Alkibiades und Nikias. Ostrakismos des Hyperbolos. Neue Kämpfe in Griechenland

[201] Alkibiades' Politik hatte mit einem vollen Fiasko geendet. Statt aller verheißenen Erfolge hatte Athen eine schwere Niederlage erlitten, und der durch Nikias' geschickte Politik in zwei Lager [201] zerrissene Peloponnes stand ihm wieder als Einheit gegenüber. Die Verantwortung trug Alkibiades allein. Wider seinen Willen hatte er das Volk zum Kriege gezwungen; so hatte Athen mit ganz ungenügender Macht an einem Kampf teilgenommen, in dem, selbst wenn es mit voller Kraft eingetreten und die Elier nicht ferngeblieben wären, ein Sieg kaum zu erhoffen war. Die Mißstimmung gegen sein eigenmächtiges Vorgehen wuchs gewaltig. Ihn vor Gericht zu ziehen, wagte man allerdings nicht; auch mag er seine Vollmacht formell nicht überschritten haben. Aber wenn je, so war hier der Anlaß gegeben, zu dem altbewährten Mittel des Scherbengerichtes zu greifen. Schaltete doch Alkibiades in Athen und in ganz Hellas bereits jetzt wie ein König, machte er doch gar kein Hehl daraus, daß er sich für besser und zu Höherem berufen hielt als jeden anderen; was war erst in Zukunft von dem selbstherrlichen Mann zu erwarten wenn man ihm noch weiter nachsah? Jedenfalls konnte der Staat nicht zur Ruhe und nicht zu einer festen Politik gelangen, solange er und Nikias sich gegenüberstanden; es war Zeit, daß die Majorität der Bürgerschaft sich endgültig entschied, ob sie hinfort mit Nikias Frieden halten oder mit Alkibiades dem offenen Krieg entgegensteuern wolle. Die Radikalen, Hyperbolos voran, stimmten dem Vorschlag mit Freuden zu: fiel die Entscheidung gegen Alkibiades, so waren sie einen unbequemen Rivalen los; wurde Nikias verbannt, so war damit ihr Ziel, die Erklärung des Eroberungskrieges, so gut wie erreicht. So beschloß das Volk zu Anfang des Jahres 417, daß am gesetzlichen Termin, im Frühjahr, wieder einmal, nach 26 Jahren, ein Ostrakismos stattfinden solle. Trotz aller Keckheit wurde Alkibiades doch schwül zumute; es war kein Zweifel, daß das Landvolk sich in Masse einfinden und gegen ihn stimmen würde. Daher wandte er sich mit Kompromißvorschlägen an Nikias. In diesem entscheidenden Moment seines Lebens versagte Nikias der Mut. Den Staat und sich selbst hätte er vor dem Untergang retten können, wenn er gewagt hätte, mit Einsetzung seiner Existenz den Kampf durchzufechten und die Verbannung des Alkibiades zu erzwingen. Aber auch er fühlte sich seiner Sache nicht sicher; und ihn leiteten nicht staatsmännische Erwägungen, sondern das Streben nach behaglichem Ausruhen auf seinen Lorbeeren. So verbanden [202] sich beide, die Stimmen ihres Anhangs auf Hyperbolos zu vereinigen und sich den unbequemen Schreier vom Hals zu schaffen. Zu allgemeiner Überraschung ergab die Zählung der Stimmen, daß Hyperbolos von der Majorität auf zehn Jahre des Landes verwiesen sei. Die ernste Aktion lief aus wie ein Possenspiel. Aber bald mischte sich in die lustige Stimmung die Scham. »Zwar nach seiner Persönlichkeit hat er sein Schicksal verdient«, sagt der Komiker Plato, »aber seiner Brandmale ist es unwürdig; denn nicht für solche Gesellen sind die Scherben erfunden.« Die Entscheidung war verhängnisvoll nicht nur für den weiteren Verlauf der Politik, sondern für das ganze Wesen des attischen Staates. Das Sicherheitsventil, das ihn bisher in allen Krisen bewahrt hatte, war unbrauchbar geworden, die Persönlichkeit hatte über den Staatsgedanken triumphiert. Indem sie zu einer großen Entscheidung sich nicht mehr fähig erwies, hat die attische Demokratie sich selbst das Urteil gesprochen186.

Die erstrebte Entscheidung war nicht gefallen; nach wie vorstanden Nikias und Alkibiades nebeneinander an der Spitze des [203] Staates. Beide sind für das nächste Jahr (417/6) zu Strategen gewählt worden. Mochte zunächst Nikias und die konservative Partei den größeren Gewinn davongetragen haben, so mußte sich doch ihm gegenüber das persönliche Übergewicht des Alkibiades sehr bald wieder herstellen. Die Einwirkung auf den Peloponnes zeigte sich sofort. Im Sommer 417 erhob sich der argivische Demos gegen die Oligarchen und schlug sie in blutigem Kampf zur Stadt hinaus. Die spartanische Hilfe kam zu spät: der schwerfällige Staat feierte gerade das Fest der Gymnopädien. Nachher zögerte und verhandelte man, während die argivischen Demokraten aufs neue mit Athen abschlossen und, von ihm durch Steinmetzen unterstützt, schleunigst begannen, lange Mauern bis ans Meer nach dem Muster der athenischen zu bauen187. Endlich im Winter zog König Agis ins Feld, störte den Bau und eroberte das Grenzkastell Hysiä. Aber weiteres konnte er nicht ausrichten, zumal Korinth, das sich einen Landkrieg in seiner nächsten Nachbarschaft nicht auf den Hals ziehen und vermutlich auch Argos als Gegengewicht gegen Sparta schonen wollte, ihn im Stich ließ188. Argos warf sich jetzt ganz Athen in die Arme; im nächsten Jahre übergab man 300 Männer, die oligarchischer und lakonenfreundlicher Gesinnung verdächtig waren, an Alkibiades, der sie auf die Inseln in Gewahrsam brachte. Zugleich führte Argos Krieg mit Phlius, ohne daß Sparta intervenierte189. Bei der Olympienfeier des Jahres 416 trat Alkibiades vor ganz Hellas als der Nachfolger der alten Tyrannen auf, der er war. Sieben Gespanne ließ er beim Wettrennen laufen und gewann den ersten, zweiten und vierten Preis, ein Ruhm, der noch keinem Hellenen zuteil geworden. Die Bündner drängten sich, sein Auftreten möglichst glänzend zu gestalten, Ephesos, Chios, Lesbos lieferten ihm die Einrichtung des kostbaren Zeltes, Lebensmittel und Wein; auch die Prunkgeräte, die Athen zum Festzuge gesandt hatte, eignete er [204] sich für die Siegesfeier an; bei Euripides bestellte er sich nach alter, sonst schon obsolet gewordener Weise ein Siegeslied, wie ehemals Hieron und Theron bei Pindar und Simonides190.

Währenddessen hatte Nikias durchgesetzt, daß Athen sich endlich, im Sommer 417, zu einer Expedition nach Thrakien aufraffte. Aber Perdikkas, heimlich im Einvernehmen mit Sparta und damals noch mit Argos (s.S. 198), weigerte den Zuzug, zu dem er verpflichtet war. Den Krieg aus eigener Kraft zu Ende zu führen, war den Athenern zu beschwerlich und zu kostspielig, und so verlief das Unternehmen im Sande. Ein Teil der Landorte der Bottiäer, aber nicht Spartolos, trat zu Athen zurück und verpflichtete sich, es im Kriege zu unterstützen; von Tribut war nicht mehr die Rede. Mit den Chalkidiern wurde nach dem Muster des böotischen ein Waffenstillstand von zehn zu zehn Tagen geschlossen, dem Perdikkas der Krieg erklärt und die makedonische Küste blockiert. Im Winter 416/5 sandte man Reiter nach Methone und plünderte von hier aus das Land191. – So vernachlässigte Athen Jahr für Jahr die dringendste Aufgabe seiner Politik; viel bequemer war es, einträgliche [205] Raub-und Eroberungszüge gegen ohnmächtige Gegner zu unternehmen. Im Sommer 416 wurde der 426 gescheiterte Angriff auf die neutrale Insel Melos (s.S. 74, 108) erneuert. Offen sprach Athen aus, daß ihm die Rechtsfrage ganz gleichgültig sei, daß es aber nicht länger dulden wolle, daß innerhalb seines Machtbereiches ein kleiner Staat ihm trotze und seine Unabhängigkeit zu wahren sich anmaße. Auf die Götter sollten die Melier sich nicht berufen: überall auf Erden gelte das Recht des Stärkeren, und die gleiche Vorstellung liege den Anschauungen von den Göttern selbst zugrunde. Voll Hohn wiesen die athenischen Unterhändler die Hoffnungen zurück, welche die Melier auf Sparta setzten, wo sich doch Sparta in seiner auswärtigen Politik nur vom Nutzen leiten lasse und jeder Gefahr aus dem Wege gehe: es werde um ihretwillen keinen Finger rühren. Die Melier wehrten sich tapfer; aber zu Ende 416 mußten sie sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Athen hat sich nicht geschämt, gegen die Gemeinde, die sich ihrer Unabhängigkeit wehrte, zu verfahren, wie es durch Kleon gegen rebellische Untertanen üblich geworden war; auf Betreiben des Alkibiades – in Machtfragen kannte er kein Gewissen und keine Scham – wurden die Männer abgeschlachtet, die Frauen und Kinder verkauft, die Insel mit 500 Kolonisten besiedelt192. – Gleichzeitig kam es zu einer Grenzfehde mit Korinth, und die Besatzung von Pylos brachte große Beute ein (wohl durch die Räubereien zur See). Aber weder dadurch noch durch die Schande von Melos ließ sich Sparta zum Krieg aufreizen; es begnügte sich, die Kaperei gegen Athen freizugeben und, freilich vergeblich, die Chalkidier zur Kündigung des Waffenstillstandes und zur Unterstützung des Perdikkas aufzufordern. Gegen Argos zog es nach einem vergeblichen Anlauf im Herbst 416, der den Argivern Anlaß gab, eine Anzahl Aristokraten umzubringen, zu Anfang 415 ins Feld, besetzte den Gebirgsort Orneai und siedelte hier eine Anzahl flüchtiger Argiver an; nach dem Abzug der Spartaner wurden dieselben von den Argivern und Athenern verjagt und der [206] Ort zerstört193. Direkt in spartanisches Gebiet einzufallen und so den Frieden offen zu brechen – die Räubereien von Pylos aus wurden von Sparta noch nicht als Friedensbruch betrachtet – wagte man in Athen doch nicht, so dringend die Argiver darum baten. Aber die Forderung Spartas, durch ein Schiedsgericht die Differenzen beizulegen, entsprechend der Vorschrift des Friedensvertrages, wies Athen jetzt ebenso zurück wie Sparta im Jahre 432194. In Argos meinte man eine feste Stütze im Peloponnes zu haben, die Sparta lahmlege; die Lehren des Krieges von 460-50, der deutlich gezeigt hatte, wie wenig die argivische Hilfe wert war, schlug man in den Wind. Indessen alle Versuche des Alkibiades, den großen Krieg aufs neue zu entzünden, scheiterten an der unerschütterlichen Passivität Spartas, das den Schimpf, den Athen ihm antat, ruhig einsteckte und lieber alle Unannehmlichkeiten der gegenwärtigen Lage ertragen als aufs neue Krieg beginnen wollte. So nachhaltig wirkte der unglückliche Ausgang des Archidamischen Krieges.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 201-207.
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