Zustände in Athen. Ächtung des Protagoras

[199] Stimmungsbilder aus Athen, wie sie für die letzten Jahre des archidamischen Krieges Aristophanes' Komödien gewähren, besitzen wir aus den Zeiten des Sonderbundskrieges nicht. Erst im Jahre 414 geben Aristophanes' Vögel trotz ihres unpolitischen Themas in dem unternehmenden Athener, der, unzufrieden mit der Lage auf Erden, sich in der Luft mit Hilfe der Vögel ein Wolkenkuckucksheim gründet, die Götter aushungert und spielend die Herrschaft über die ganze Welt gewinnt, die treffendste Charakteristik des damaligen Athens und seines ziellosen Treibens, wo ein Projekt das andere jagt, je toller, desto besser, wo man in blindem Vertrauen auf die Gunst der Götter, an die man im Grunde doch nicht mehr glaubt, leichten Herzens nach der Weltherrschaft greift und darüber das Nächstliegende vernachlässigt und den festen Boden völlig unter den Füßen verliert. Je schärfer die Gegensätze immer aufs neue hervorbrechen, je schwankender die Politik wird, im Innern wie nach außen, desto heftiger und rücksichtsloser wird der Kampf geführt. Jahr auf Jahr folgten sich auf der komischen Bühne die Angriffe auf Hyperbolos (s.S. 97); Alkibiades' gewissenloses Treiben, seine wilden Orgien, bei denen alles Heilige verspottet wurde, stellte Eupolis mit rücksichtsloser Schärfe in den Bapten dar (um 416), wo er und seine Genossen als durch die Taufe geweihte Diener der thrakischen Kotytto und ihres unzüchtigen Kults erschienen. Daneben zeichnete er in den Demen (s.S. 148) die Verworfenheit der jetzigen Zustände im Gegensatz zu der herrlichen Zeit, da noch die großen Männer der früheren Generationen das Volk regierten. Nur um so bezeichnender ist es, daß die Konservativen wie Nikias und die Oligarchen wie Antiphon und Phrynichos völlig verschont werden oder höchstens ganz nebenbei einen kleinen Hieb erhalten.

[199] Für die Finanzen konnte in den Wirren der Friedensjahre nicht viel geschehen, so notwendig es gewesen wäre. Die Einnahmen waren zwar durch die Erhöhung der Tribute bedeutend gesteigert, aber die Wiederherstellung des Kriegsmaterials und ähnliche Aufgaben erforderten bedeutende Summen. So kann der Schatz auf der Burg nicht bedeutend gewachsen sein, und schon im Jahre 418 mußte man ihm für den Krieg mit Argos (und in Thrakien) aufs neue 55 Talente entnehmen180. An eine Wiederaufnahme der großen künstlerischen Arbeiten der perikleischen Zeit war nicht zu denken, wenn wir auch gelegentlich von neuen Tempeln und Götterbildern erfahren181. Dagegen entwickelte sich eine rege Tätigkeit auf religiösem Gebiete. Je mehr der alte Glaube schwand, desto eifriger wirkten die Frommen beider Parteien für die Beobachtung und Vermehrung der Formen des Kultus; und die aufgeklärten Politiker hielten es für die Pflicht des Staates, ihnen darin beizustehen. Hierher gehört die Einführung des Asklepioskultes durch Sophokles im Jahre 420 (Bd. IV 1, 771) und die Einführung eines penteterischen Hephästosfestes mit Spielen und Fackelprozession im Jahre 421/0182. Eine Anzahl verfallener und halbverschollener Heiligtümer wurde neu eingefriedet183. Vor allem aber suchte man die Anerkennung der eleusinischen Göttinnen als allgemein hellenischer Gottheiten zu erreichen und damit zugleich Athens nationale Stellung zu heben. Die freiwilligen Abgaben von der Ernte, welche man bisher nach Eleusis geliefert hatte und die oft dürftig genug eingingen, wurden für die Athener und die Bündner obligatorisch gemacht (1/6 % von der Gerste, 1/12 % vom Weizen) und alle Hellenen freundlichst [200] aufgefordert, die gleiche Steuer zu leisten184. Die Aufforderung, die kurz nach der Niederlage von Mantinea erfolgt sein wird und diese vermutlich durch ein Werk des Friedens ausgleichen sollte, wird Erfolg so wenig gehabt haben, wie einst Perikles mit seinem Nationalkongreß zur Feier der Beendigung des Perserkrieges (Bd. IV 1, 658). – Endlich raffte man sich auf zu einem Hauptschlag gegen das Gift der modernen Bildung. Auf Antrag des Pythodoros, Sohnes des Polyzelos, später eines Führers der Oligarchen, wurde Protagoras wegen seiner Schrift über die Götter (Bd. IV 1, 902) als offenkundiger Atheist zur Verantwortung gezogen, die Exemplare der Schrift, deren man habhaft werden konnte, auf dem Markte verbrannt, er selbst nach dem Muster des Diagoras geächtet. Der greise Lehrer hat sich dem drohenden Schicksal durch die Flucht entzogen, ist aber auf der Fahrt nach Sizilien im Schiffbruch umgekommen185.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 199-201.
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