Der Kampf um die moderne Bildung

[136] Noch weniger als in der Politik sind es auf geistigem Gebiete geschlossene Parteien, die festgefügt den Kampf miteinander ausfechten; [136] und darum ist eine endgültige Entscheidung hier noch weniger erreichbar als dort. Alter und Jugend, Bauern und Städter, Aristokraten und Demokraten, Altgläubige und Aufklärer, Individuen und Masse, das sind die dominierenden Formen der Gegensätze; aber sie fließen keineswegs zusammen. So wahlverwandt in Politik, Sitte, Religion, Kunst auf der einen Seite die konservativen, rückwärtsgewandten Anschauungen, auf der anderen die fortschrittlichen und radikalen erscheinen, die tatsächliche Gruppierung war eher die entgegengesetzte; und überall kreuzen sich die vorherrschenden Stimmungen einer Gruppe mit der persönlichen Stellung des einzelnen, mag sie nun auf der Geburt, auf Überzeugung, auf materiellen Erwägungen beruhen. Die Demokratie, deren politischer Radikalismus nichts anderes ist als das Streben, die Beute festzuhalten und vollends zu genießen, ist in allen religiösen und kulturellen Fragen durchaus konservativ, ja reaktionär gesinnt. Dem Sophokles erteilt sie wieder und wieder den Preis, den sie Euripides versagt. Perikles, der vornehme Mann, stand in naher Fühlung mit der Aufklärung; eben deshalb war er nicht mehr der Mann nach dem Herzen der Masse, denn das war undemokratisch so gut wie die dauernde Behauptung des Regiments. Weit besser behagte ihr der fromme Nikias, der tagtäglich opferte, sorgfältig alle Vorzeichen beobachtete und immer von Wahrsagern umgeben war149. Vollends Kleon war so gläubig und abergläubisch wie nur irgendein Athener; wie seinerzeit die Pisistratiden, operierte er bei jedem Unternehmen mit Orakeln und Schicksalssprüchen alter Seher, welche in vieldeutigen Worten die Mittel angaben, durch die Athen groß und glücklich werden könne150. In der Tat nahm die Betätigung der Frömmigkeit in Athen ständig zu. Fremde Kulte und mystischer Schwindel, wie die Dienste des Adonis, der Bendis, des Sabazios – von Aristophanes in den Horen und sonst verspottet –, fanden immer mehr Anhänger. Im Winter 426/5 haben die [137] Athener auf Grund einer Weissagung auf Delos ein alle vier Jahre zu feierndes Fest gestiftet, aus dem Boden der heiligen Insel alle Leichen exhumiert und nach dem benachbarten Rheneia gebracht (wie früher schon Pisistratos), und verordnet, daß fortan alle Wöchnerinnen und alle Sterbenden hierher überführt werden sollten. Als das noch nichts half, wurden im Sommer 422 alle Einwohner als unrein verjagt. Trotzdem erfolgte freilich die Niederlage von Amphipolis, und auch der delphische Gott sprach seine Mißbilligung aus: so wurden die Delier im Sommer 421 zurückgerufen151. – Auch für die Aufrechterhaltung der alten Sitte ist Kleon eingetreten: das unzüchtige Treiben der modernen Jugend verfolgte er vor Gericht, auf Grund eines Gesetzes Solons, das den, der sich prostituiert hatte, von den bürgerlichen Ehren ausschloß152. Vor allem aber eiferte er gegen die moderne Kunst des Argumentierens und Disputierens. Durch sie wird das Volk, das den spitzfindigen Reden mit Vergnügen zuhört, lediglich in die Irre geführt. Statt sich lebendig im Bewußtsein zu halten, daß es sich bei den politischen Diskussionen um Fragen handelt, die unmittelbar die Existenz des Staates und der Demokratie betreffen und über die das Volk nach seinen wahren Interessen entscheiden soll, gewöhnt es sich, sie als einen interessanten Ohrenschmaus zu betrachten, und folgt dem gewandtesten Redner, der durch überraschende Argumente am meisten zu blenden versteht, als handle es sich um den Preis bei einer agonistischen Schaustellung wie im Drama oder bei den Deklamationen der Weisheitslehrer. Wer solches treibt, will entweder seine geistige Überlegenheit beweisen und dadurch einen Einfluß gewinnen, der ihm nicht zukommt, oder er ist direkt bestochen; auf alle Fälle aber hat er ungerechte und volksfeindliche Hintergedanken und wird den Staat, wenn er ihm folgt, ins Verderben stürzen. Statt dessen soll man sich dem bestehenden Recht unterordnen, durch das die Stadt groß geworden ist, auch wenn es hier und da mangelhaft sein sollte, an dem einmal Beschlossenen unerschütterlich festhalten und sich nicht durch den Eindruck der geistigen Überlegenheit der antidemokratischen Redner einschüchtern lassen.[138] »Unbildung verbunden mit Selbstzucht ist heilsamer als Gescheitheit mit Zuchtlosigkeit, und in der Regel fahren die Staaten besser, wenn die schlichten Leute, als wenn die klugen regieren. Denn diese wollen klüger sein als die Gesetze, während jene, da sie ihrer eigenen Einsicht mißtrauen, sich ihnen willig unterordnen.« Es sind dieselben Gedanken, welche vom entgegengesetzten Standpunkt aus der Verfasser der Schrift vom Staat der Athener ausspricht153.

Es war in der Tat nicht anders: die moderne Bildung ist ihrem Wesen nach, wenn nicht aristokratisch, so doch durchaus antidemokratisch. Denn sie wendet sich an den einzelnen und stellt ihn der Masse gegenüber, sie scheidet die Bürgerschaft in Gebildete und Ungebildete, während die Demokratie auf dem Axiom der Homogenität aufgebaut ist und die alte aristokratische Kultur der Gesamtheit des Volkes zugänglich zu machen strebt. Recht deutlich zeigt Euripides den Gegensatz. Er verurteilt die Tyrannis und den Eigennutz; er verherrlicht die Aufopferung des einzelnen für den Staat; er preist die Heimat und ihre freie Verfassung, wenn sie sich nur in gemäßigten Bahnen hält. Aber das Entscheidende im Menschenleben ist ihm doch die Naturanlage, nicht der Masseninstinkt mit all den wirren und gemeinen Leidenschaften, die ihn beherrschen, und so ist er trotz allem – die Athener haben das sehr wohl empfunden – doch der Verkünder der wahren Aristokratie des Geistes. Von den reaktionären Heißspornen und ihrer Interessenpolitik trennte ihn freilich eine weite Kluft. Allerdings benutzen diese die Argumente, welche das fortgeschrittene Denken darbietet, [139] zur praktischen und prinzipiellen Bekämpfung der verhaßten Demokratie; vor der Volksversammlung wie im Prozeßkrieg verwerten sie die Künste der neuen Rhetorik. Eben daß sie diese beherrschen, gibt ihnen die Möglichkeit, die ungebildeten, brutal dreinfahrenden Gegner und ihre Insinuationen abzuwehren und die Menge gegen ihre Führer aufzuhetzen. Der Meister in der Führung dieser Waffen war Antiphon von Rhamnus, »ein Mann«, wie Thukydides ihn charakterisiert, »der keinem Athener an vornehmer Gesinnung (ἀρετῆ) nachstand und vorzüglich befähigt war, sowohl die Situation zu beurteilen, wie was er erkannt hatte auszusprechen. Aber in der Volksversammlung trat er nicht auf und ebensowenig, wenn es nicht sein mußte, vor Gericht, sondern der Menge war er wegen des Rufes seiner Intelligenz verdächtig, denen aber, die in einer Verhandlung vor dem Volke oder vor Gericht seinen Rat begehrten, konnte er besser helfen als irgendein anderer.« Er war der Theoretiker der oligarchischen Opposition und zugleich ihr geheimer Ratgeber. Er ist auch, so viel wir wissen, der erste gewesen, der die Plädoyers, die er für andere aufsetzte, herausgegeben hat, teils als Musterbeispiele seiner Gewandtheit, vor allem aber, um für die Sache, die er vertrat, durch die Schrift noch weiter zu wirken. Hier finden wir denn alle Mittel und alles Gift aufreizender Rhetorik mit großem Geschick verwertet, daneben aber eine energische Betonung der Heiligkeit und Trefflichkeit des alten Rechts, das er fast mit denselben Worten verficht wie Kleon: »ihr müßt«, sagt er z.B., »nicht nach den Reden des Anklägers die Gesetze beurteilen wollen, ob sie gut sind oder nicht, sondern nach den Gesetzen die Reden dieser, ob sie euch richtig und gesetzmäßig informieren oder nicht«154. Denn von den Grundgedanken der modernen Kultur, die Euripides verkündet, wollen die Konservativen und Aristokraten erst recht [140] nichts wissen; ist es doch gerade ihr Programm, die wahre alte Zeit wieder herbeizuführen, welche den Zweifel und die Verdrehungen und die Zuchtlosigkeit und Schurkenstreiche der herabgesunkenen Gegenwart noch nicht kannte; ist doch Sparta ihr Ideal, welches allein von allen griechischen Staaten, etwa die völlig isolierten Gemeinden Kretas ausgenommen, jede Infektion durch moderne Ideen von sich fernzuhalten verstanden hat. Namentlich die vornehme Jugend, die Ritterschaft und was zu ihr hält, lebt ganz in diesen Gedanken; die Pflege der sittlichen und rechtlichen Ideale (der ἀρετή und des καλόν) stellen sie als ihre Aufgabe hin, sie nennen sich mit einem für uns unübersetzbaren Ausdruck »die Schönen und Guten« (καλοὶ κἀγαϑοί)155, d.h. die Idealisten, ein Schlagwort, das jetzt geradezu zum Parteinamen wird, so gut wie die »Wackeren« (χρηστοί), im Gegensatz zum Gesindel, den »Schlechten« (πονηροί).

So bietet sich uns das merkwürdige Schauspiel, daß die Parteien, die sich in der Politik auf Tod und Leben bekämpfen, den modernen Strömungen gegenüber beide dasselbe Programm auf ihre Fahne schreiben: Bekämpfung des neuen Geistes, Festhalten an den alten Traditionen. Kleon und seine Todfeinde, die Komiker, gehen darin Hand in Hand. Nur ist für jenen das alte Ideal eben die bestehende Demokratie, die an ihren von Solon begründeten und seitdem immer weiter ausgebauten Prinzipien festhalten soll, während die Komödie in diesem Ausbau einen Abfall vom Alten sieht und die Rückkehr zu den Zeiten von Marathon und des Miltiades und Aristides fordert, die Aristophanes in den Rittern, Eupolis in den Demen verherrlicht. Auf der ganzen Linie eröffnet in den Jahren des archidamischen Krieges die Komödie den Kampf; die gottlosen und absurden Hypothesen der Naturforscher, die sophistische Erziehung und die rhetorischen Künste, die Verwilderung der modernen Jugend, die neue Poesie und die neue Musik, das alles sind die Zielscheiben ihrer Angriffe in einzelnen Episoden wie in ganzen Stücken ebensosehr wie das Treiben der Kriegspartei und der Demagogen. Voran ging auch hier der alte Kratinos, der in den [141] »Allschauern« (Πανόπται) den ganzen superklugen und die Wahrheit verdrehenden Schwarm der Weltweisen – »doppelte Schädel haben sie und Augen nicht zu zählen« –, vor allem aber die seltsame Welterklärung des Hippon (s. Bd. IV 1, 876) verspottete; sein Stück war ein Vorläufer der Wolken des Aristophanes und hat diese mehrfach beeinflußt. Aristophanes hat gleich in seinem ersten Stück (427 v. Chr.), den »Schmausdorfern«156 (Δαιταλῆς), das Erziehungsproblem behandelt. Von den beiden Söhnen eines alten Zechkumpans ist der eine in der alten Zucht und Erziehung aufgewachsen, der andere hat sich der liederlichen vornehmen Jugend angeschlossen und statt der Lieder des Alkäos und Anakreon die neumodische Musik und bei Meister Thrasymachos (s. Bd. IV 1, 894) den Jargon eines Lysistratos und Alkibiades und die Künste der Rhetorik gelernt. Wenn sein Vater von ihm Auskunft über die Bedeutung dunkler homerischer Wörter verlangt – mit solchen Dingen beschäftigte sich der Jugendunterricht der Rhapsoden und Schreiblehrer –, so antwortet er mit Fragen nach der Bedeutung obsolet gewordener Ausdrücke des solonischen Rechts. Für die alte Erziehung standen eben nicht die praktischen Aufgaben des bürgerlichen Lebens, sondern neben dem Turnen die Überlieferung der poetischen und musikalischen Schätze der Nation im Mittelpunkt. Der kaum den Knabenjahren entwachsene Dichter steht mitten im Treiben der vornehmen athenischen Jugend und ihrer modernen Bildung, er hat, daran kann kein Zweifel sein, die tollen Streiche und Ausschweifungen der jungen Ritter mit herzlicher Freude mitgemacht. Aber auch hier leitet ihn nicht nur die der Komödie unentbehrliche Neigung zur Opposition, sondern seine Angriffe sind ihm wirkliche Herzenssache. Was ihn und so viele seiner Genossen in dem wilden Treiben der Gegenwart nicht versinken läßt, ist wie im politischen Kampf so auch hier der Glaube an das Ideal von der alten Herrlichkeit Athens, von der köstlichen Zeit, da noch nicht die Alltagssorgen und die wüsten Kämpfe der Politik das Leben des [142] einzelnen verkümmerten, wo man sich frei dem Genuß hingeben konnte und die Poesie noch die höchste Macht auf Erden war. Je mehr das Ideal vor der harten Wirklichkeit entschwindet, mit um so glänzenderen Farben malt er es aus. Und eben darum sind ihm, so sehr er die neue Bildung und ihre Künste in sich aufgenommen hat und ununterbrochen verwendet, ihre Lehrmeister von Grund des Herzens zuwider. Was ihn ebensosehr abstößt wie immer aufs neue seinen Spott herausfordert, ist wie bei Kleon ihre Poesielosigkeit, ihre Pedanterie und ihr nüchterner Rationalismus. Sie alle sind von des Gedankens Blässe angekränkelt; und eben dadurch verderben sie das alte Athen, wie sie durch ihre Tüfteleien und zweideutigen Spitzfindigkeiten die Moral und Religion aufheben und die Jugend verführen und vergiften.

Den energischsten Angriff gegen die moderne Bildung hat Aristophanes im Jahre 423 unternommen. Bei den Lenäen, in den »Lastschiffen« (Ὁλκάδες; vgl. S. 123,2), »machte er sich an den Alpdruck und die hitzigen Fieber, welche die Väter würgten bei Nacht und die Großväter erstickten und den friedlichen Bürgern auf Bett kamen und gerichtliche Eide, Ladungen, Zeugenaussagen zusammenschweißten, so daß in Angst viele zum Polemarchen (dem Gerichtsvorstand der Fremden) um Schutz liefen« (Vesp. 1037ff.), d.h. er bekämpfte das Treiben der Sykophanten, die durch die letzten Worte zugleich als Eindringlinge ins Bürgerrecht bezeichnet werden157 – wie er im nächsten Jahre die von Kleon gesteigerte Richterwut persiflierte. Bei den Dionysien aber brachte er den Athener auf die Bühne, der der Masse des Volkes als der eigentliche Hauptvertreter der modernen Unterrichtsmethode und ihrer Irrlehren unter der Bürgerschaft galt, Sokrates. Seine Gestalt, die einem Aristophanes durch und durch antipathisch sein mußte, ist ganz nach dem Leben gezeichnet, seine Armut und dürftige Kleidung, seine Bedürfnislosigkeit und Enthaltsamkeit von allen sinnlichen Genüssen, sein ununterbrochenes Inquirieren und Disputieren, seine dialektischen Untersuchungen; aber in den Mund gelegt werden ihm alle die Lehren, welche dem Publikum [143] und dem Dichter selbst anstößig und unsittlich erscheinen, Tüfteleien über den Sinn und die richtige Form der Worte, über triviale naturwissenschaftliche Probleme, und vor allem auf der einen Seite die Welterklärung und der kaum noch verhüllte Atheismus der Naturphilosophen, vor allem des Diogenes von Apollonia (Bd. IV 1, 876), auf der andern der Besitz der Kunst des Protagoras (Bd. IV 1, 907.), der ungerechten Sache zum Siege über die gerechte zu verhelfen. Er läßt die beiden Reden in Person vor seinen Schülern auftreten; vor der frechen Rabulistik der »ungerechten Rede«, die kein Gewissen und keine Sitte mehr anerkennt, muß die »gerechte«, die das Ideal der alten Zucht und Bildung verteidigt, hilflos die Flucht ergreifen. Eben deshalb wendet sich Strepsiades in seiner Not an Sokrates: er verlangt von ihm ein Mittel, wie er seine Schulden nicht zu bezahlen braucht. Sein Sohn zieht aus dem, was er gelernt hat, die Konsequenzen; er prunkt mit seiner modernen Bildung, er will von Simonides und Äschylos nichts mehr wissen und schwärmt für Euripides, er verhöhnt und schlägt den Alten. Da zeigt dieser den Athenern, was sie tun sollten: wie die Italioten die Versammlungshäuser der Pythagoreer, so steckt er die Denkerei des Sokrates in Brand, und in den Flammen geht der falsche Lehrer mit seinen Schülern elendiglich zugrunde158. – Die Athener haben wenige Jahre nachher dem Protagoras das Schicksal bereitet, das Aristophanes für Sokrates fordert (s.S. 201); aber seine Komödie haben sie schlecht aufgenommen, ob aus ästhetischen Gründen, ob weil sie die moderne Bildung doch anders beurteilten, oder weil sie empfanden, daß der wahre Sokrates doch ein anderer war, als der hier gezeichnete, läßt sich nicht entscheiden. Dem Dichter aber war sein durchgefallenes Stück besonders ans Herz gewachsen; er hat eine neue Bearbeitung begonnen und es in der neuen Gestalt publiziert, [144] und wir wissen, wie nachhaltig dieselbe schließlich doch auf Athen gewirkt hat159.

Neben dem Kampf gegen die moderne Aufklärung und Erziehung geht der gegen die moderne Poesie und Musik einher, den wir früher schon in seinen Umrissen verfolgt haben. Aristophanes' Ideal ist Äschylos. Aber auch die Schöpfungen des Sophokles erkennt er und mit ihm die gesamte Komödie als untadelhaft an, in voller [145] Übereinstimmung mit der Masse der Athener; auch gegen seine Persönlichkeit richtet sich nur selten ein harmloser Spott. Um so unablässiger dagegen verfolgt er den Euripides, gerade in einer Zeit, wo dieser mehr wie sonst der volkstümlichen Art sich zuwandte, so daß Aristophanes meist weit ältere Stücke, wie den Telephos und den Bellerophontes, heranziehen muß. In den Acharnern, den Dramata, dem Proagon (422?, vgl. schol. vesp. 61), dem Frieden wird er ausführlich parodiert oder selbst auf die Bühne gebracht; im Jahre 411 widmet Aristophanes ihm ein ganzes Stück, die Thesmophoriazusen. Eine methodische ästhetische Kritik darf man von der Komödie nicht erwarten – die hat Aristophanes, in den überhaupt zulässigen Grenzen, erst nach dem Tode des Dichters in den Fröschen (405) gegeben, wo er in dem Kampf zwischen Äschylos und Euripides das ästhetische Gegenstück zu dem Kampf der beiden Reden in den Wolken schuf –; aber ohne Erbarmen zerzaust er den Dichter, seine Verdrehung der Sagen, seine superklugen Helden im Bettlerkostüm, seine ausgeklügelten Motive, seine gekünstelte und manierierte Diktion, seine perversen Sentenzen, seine abscheuliche Musik. Man hat wohl behauptet, daß Aristophanes' Angriffe indirekt eine Huldigung für Euripides bedeuten, daß er eben dadurch den Eindruck bezeuge, den der Dichter ihm gemacht habe. Davon ist in all seinen Stücken keine Spur zu finden: Aristophanes hat für Euripides nichts als den boshaftesten, vernichtendsten Hohn, er ist ihm ein ebenso schlechter Dichter wie Musiker. Oder vielmehr er ist überhaupt kein Dichter, denn alle Poesie hat er getötet; er ist ein Sophist, und eben darum ein Verderber des Geschmacks und der Sitte so gut wie Sokrates. Aristophanes war die innere Unwahrheit von Grund aus zuwider, welche Euripides, der echte Vertreter der modernen Kunst, in seine Stücke hineinträgt, indem er den Stoff, statt ihn wie die herrlichen Alten von innen heraus zu gestalten, zum Träger eines hochmodernen Problems macht. Wenn Aristophanes und die übrigen Komiker mit ihm behaupten, daß Euripides ein Schüler des Sokrates sei und dieser ihm bei seinen Tragödien helfe, so ist das zwar historisch falsch – denn Euripides war etwa 15 Jahre älter als Sokrates, und es sind nicht nur in seinen Stücken keinerlei Beziehungen auf Sokrates [146] und seine Lehre zu finden, sondern Euripides, als Anhänger der doppelten Wahrheit der Sophisten, steht in seiner Denkweise zu Sokrates im schärfsten Gegensatz –; aber es ist auch nur die komische Einkleidung für die Tatsache, daß der Dichter wie der Weise, so wie ihn die Komiker verstehen, die Hauptträger der modernen, in all ihren Äußerungen schlechthin verwerflichen Zeitströmung sind und daß Euripides aus ihr die Konsequenzen für die Dichtung gezogen hat160.

Gleichzeitig mit Aristophanes' Wolken hat Ameipsias den Sokrates in seinem Konnos auf die Bühne gebracht. Hier trat ein ganzer Chor von »Denkern« auf, die mit Namen aufgezählt wurden161; zu ihnen stieß als ihr wunderlicher Konkurrent Sokrates, begrüßt als »Trefflichster von wenigen, Törichtster von vielen«, der Fluch der Schuster, der ewige Hungerleider, der sich indessen doch nicht entschließen kann zu schmarotzen. In dem Stück geht er bei dem von der Komödie gleichfalls als Hungerleider öfter verspotteten Musiker Konnos162 in die Schule, um seine Bildung zu vervollständigen, begreift aber nichts und blamiert sich vor der Jugend, so daß der Lehrer ihm den Kopf zurechtsetzen muß. Man sieht, die Satire war viel harmloser als bei Aristophanes; Sokrates ist hier ein dummer, ungebildeter Mensch, der nicht versteht, seine angebliche Weisheit nutzbar zu machen; er kann wohl lästig fallen, aber er ist ungefährlich. – Ähnlich hat ihn Eupolis beurteilt: »ich hasse auch den Sokrates, den armen Schwätzer, der über alles andere grübelt, aber dafür sorgt er nicht, wie er zu essen bekommt«; wie bei Aristophanes sucht er sich durch kleine Diebstähle zu helfen. Dieses Zitat stammt wahrscheinlich aus den »Schmeichlern« (421 v. Chr.), in denen Eupolis das Treiben im Hause des Kallias darstellte, des [147] großen Gönners der Sophisten, der vor kurzem das reiche Erbe seines Vaters Hipponikos angetreten hatte und sich eifrig bemühte, es mit Hilfe all des zweideutigen Gesindels, das sich an ihn drängte, zu vertun. Da war vor allem Protagoras, »der frevelhaft renommiert mit den Dingen am Himmel, aber ißt, was auf Erden ist«; und neben ihm eine ganze Schar anderer, darunter Sokrates' Lieblingsschüler, der abgemergelte Chairephon, die »Fledermaus«, wie ihn Aristophanes nennt. Den Angriff, der das gesamte Treiben der modernen Jugend vorführte, hat Eupolis im nächsten Jahre im Autolykos (benannt nach dem schönen Liebling des Kallias, der 422 bei den Panathenäen im Pankration gesiegt hatte) fortgesetzt. – Die Ergänzung zu diesen persönlichen Angriffen bildeten die Komödien, in denen Eupolis den Athenern die alte Zeit lebendig vorführt (s.S. 95), so zum Teil schon in den »Städten« (424?), dann im »Goldenen Zeitalter« (422?), wo er Athen, »der schönsten Stadt aller, die Kleon unter Aufsicht hält«, ins Gewissen redet: »wie glücklich warst du früher und wirst du jetzt noch mehr sein«, wenn du nur Vernunft annehmen und vor allem jedem wirklich die Freiheit des Wortes gewähren wolltest. Den Abschluß bilden die »Demen« (etwa 414, vgl. S. 232), wo die alten Staatsmänner, Miltiades, Aristides, Perikles, von den Toten auferstehen – dasselbe Motiv hatte schon Kratinos im Kampf gegen Perikles in den Χείρωνες verwandt, wo er Solon, den Heros von Salamis, aus dem Hades heraufführte – und den degenerierten Nachkommen vorhalten, wie sie die Stadt groß gemacht haben163. – Das Gegenbild zu den Kämpfen des Tages entwirft die Märchenkomödie in der Schilderung der glücklichen seligen Zustände des goldenen Zeitalters (Bd. IV 1, 834, Kratinos' Πλοῦτοι, Krates' Θηρία, Telekleides' Ἀμφικτίονες) oder bei fremden Völkern (Pherekrates' Πέρσαι, Metagenes' Θουριοπέρσαι) oder auch im Hades und im Reiche der Zwerge (Pherekrates' Κραπαταλοί und Μεταλλῆς), und im Gegensatz dazu das Bild des weltflüchtigen Menschenfeindes (Bd. IV 1, 837, [148] Pherekrates' Ἄγριοι 420, Phrynichos' Μονότροπος 414). Auch Eupolis hat in einem seiner frühesten Stücke, den »Ziegen«, das glückliche Leben der Ziegen unter der sorgsamen Pflege des Hirten, und ebenso im »goldenen Zeitalter« die Herrlichkeit des Schlaraffenlandes ausgemalt. So vieles in diesen Stücken die Tradition bot, so seltsame Sprünge ins Bizarre die Phantasie einflechten mochte, deutlich spricht auch aus ihnen die Sehnsucht nach friedlichem Behagen und einem besseren Dasein, als es den geplagten Erdenmenschen zuteil wird, hinaus aus der Enge und den Nöten des irdischen Lebens.

So stoßen im Kampf gegen den modernen Geist zwei Reaktionen aufeinander, eine demokratische und eine aristokratische. Jede von beiden Parteien beschuldigt die andere der Untergrabung der natürlichen Ordnungen und behauptet selbst das allein Richtige, »die von den Vätern überkommene Staatsordnung« (πάτριος πολιτεία), zu vertreten, während die Gegner von dem modernen Geist der Selbstsucht und des Umsturzes infiziert seien. In Wirklichkeit sind sie es beide in gleicher Weise; der moderne Geist, den man aussperren will, dringt durch alle Ritzen ein und hat sich, mag man es eingestehen oder nicht, Staat und Gesellschaft bereits vollständig unterworfen. Das souveräne Volk ist weit abgekommen von der Ehrbarkeit und Gewissenhaftigkeit früherer Zeiten; es läßt sich treiben von seinen Launen und den zufälligen Einflüssen des Momentes. Man baut auf Athens gutes Glück, man kann ja eine neue Maßregel einmal versuchen, die Göttin wird es schon recht machen. Die Athener selbst haben es als echt attisch bezeichnet, »alles eher zu tun als das Notwendige« (Aristoph. Lysistr. 56); sie trösten sich, »wenn sie auch etwas Verkehrtes beschließen, die Götter werden es zum besten wenden« (Aristoph. nub. 587, eccles. 473). In ganz gleicher Weise betreiben beide Parteien die schlimmsten demagogischen Künste und eine rücksichtslose Interessenpolitik, vor der die alten Ideale des Staates und des Bürgertums entschwinden. Die überlieferten Formen und die Religion wurzeln fester in der demokratischen Partei; die aristokratischen Gegner, die die Herstellung des Alten auf ihre Fahne geschrieben haben, sind auch äußerlich bereits vollkommen modernisiert. Für Aristophanes [149] ist das Alte das Ideal seiner Sehnsucht, aber eben deshalb nicht die Wirklichkeit, von der er lebt. Er ist untrennbar von den Zuständen, die er bekämpft. Mit vollen Zügen trinkt er den Freudenbecher, den das Leben ihm bietet. Gegen Euripides und Sokrates kämpft er mit voller Überzeugung; aber wenn er die Unsittlichkeit seiner Zeit angreift und die Ausschweifungen der Jugend verspottet, so sieht man bei jedem Wort, wie wenig Ernst es ihm damit ist; sie sind ihm höchstens liebenswürdige Schwächen. Kleon und sein Anhang glauben an die Orakel und die Weissagungen, und Sophokles und Herodot haben sich ihr Leben lang zu ihnen bekannt; für Aristophanes sind sie ein alberner Trug, ein Blendwerk für die Masse der Dummen. Daß die beiden großen Volksverführer nicht an die Götter des Staates glauben und Zeus von seinem Thron stürzen, ist ihr schlimmstes Verbrechen; aber wo seine eigene Ansicht zutage tritt, zeigt sich, daß er selbst nicht an sie glaubt und im Grunde für den Aberglauben des Volkes, den der Gebildete aus politischen Gründen respektieren soll, nur Spott übrig hat. Das Athen des Archidamischen Krieges ist in vollem Zuge, ganz der Zeitströmung anheimzufallen, wie die Städte Ioniens und Siziliens, mag man auch noch so oft die kecken Neuerer, wenn sie sich zu weit vorwagen, verurteilen, die Ketzer ausweisen und ächten, wie Diagoras, Anaxagoras und später Protagoras und Sokrates. Daß es anders gekommen ist, daß die sophistische Aufklärung nicht das letzte Wort der geistigen Entwicklung von Athen und Hellas geblieben ist, ist nicht das Werk der um die Herrschaft ringenden Parteien, die den politischen Kampf auch auf geistigem Gebiet ausfechten wollen, sondern das Werk des unscheinbaren Mannes, in dem jene recht eigentlich die Inkarnation der modernen Ideen zu erkennen glaubten, des Sokrates.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 136-150.
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