Durchführung des demokratischen Programms. Die Bürgerrechtspolitik

[659] Die Ergänzung der Friedenspolitik des Perikles war der innere Ausbau der attischen Demokratie. Sie war ihm zunächst durch die Notwendigkeit vorgeschrieben, sich den Massen immer aufs neue als den Mann zu erweisen, der allein ihre Wünsche zu erfüllen vermochte. Aber es war zugleich das in seiner Brust lebende politische [659] Ideal, das er zur Wahrheit zu machen versuchte. Athen sollte der Welt ein Schauspiel zeigen, wie sie noch keines gesehen hatte: ein freies Volk, das keinen Herrn über sich erkennt als die Gesetze und das ewige, in jeder Menschenbrust wohnende göttliche Recht, und das daher jedem einzelnen Bürger und dem Staat als Ganzem eine allseitige Entfaltung seines Wesens und seiner Kräfte ermöglicht wie kein anderes Gemeinwesen. Wenn es von allen Bürgern die volle Einsetzung ihrer Persönlichkeit im Krieg fordert, so gewährt es ihnen dafür auch die freieste Bewegung und die volle Teilnahme am Regiment. Dem Ärmeren wird das durch die Diäten ermöglicht, die ihm der Staat zahlt; der Reichere aber wird nicht unterdrückt, er mag seinen Reichtum vollauf genießen, seine Mitbürger werden ihn nicht beneiden, sondern stolz sein auf den Glanz, den er unter ihnen entfaltet. Aber er soll dem Staat auch mit seinem Vermögen dienen und freudig die Lasten auf sich nehmen, welche das Eintreten einer leistungsfähigen Persönlichkeit erfordern: die Ausrüstung und Instandhaltung der Trieren, die Ausstattung der Chöre und des Fackelwettlaufs, die Speisung der Phylen; in Notlagen fällt auf ihn außerdem sein Anteil an der Vermögenssteuer, der Eisphora. Das ist keine Bedrückung der Reichen, sondern der Entgelt dafür, daß der Staat sie in ihrem Besitz schützt und ihnen ermöglicht, ihn zu mehren. Jetzt, wo der Krieg zu Ende ist, soll Athen zeigen, daß die freie Volksherrschaft auch in den Künsten des Friedens allen anderen Verfassungen überlegen ist. Es soll sich schmücken mit allen Schöpfungen der Kunst, mit herrlichen Bauten und Götterbildern, es soll Feste feiern, zahlreicher und glänzender und vielseitiger als irgendeine andere Griechenstadt, es soll alles an sich ziehen und pflegen, was ganz Hellas an materiellen und geistigen Genüssen, an Schönem und Großem und Gutem, zu erzeugen vermag. Das alles soll Gemeingut aller Bürger werden, aber auch, im Gegensatz zu der Exklusivität Spartas, des Vertreters der absterbenden alten Kultur, jedem Fremden zugänglich sein, der Athen aufsucht, so gut wie seit alters die Gnadengaben der Göttinnen von Eleusis. So wird Pindars Wort von dem glänzenden und veilchenumkränzten und im Sange gepriesenen Athen zur Wahrheit werden; es wird die [660] gesamte hellenische Kultur in sich zusammenfassen und in den Dienst des modernen athenischen Staatsstellen und so das Vorbild und die Erziehungsstätte von ganz Hellas werden. Durch seinen freien Staat, durch die freie Hingabe des Einzelnen an die Gesamtheit steht der Grieche hoch über allen anderen Völkern der Erde. Aber voll erreichbar ist dies Ideal nur in dem allein wahrhaft freien Gemeinwesen der Demokratie; nur sie vermag dem Staatsbegriff seinen vollen Inhalt zu geben und ihn zum höchsten Gut jedes einzelnen seiner Bürger zu erheben, während jede andere Verfassung einen Teil der Bürgerschaft vom staatlichen Leben ausschließt. Indem Athen das Ideal des Menschen verwirklicht, erhebt es sich zu einer höheren Humanität, zu einer edleren und maßvolleren, wahrhaft freiheitlichen Auffassung und Behandlung des menschlichen und des staatlichen Lebens, als es die Engherzigkeit und Kleinlichkeit irgendeines anderen Staatswesens gestattet804.

Aber dieses Ideal hat eine sehr materielle Kehrseite. Die Gleichberechtigung aller Bürger bedeutet zugleich Anteil an allen Vorteilen, welche die Machtstellung des Staats gewährt; und wenn die Verfassung jetzt so eingerichtet war, daß der Bürger für die Ausübung staatlicher Funktionen eine Entschädigung erhielt, so erhebt sich nur um so lauter die Forderung, die Regierung so zu führen, daß sie der Menge direkt und indirekt Gewinn bringt. Die alte Anschauung, daß der Besitz und Erwerb des Staats den Vollbürgern zugute kommen soll, daß z.B. die Überschüsse der Einnahmen verteilt werden und daß das Ehrenamt allerlei Emolumente abwirft, wie in der alten Zeit die Gerichtsgebühren, den Ratswein, die Teilnahme am Staatsmahl, wird jetzt auf die gesamte Bürgerschaft übertragen, nur in einer dem Wesen der Großmacht angepaßten Form. Auf mehr als 20000 berechnet eine [661] oligarchische Tendenzschrift (Arist. Pol. Ath. 24) die Zahl der Bürger, die in Friedenszeiten alljährlich vom Staat Einnahmen bezogen, als Richter, Ratsherrn, Beamte des Staats und des Reichs, als Krieger und Flottenmannschaften, als Besatzungen in den Städten. Dazu kamen die Spenden und Geldverteilungen bei den Festen, die Arbeiten für die Staatsbauten, die Versorgung zahlreicher Bürger durch überseeische Landanweisungen und Kolonien, und nicht am wenigsten der mittelbar aus der Machtstellung Athens und der Herrschaft über den Bund fließende Gewinn – darunter namentlich die Folgen des Gerichtszwangs, der nicht nur ununterbrochen zahlreiche Bündner nach Athen führte und dort längere Zeit zu leben zwang, sondern auch jedem Bundesgenossen im Geschäftsverkehr und in der eigenen Heimat Rücksichten gegen jeden athenischen Bürger auferlegte, da dieser einmal über ihn zu Gericht sitzen konnte (Pol. Ath. 1. 16ff.). Perikles hat diese Entwicklung nach Kräften gefördert; wenn er im Moment des Friedensschlusses die großen Bauten auf der Burg, in der Unterstadt und in Eleusis in Angriff nahm, so sollten diese ausgesprochenermaßen zugleich der arbeitenden Bevölkerung eine einträgliche Beschäftigung auf Staatskosten gewähren, und wenn das politische Interesse die Anlage zahlreicher Kolonien im Reichsgebiet forderte, so dienten dieselben zugleich einer fortwährenden Ausstattung der ärmeren Bevölkerung mit Grundbesitz.

Durch diese Entwicklung wächst das attische Bürgerrecht gewaltig an Wert, gerade unter der Herrschaft der radikalen Demokratie. Athen konnte die Fremden nicht entbehren; auf den Metöken und den ihnen rechtlich gleichgestellten Freigelassenen und ihren Nachkommen beruhte zum großen Teil die Leistungsfähigkeit und der Wohlstand des Staats. Sie wurden denn auch zu den Steuern und manchen Liturgien, zum Ruderdienst und alsbald auch zum Hoplitendienst herangezogen. Privatrechtlich und gesellschaftlich standen sie, wie schon erwähnt, wenig hinter den Bürgern zurück; an den Festen und Prozessionen hatten sie teil inmitten des Volks. Auch den Bundesgenossen gegenüber wurden sie bevorzugt: im Jahr 446 wird der wiederunterworfenen Stadt Chalkis unter anderem auferlegt, daß die hier ansässigen Metöken, [662] welche nach Athen steuern oder von Athen Steuerfreiheit erhalten haben, zu den chalkidischen Steuern nicht herangezogen werden dürfen. Personalprivilegien, Recht des Erwerbs von Grundbesitz, Steuerfreiheit u.a. waren für sie ziemlich leicht zu erlangen. Aber das attische Bürgerrecht hat nur in sehr seltenen Fällen ein Metöke erhalten, so sehr die Verhältnisse auf eine Vermischung der ärmeren Bürger mit den Metöken und den Kindern der Freigelassenen hindrängten, und so unmöglich es war, tatsächlich die Grenze aufrechtzuerhalten und eine wirksame Kontrolle zu üben. Nicht anders stand es mit den Bundesgenossen. Privatrechtlich waren auch sie den attischen Bürgern gleichgestellt, im Bundesgebiet die Rechtseinheit in immer weiterem Umfang durchgeführt. Auch verlangte Athen von den Städten die Teilnahme an seinen Festen, die Entsendung von Deputationen und Opfern zu den Panathenäen und Dionysien. Es schien naheliegend genug, daß Athen weiterging von der privaten zur politischen Gleichberechtigung, zumal wo die Erfahrungen der Kriegsjahre gezeigt hatten, daß der wunde Punkt der Machtstellung Athens die für seine großen Aufgaben in keiner Weise ausreichende Bürgerzahl war. Roms gewaltige Erfolge beruhen in erster Linie auf seiner großartigen Bürgerrechtspolitik; es hat nie Bedenken getragen, fremde Gemeinden, ja eben erst besiegte Feinde in die Bürgerschaft aufzunehmen so gut wie die freigelassenen Knechte, und dadurch den Grund zur Erringung der Herrschaft über Italien gelegt. Auch in Athen hatte Kleisthenes den Bestand der Bürgerschaft durch Annahme der ansässigen Nichtbürger erweitert und gekräftigt. Wenn Athen jetzt in gleicher Weise vorging, die Metöken zum Bürgerrecht zuließ und die bundesgenössischen Gemeinden schrittweise, beginnend mit den nächsten und den zuverlässigsten, in den attischen Staatsverband aufnahm und ihre Bewohner den Bürgern gleichstellte, dann ließ sich der Partikularismus überwinden und das Bundesgebiet in Wahrheit in ein großes Reich verwandeln, das allen Stürmen trotzen und aus dem gemeinsamen Kampf für ein allen gemeinsames Ziel nur neue Kraft schöpfen konnte; dann entstand inmitten der Mittelmeerwelt eine festgeschlossene hellenische Macht, der keine Aufgabe [663] zu groß war, die auch den Siegespreis erringen konnte, auf den bei der jetzigen Organisation ihrer Machtmittel die athenische Demokratie nach vergeblichem Ringen hatte verzichten müssen. Fremd sind derartige Gedanken auch Athen nicht gewesen; in der Notlage nach dem Scheitern des sizilischen Unternehmens werden sie bei Aristophanes ausgesprochen: »Nehmt in die Wolle (d.i. die Bürgerschaft) hinein die Metöken und jeden Fremden, der Euch Freund ist, und auch die Staatsschuldner; und weiter macht Euch klar, daß die Städte, die Kolonien unseres Landes sind (d.i. Ionien und die Inseln), isoliert daliegen wie Wollflocken; nehmt sie also und bringt sie hier zusammen auf einen Haufen und macht aus dem allem ein großes Knäuel und webt daraus dem Demos einen Mantel« (Lysistrate 579ff.). Aber erst als es viel zu spät war, in der letzten äußersten Not, hat Athen einen Schritt in dieser Richtung getan: als nach der Niederlage von Ägospotamoi der samische Demos bei Athen aushielt, hat Athen den Samiern insgesamt das Bürgerrecht verliehen. Bis dahin wurde streng an dem Grundsatz festgehalten, daß attischer Bürger nur war, wer von attischen Bürgern abstammte. Selbst die Bewohner der den Megarern und Böotern abgenommenen Grenzgebiete, Salamis, Oropos, der Kastelle Panakton und Eleutherä waren nicht Bürger, sondern Untertanen (o. S. 447, 3), entweder wie die Salaminier Pächter und Tagelöhner auf den attischen Bürgern zugewiesenen Gütern oder zinspflichtige Bauern, wie wahrscheinlich die Oropier, die daher immer bestrebt waren, die Fremdherrschaft abzuschütteln und den Anschluß an Böotien wiederzugewinnen. Eine liberale Bürgerrechtspolitik ist in Athen gerade durch die radikale Demokratie ebenso unmöglich gemacht, wie sie es in Rom von dem Moment an wurde, da Gaius Gracchus die Demokratie begründete. Mochte Athen noch so geringschätzig auf Sparta mit seiner Ausweisung der Fremden, seiner Knechtung der Periöken und Heloten herabsehen: auf diesem Gebiet war seine Politik ebenso engherzig und zuletzt ebenso selbstmörderisch wie die des Rivalen. Über die engen Anschauungen des Stadtstaats vermochte sich im letzten Grunde keine der beiden Gemeinden zu erheben, so dringend die politische Lage zu einem anderen Verhalten mahnte.

[664] Die Führung der Bürgerlisten war Aufgabe der Demen; der Sohn eines attischen Bürgers wurde, wenn er achtzehn Jahre alt geworden war und nun als Ephebe seiner militärischen Dienstpflicht genügen mußte, nach Prüfung seiner Ansprüche durch die Demengenossen in die Bürgerliste eingetragen. Wollte er sich einer gegen ihn ausfallenden Entscheidung nicht fügen, so konnte er an das Gericht appellieren; wenn dies ihn verurteilte, wurde er als Sklave verkauft. Bisher hatte man, den Anschauungen des Mittelalters entsprechend, auch die Ehe mit einer auswärtigen Frau als legitim anerkannt und ihre Kinder, wenn man sie auch als Halbbürtige (νόϑοι) scheel ansah, zum Bürgerrecht zugelassen. Namentlich unter dem Adel waren solche Ehen ganz gewöhnlich, viele der hervorragendsten Staatsmänner Athens, Kleisthenes, Themistokles, Kimon, Kimons Söhne erster Ehe, waren Kinder von Ausländerinnen. Aber die radikale Demokratie dachte exklusiver: sie wollte als Bürger nur an erkennen, wer von Vater- und Mutterseite attischen Bluts war. Als Perikles sich anschickte, zur Friedenspolitik überzugehen und sich gegen den Ansturm der Gegner rüsten mußte, hat er auch diese Forderung erfüllt. Im Jahre 451 brachte er ein Gesetz ein, welches für die Zukunft die Söhne einer fremden Mutter als Bastarde vom Bürgerrecht ausschloß – nur mit den Euböern hat man, vielleicht erst etwas später, eine legitime Ehe zugelassen. Populär war die Maßregel in hohem Grad, die die Zahl der Konkurrenten so wesentlich beschränkte und dem Vollbürger seinen Anteil an den Emolumenten wahrte, die der Staat bot. Als im Jahre 444805 der libysche Häuptling Psammetich (u. S. 711, 1) den Athenern eine große Weizenladung schickte, knüpften sich an die Verteilung zahlreiche Bürgerrechtsprozesse und viele Verurteilungen. Daß Perikles imstande war, ein solches Gesetz zu erlassen, zumal in einer Zeit, wo die schweren Verluste des Kriegs viel eher eine Vermehrung der Bürgerzahl geboten hätten, ist ein drastischer Beleg dafür, wie sehr auch damals noch in ihm das Parteihaupt den Staatsmann überwog806.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 659-665.
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