Der Sonderbundskrieg

[192] Trotz aller Spannung hätte sich der Friede in Griechenland noch lange erhalten, ja vielleicht die Gegensätze sich allmählich beruhigen können. Die Interessen aller beteiligten Mächte wiesen darauf hin, sich mit der Anerkennung des gegenwärtigen Besitzstandes zu begnügen und einen neuen Waffengang auf die Zukunft zu vertagen. Daß es anders kam, ist das Werk des Alkibiades und der mit ihm konspirierenden Kriegspartei in Argos. Im Frühjahr 419 ging Alkibiades als attischer Stratege mit geringer Truppenmacht nach Argos und begann überall im Peloponnes zu hetzen und zu schüren. Es gelang ihm, Paträ in Achaia zu gewinnen; einen Versuch, den Vorsprung von Rhion für Athen zu befestigen, vereitelten dagegen Korinth und Sikyon. Gleichzeitig begann Argos Krieg mit Epidauros; zum Vorwand mußte, ähnlich wie beim megarischen Psephisma, ein religiöser Grund dienen, die Unterlassung einer den Epidauriern obliegenden Abgabe an den Apollo Pythaeus – [192] dagegen setzte sich Argos über die bei allen dorischen Staaten geltende Waffenruhe während des Monats Karneios (August) unbedenklich hinweg. Die Spartaner entschlossen sich zu einer Demonstration; König Agis rückte noch vor den Karneen mit der gesamten Heermacht des Staates bis an die arkadische Grenze vor. Aber die Opfer, welche beim Überschreiten der Grenze vorgeschrieben waren, waren ungünstig, und so kehrte er wieder um. Der gleiche Vorgang wiederholte sich im Herbst, als Agis direkt gegen Argos vorrücken wollte – Alkibiades zog bereits mit dem athenischen Heer den Argivern zu Hilfe, mußte aber jetzt auch, sehr gegen seinen Wunsch, unverrichteterdinge wieder umkehren. Dazwischen war auf Veranlassung Athens noch einmal ein Friedenskongreß in Mantinea zusammengetreten, ja die Argiver hatten sich auf das Drängen Korinths dazu verstanden, während desselben ihre Truppen aus dem Gebiet von Epidauros zurückzuziehen; aber ein Resultat wurde auch diesmal nicht gewonnen. Man sieht, wie auf beiden Seiten die besonnene Politik immer wieder durchdringt, wie aber die vorhandenen Gegensätze eine positive Einigung jedesmal unmöglich machen. Der Friede des Nikias entsprach eben in seinen Stipulationen nicht den realen Machtverhältnissen, sondern ging zugunsten Athens über dieselben hinaus. Dieser diplomatische Gewinn wurde durch seine unsichere, von Stimmungen und nicht von ruhigen Erwägungen geleitete Politik für Athen ein politischer Nachteil und gewährte Alkibiades und seinen argivischen Genossen die Möglichkeit, die Gegensätze immer mehr zu verschärfen und Griechenland wider seinen Willen in den allgemeinen Krieg hineinzutreiben.

Während des Winters 419/8 gelang es den Spartanern, über See 300 Mann unter Agesippidas in das von Argos belagerte Epidauros zu führen. Da erhoben die Argiver Beschwerde in Athen: die See sei der Machtbereich Athens, die Spartaner hätten also im Kriege gegen Argos athenisches Gebiet durchzogen, somit sei Athen nach den Bestimmungen des Vertrages mit Argos bundbrüchig, wenn es nicht dagegen einschreite. Alkibiades erreichte, daß das Volk diese Argumentation anerkannte; in feierlicher Form wurde erklärt, Sparta habe die Verträge mit Athen gebrochen [193] (vgl. Aristoph. Lys. 513), und die Heloten (s.S. 184) aus Kephallenia nach Pylos zurückgeführt, um die Räubereien auf spartanischem Gebiet wiederaufzunehmen. Trotzdem kam es auch jetzt noch nicht zum Ausbruch des Krieges. Nochmals erlangte die Friedenspartei in Athen das Übergewicht; bei den Strategenwahlen im Frühjahr 418 wurde Alkibiades nicht wieder gewählt, wohl aber Nikias, Laches und Nikostratos, ausgesprochene Anhänger der Friedenspolitik. Eben darum hat offenbar Sparta sich zurückgehalten, trotz der argen Bedrängnis von Epidauros; man wollte Alkibiades keine Gelegenheit gewähren, solange er im Amte war, Athen wider seinen Willen zum Kriege zu zwingen. Erst nach dem Antritt der neuen Strategen, im Juli 418, rückte Agis mit der Gesamtmacht Spartas von Süden her durch Arkadien vor, von dem Aufgebot Tegeas und der übrigen Arkader, soweit sie auf seiner Seite standen, begleitet. Die übrigen Bundesgenossen Spartas, vor allem Korinth und die Böoter, sammelten ein starkes Heer in Phlius an der Nordgrenze von Argos. Die athenische Hilfe blieb aus; Elis und Mantinea dagegen sandten sofort ihr Aufgebot nach Argos und rückten mit den Argivern zusammen den Spartanern ins Zentrum von Arkadien entgegen, um ihnen den Weg nach Phlius zu verlegen. Aber Agis stellte durch einen geschickten Nachtmarsch die Vereinigung mit den Verbündeten her und ging sofort mit den Arkadern, Korinthern u.a. auf Gebirgspfaden unmittelbar gegen das Zentrum der argivischen Ebene und gegen die Stadt vor, während die Böoter, Megarer, Sikyonier weiter östlich die längere und bequemere Hauptstraße über Nemea einschlugen. Hier erwarteten sie die Argiver und ihre Bundesgenossen, die schleunigst aus Arkadien herbeigeeilt waren; die Folge war, daß diese am Fuß der Berge zwischen die beiden feindlichen Heere gerieten. So standen sich gewaltige Massen gegenüber, wie sie Griechenland seit den Perserkriegen nicht wieder zusammen gesehen hatte. Auf beiden Seiten war man in gehobener Stimmung; denn wenn die Feinde hoffen konnten, mit ihrer Übermacht die fast schon umzingelten Argiver zu erdrücken, so glaubten diese, das spartanische Heer, das zwischen ihnen und der Stadt stand, von beiden Seiten fassen und vernichten zu können. Aber zwei vornehme Argiver, der Feldherr [194] Thrasyllos und der spartanische Proxenos Alkiphron, teilten die Illusionen ihrer Truppen nicht und forderten, als schon die Schlacht beginnen sollte, eine Unterredung mit Agis. Der spartanische König empfand die schwere Gefahr, welche auch ein Sieg, wenn er blutig erkauft war, über Sparta bringen mußte, und mochte auch die Stellung seines Heeres für bedenklich halten; wie sein Vater Archidamos und wie Pleistoanax 446 scheute er vor der Verantwortung einer Entscheidungsschlacht zurück. Als die argivischen Unterhändler versprachen, Argos werde alle Differenzen einem Schiedsspruch unterwerfen und Frieden schließen, gewährte er einen Waffenstillstand auf vier Monate und führte sein Heer zurück, zur großen Entrüstung seiner eigenen Truppen und der Bundesgenossen. Aber auch in Argos war man empört über die Unterhändler, die ohne Auftrag gehandelt und, wie man meinte, dem Volk den schönsten Sieg geraubt hatten; Thrasyllos wurde verurteilt und rettete mit Mühe sein Leben. Und nun traf ein attisches Hilfskorps von 1000 Hopliten und 300 Reitern unter Laches und Nikostratos ein, das Athen trotz der jetzt herrschenden Strömung nicht hatte versagen können, als die Feinde argivisches Gebiet betreten hatten. Es war von Alkibiades als Gesandtem begleitet; und dieser nützte sofort die Situation aus. Argos sei zu nichts verpflichtet, ein Separatabkommen mit Sparta ohne Zuziehung der Bundesgenossen widerspreche überdies den Verträgen, die Gelegenheit sei so günstig wie möglich. Die Mantineer und Elier stimmten eifrig zu und beschlossen, sofort mit den Athenern in das Gebiet des benachbarten Orchomenos in Arkadien einzufallen. Die Argiver hatten doch Bedenken – auch hier gab es eine starke aristokratische Friedenspartei –; aber sie waren nicht mehr Herren der Situation und sind ihren Bundesgenossen alsbald gefolgt. Orchomenos war nur schwach befestigt und dem feindlichen Heere nicht gewachsen; es kapitulierte, erkannte die Suprematie von Mantinea an und lieferte zugleich die Geiseln aus Arkadien aus, die Sparta hier deponiert hatte. Die Elier forderten jetzt, man solle gegen Lepreon vorgehen, und als ihnen das nicht bewilligt wurde, gingen sie entrüstet nach Hause; die übrigen, Mantineer, Argiver, Athener, wandten sich gegen Tegea. Auch hier gab es seit alters eine antispartanisch-demokratische [195] Partei; man gab sich der Hoffnung hin, auch diese Stadt alsbald gewinnen zu können.

In Sparta war die Entrüstung groß über Agis, der die Feinde auf leere Versprechungen hin aus der Hand gelassen und den Staat gezwungen habe, den Feldzug zum zweiten Male zu beginnen. Mit Mühe gelang es ihm, seine Verurteilung noch zu suspendieren; aber man setzte ihm eine Kommission von zehn Männern zur Aufsicht, ohne deren Einwilligung er nichts unternehmen durfte. Auf die Kunde von dem bevorstehenden Angriff auf Tegea zogen die Spartaner schleunigst ins Feld, mit Aufgebot aller Kräfte. Nur ein Sechstel der Mannschaften, die ältesten und jüngsten Jahrgänge, blieb unter Pleistoanax zurück; mit den übrigen fiel Agis ins Gebiet von Mantinea ein, 7 Lochen Fußvolk aus Spartiaten und Periöken, zusammen etwa 3500 Mann, nebst 300 Mann Garde (ἱππῆς), dazu 600 Skiriten, 1000 Brasideer und Neodamoden und etwa 400 Reiter176. Die Kontingente der Tegeaten, Mainalier, Heräer konnte Agis an sich ziehen: die der übrigen Verbündeten, die vor kurzem erst nach Hause zurückgekehrt waren, sammelten sich in möglichster Eile bei Korinth. Ebenso sandte Athen weitere 1000 Mann177, und auch die Elier zogen wieder ins Feld; aber ehe diese Truppen herankommen konnten, war die Entscheidung gefallen. Die Verbündeten nahmen auf einer Höhe bei Mantinea Stellung; als aber Agis sie nicht angriff, sondern ruhig in der Ebene operierte, zwangen die kampflustigen Argiver, um nicht von neuem die Feinde sich entgehen zu lassen, am nächsten Tage die Feldherren, in Schlachtordnung in die Ebene vorzurücken. Da stellten die Spartaner sich schleunigst zum Kampf, auf dem linken Flügel, den Mantineern gegenüber, die Skiriten und Brasideer, im Zentrum, gegen die Argiver und ihre Untertanen, 7 spartanische Lochen unter Agis sowie die Heräer und Mainalier, auf dem rechten Flügel gegen die Athener die Tegeaten und wenige Spartaner, die Reiter auf den Spitzen der Flügel178. Beide Heere standen dicht gedrängt, auf engem Raum, das spartanische, stärker als das feindliche, meist [196] 8 Mann tief. Nach allgemein griechischer Kampfweise drängten beide Heere nach rechts, um die unbeschildete rechte Seite zu decken und den Gegner zu überflügeln. Während des Anmarsches aber ließ Agis die Skiriten und Brasideer sich halblinks wenden, um der Umklammerung durch die Mantineer zuvorzukommen; in die so entstehende Lücke sollten 2 Lochen vom rechten Flügel der Spartaner einrücken. Aber die Lochagen gehorchten nicht, und so wurde die spartanische Schlachtreihe zerrissen, ihr linker Flügel von den Mantineern und der argivischen Eliteschar von 1000 Mann geworfen und bis ans Lager verfolgt. Aber im Zentrum und auf dem rechten Flügel bewährte sich die Überlegenheit der spartanischen Taktik aufs glänzendste; die Feinde wagten meist kaum vor ihrem Anmarsch standzuhalten, die Argiver wurden zersprengt, die Athener umzingelt. Nur die Überlegenheit ihrer Reiterei rettete sie vor Vernichtung, und dann der Befehl des Agis, mit gesamter Macht dem linken Flügel zu Hilfe zu kommen. Da suchten auch hier die Feinde in eiliger Flucht ihr Heil. Eine Verfolgung widersprach den Satzungen der spartanischen Disziplin; aber während sie etwa 300 Mann verloren hatten, deckten 1100 Feinde das Schlachtfeld, darunter beide athenische Feldherren179 – die Opfer einer Politik, die sie zeitlebens als verderblich bekämpft hatten.

Die Schlacht bei Mantinea (August 418) hat den Makel getilgt, der seit Sphakteria auf Spartas Ehre haftete, und erwiesen, daß es noch immer im Felde unbesiegbar und der erste Militärstaat der Welt war. Agis entließ die Bundesgenossen und führte die Spartaner heim zur Feier der Karneen: aber größerer militärischer Operationen bedurfte es auch nicht mehr. Die Argiver mit den Athenern und Eliern machten noch einen Versuch, den Angriff auf Epidauros fortzusetzen, und verstärkten die Belagerungswerke. Als dann aber, etwa im November, Agis aufs neue gegen Argos ausrückte und zugleich Verhandlungen bot, gelangten die Aristokraten zu vollem Erfolg. Trotz der Opposition der Kriegspartei und des Alkibiades, der noch immer in Argos weilte, setzte ihr Führer Lichas, Sohn des [197] Arkesilaos, die Annahme der von Sparta proponierten Einigung durch. Die Gefangenen wurden ausgewechselt, die erbeuteten Geiseln sollten zurückgegeben, der Angriff gegen Epidauros eingestellt und die religiöse Differenz friedlich beigelegt werden. Wollten die Athener nicht freiwillig abziehen, so würden Argos und Sparta sie gemeinsam angreifen. Im übrigen sollten alle Städte im Peloponnes, groß und klein, frei sein nach altem Herkommen; gegen jeden Feind aber werde man gemeinsam vorgehen. Bald darauf wurde der Vertrag mit Elis, Mantinea und Athen gekündigt und statt dessen ein Friedens- und Freundschaftsbündnis zwischen Sparta und Argos auf 50 Jahre geschlossen, in dem beide Staaten samt ihren Bundesgenossen sich zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Auch mit den Chalkidiern in Thrakien wurde ein Bündnis geschlossen und der Versuch gemacht, Perdikkas aufs neue von Athen abzuziehen. Den Athenern blieb nichts übrig, als die Befestigungswerke bei Epidauros zu räumen. Da mußte auch Mantinea sich fügen, seine Untertanen freigeben, mit Sparta einen Frieden auf 30 Jahre schließen (Xen. Hell. V, 2, 2) und in den peloponnesischen Bund zurücktreten. In Argos erreichten die Aristokraten ihr letztes Ziel; sie stürzten die Demokratie und ordneten die Verfassung oligarchisch nach Spartas Wünschen. Ähnliche Maßnahmen wurden in Sikyon und Achaia durchgeführt. Der Sonderbund war zersprengt, Athens Einfluß im Peloponnes vernichtet; auch die Korinther hatten sich überzeugt, daß, so wenig Spartas Politik ihren Wünschen entsprochen hatte, es doch für sie kein Heil geben könne als Anschluß an Sparta. Einzig Elis verharrte in seiner ablehnenden Haltung, ohne, so viel wir wissen, von Sparta behelligt zu werden (Bd. V, 10). Sonst aber lag die ganze Halbinsel ihm zu Füßen, wie nie zuvor, selbst Argos, der alte, bisher niemals ganz bewältigte Rivale. Nur um so deutlicher tritt zutage, wie tief der unglückliche Ausgang des Archidamischen Krieges auf die Peloponnesier gewirkt hat; wenn man selbst nach solchen Erfolgen trotz aller Reizungen nicht zum Kriege gegen Athen schritt, ja nicht einmal den Versuch machte, Pylos wiederzuerobern, so mußte man fest überzeugt sein, daß man nicht imstande sei, Athen zu bewältigen. Was auch Alkibiades und Hyperbolos sagen mochten, im [198] Peloponnes und vollends in Sparta dachte niemand daran, Athen zu bekriegen; man war froh, wenn man von ihm nicht behelligt wurde und die Verhältnisse daheim nach eigenem Gutdünken einrichten konnte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 192-199.
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