet; er hat die besitzlose Masse, indem er sie zum Kriegsdienst auf der Flotte heranzog, den Besitzenden gleichgestellt. Aber das Wesentliche ist ihm die Mehrung der Macht des Staats, die Erschließung aller seiner Kräfte. Daher hat er mit der alten Finanzpolitik gebrochen, welche die Überschüsse der Staatsverwaltung als wohlerworbenen Besitz der einzelnen Bürger betrachtete, daher die Tausende von Händen, die bisher militärisch nicht mitzählten, wehrfähig gemacht, indem er ihnen das Ruder in die Hand gab, daher hat er, der dem bürgerlichen Oberamt alle Bedeutung nahm, die Stellung des Feldherrnamtes gewaltig gehoben. Ganz neue Aufgaben sind durch ihn dem Staat gestellt; nicht, daß er die Demokratie begründet hat, ist das Entscheidende, wie Plato meint, sondern daß er den behaglichen Zeiten kleinstaatlichen Stillebens ein Ende gemacht und Athen zu einer Großmacht erhoben hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 335-340.
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