Perikles' Friedenspolitik und die Opposition

[655] Das stolze politische Programm, mit dem im Jahr 461 die radikale Demokratie in Athen die Leitung des Staats übernahm, hatte nach dem ersten kühnen und erfolgverheißenden Anlauf sich mehr und mehr als undurchführbar erwiesen; schließlich mußte es aufgegeben werden. Nicht an der Überlegenheit mächtiger Gegner war man gescheitert, sondern an maßloser Überschätzung der eigenen Kraft. Was hätte kommen können, wenn die Gegner nach der Niederlage in Ägypten sich zu gemeinsamem energischem Angriff verbanden, statt sich isoliert auf die Abwehr zu beschränken, vermochte niemand zu sagen. Auch so schon waren die Verluste schwer genug. Obwohl es sich im Feld gegen Persien rühmlich behauptete, hatte Athen erst auf Ägypten und Cypern verzichtet und mit dem Großkönig ein wenig ruhmvolles Abkommen geschlossen, dann seine in hartem Kampf gewonnenen festländischen Besitzungen in Griechenland fast ohne Schwertstreich geräumt: Ägina und Naupaktos waren die einzigen Positionen, die es als Gewinn eines langjährigen blutigen Krieges behauptete. Obwohl die Herrschaft über das Meer und das Bundesgebiet völlig unangetastet geblieben war, stand doch Athen nach den Friedensschlüssen von 448 und 446 viel ungünstiger da als vor Beginn des Kriegs, nach der Eurymedonschlacht. Seine Offensive war vollständig und für alle absehbare Zeit gescheitert, der Dualismus in Griechenland, dem man hatte ein Ende machen wollen, aufs neue fest begründet.

Es war der leitende Staatsmann der Demokratie selbst, der die entscheidende Wendung herbeigeführt hatte. In klarer Erkenntnis der Lage hatte er das Steuer herumgeworfen, da es noch Zeit war, und das Staatsschiff in die Friedensströmung gelenkt. [655] Dadurch gab er freilich der Opposition neue Nahrung. Nach der Schlacht bei Tanagra hatten angesichts der großen Aufgaben des Staats die Parteien sich versöhnt; Kimon war zurückberufen und hatte mit Perikles zusammen gewirkt bei den Verhandlungen mit Sparta, bei dem Feldzug nach Cypern. Jetzt aber schlossen sich alle Gegner der bestehenden Ordnung gegen Perikles zusammen, die Anhänger der 461 gestürzten gemäßigten Verfassung, die sogenannten Oligarchen, der Anhang Kimons, und ehrgeizige Rivalen, denen Perikles den Weg versperrte. An ihre Spitze trat Kimons Schwiegersohn Thukydides, der Sohn des Melesias. Freilich, die gefallene Entscheidung rückgängig zu machen, konnte niemandem in den Sinn kommen; gerade die konservative Partei, welche Kimons Namen auf ihre Fahne schrieb, konnte das Abkommen mit Sparta, durch das Perikles den Vernichtungskampf vermieden hatte, am wenigsten verwerfen. Aber wenn man die Stimmung der Masse ausbeutete, die sich in ihren kühnen Hoffnungen getäuscht sah, durfte man hoffen, wenigstens den Mann loszuwerden, der den Pöbel großgezogen hatte und jetzt, nach dem Tod so vieler ausgezeichneter Männer: des Kimon, Myronides, Leokrates, Tolmides, wie ein Tyrann, wie ein zweiter Pisistratos801 – auch in Gestalt und Sprache glaubte man die Ähnlichkeit zu erkennen – im Staat schaltete. Wie stark die Gegenströmung war, zeigt die Verurteilung des Kallias wegen des in Susa geschlossenen Abkommens (o. S. 581); nach echt demokratischer Weise machte das souveräne Volk die Staatsmänner und Unterhändler verantwortlich für das Resultat, das ihm nicht gefiel, als ob es nicht selbst durch seine verkehrte Politik das Ergebnis herbeigeführt und als ob etwas Besseres zu erreichen überhaupt möglich gewesen wäre. Auch der Ostrakismos des Damonides, des vertrauten Ratgebers des Perikles (o. S. 532), wird dieser Zeit angehören802.

[656] Aber Perikles' Stellung war gefestigter als ehemals die des Themistokles, in dessen Bahnen er jetzt eingelenkt war. Für Themistokles hatten immer die großen Fragen der auswärtigen Politik im Mittelpunkt gestanden; Perikles dagegen ist mehr einem der großen englischen Parlamentarier zu vergleichen. Auch als Feldherr hat er sich seinen Aufgaben gewachsen gezeigt; aber emporgekommen war er als ausgesprochener Parteimann, als Führer der Radikalen im Kampf um die Erweiterung der Volksrechte. In die höchsten Aufgaben des Staatsmannes, die sichere Lösung der großen Fragen der äußeren Politik, von denen die Existenz des Staats abhängt und durch die zu inneren Reformen überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen wird, ist Perikles erst allmählich hineingewachsen. Ohne Zweifel hat er auch 461 die Verhältnisse nicht richtig überschaut und trägt für die verfehlte Politik der nächsten Jahre einen Teil der Verantwortung. Aber als er vom Parteihaupt zum Regenten des Staats emporgestiegen war und die volle Verantwortlichkeit empfand, die auf ihm ruhte, da hat er erkannt, auf welchen Irrweg man sich verloren hatte, und nicht gezögert, mit voller Energie die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Um so mehr mußte er allerdings bestrebt sein, seine Stellung im Inneren zu stärken und durch weiteres Entgegenkommen die Massen dauernd an sich zu fesseln. Er war durch seine Vergangenheit an das demokratische Programm gebunden: wie sehr er auch jetzt noch die Politik vom Parteistandpunkt aus betrachtete, beweist das Bastardgesetz von 451 (u. S. 665). Aber den festen Halt beim Volk hat er sich gesichert. Die Radikalen wußten, daß sie nur durch ihn zum Sieg gelangt waren; sie durften ihn nicht fallen lassen, mochten sie auch über seine Friedenspolitik murren, wollten sie nicht selbst die Herrschaft verlieren [657] und damit all die Vorteile, die er ihnen verschafft hatte und weiter in Aussicht stellte.

Nicht als Demütigung erschien Perikles der Friede mit Persien, sondern als ruhmvoller Abschluß einer großen Zeit. Die Aufgabe, von der Sparta zurückgetreten war, hatte Athen allein zu Ende geführt, den kleinasiatischen Griechen die Freiheit dauernd erstritten. Was kam darauf an, daß allerdings nicht alles erreicht war, was man in überkühnen Hoffnungen einmal erstrebt hatte? Jetzt galt es, offen auszusprechen, daß eine neue Ära, der Politik begonnen hatte: der Krieg war zu Ende, die Friedenszeit brach an. Athens Pflicht war, auch hier die Führung zu behaupten bei den großen Aufgaben, die nur im Frieden zu lösen waren. Auf Perikles' Antrag schickten die Athener Gesandte, um alle griechischen Staaten, groß und klein, zu einem Kongreß zu laden, der über die Wiederherstellung der von den Persern verbrannten Tempel, über die den Göttern für den Sieg schuldigen Opfer und zugleich über die Pazifikation des Meers und die Beseitigung der Piraterie beraten sollte803. Es war die Aufforderung an ganz Griechenland, offiziell anzuerkennen, daß Athen seine Aufgabe erfüllt habe. Einen Erfolg konnte sie nicht haben; die Peloponnesier lehnten die Einladung ab. Schwerlich hat Perikles einen anderen Ausgang erwartet. Aber er war auch darin ein echter Athener, daß er derartige Demonstrationen liebte, in denen Athen selbst aussprach, was der Neid der übrigen Griechen ihm nicht zubilligen mochte. Und diese Demonstration, in der das attische Volk den Gedanken seines Staatsmanns zustimmte, hatte in der Tat politische Bedeutung den Anklagen gegenüber, welche in Athen selbst gegen die Friedenspolitik erhoben wurden. Wenn die übrigen Griechen sich fernhielten, so lag für Athen kein Grund vor, zu unterlassen, was es für richtig hielt. Sofort nach dem Frieden mit [658] Persien wurde die Herstellung der Tempel und die Errichtung der Weihdenkmäler in weit glänzenderen Dimensionen in Angriff genommen, als es Kimon auf der Höhe seiner Macht hatte planen können.

Kurze Zeit darauf erfolgte der Verlust des griechischen Festlandes. Aufs neue zeigte sich, daß Athen sich zuviel zugetraut hatte. Aber auch hier galt es, den Mut nicht sinken zu lassen. Hatte Athen den Kampf zu Lande nicht aufnehmen können, so hatten die Gegner ebensowenig gewagt, Athen selbst anzugreifen. Und die Hauptsache hatten sie ihm doch lassen müssen, die unumschränkte Seeherrschaft. Innerhalb seines Bundesgebiets war Athens alleiniges Recht jetzt allgemein anerkannt, stillschweigend von Persien, auch im Wortlaut des Vertrags von Sparta und den Peloponnesiern. Konnte man zu Lande nicht aggressiv vorgehen, so war doch Athen, wenn es sich auf das jetzt Behauptete beschränkte, durch seine Machtmittel, seine Flotte und seine Mauern für jeden Gegner unantastbar. Wenn es verstand, die Friedenszeit auszunützen, seinen Besitz auszubauen, Finanzen und Wehrkraft in gutem Stand zu halten, Handel und Wohlstand stetig weiter zu fördern, welch gewaltiger Aufschwung, welche Erweiterung wenn auch nicht seines Gebiets, so doch seiner Machtstellung stand da in Aussicht! Wohl war zu erwarten, daß die Gegner, eben durch diese Entwicklung gedrängt, noch einmal versuchen würden, Athen in den Weg zu treten; aber mit voller Zuversicht durfte man vertrauen, daß, wenn man ihnen keine Blößen gab und sich nicht wie im letzten Krieg auf Unternehmungen einließ, die über die eigenen Kräfte hinausgingen, man ihnen vollauf gewachsen sein und sich auf die Dauer als den Stärkeren erweisen werde.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 655-659.
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