Naturwissenschaft und Philosophie

[853] Neben den Einzelwissenschaften und den technischen Berufen steht die Universalwissenschaft, die »Weisheit«. Ihre Aufgabe ist, die Welt in ihrer Totalität zu erfassen; daher ist sie in ihren Anfängen Naturwissenschaft. Als solche ist sie von den milesischen Weisen des 6. Jahrhunderts, Thales, Anaximander, Anaximenes, behandelt worden. Eine lebendige Substanz von ewiger Dauer war ihnen die Welt, nicht geschieden in Stoff und Kraft; aus ihren Veränderungen ging die Fülle der Einzelwesen und ihrer Bewegungen und Umwandlungen hervor. In der Sammlung der Einzelerscheinungen, in dem Versuch, sie zu einem einheitlichen Bilde zu ordnen und auf wenige einfache Grundsätze zurückzuführen, liegt die wissenschaftliche Bedeutung der ionischen Physiker. Aus nichts kann nichts werden; der Stoff ist ewig und ohne Anfang wie die Zeit und in ewiger Bewegung und daher auch in einem ewigen Wechsel des Entstehens und Vergehens; nach ewigen, in ihrer Natur begründeten Gesetzen1002 vollziehen sich seine Wandlungen und Bewegungen, vor allem der Kreislauf der Gestirne, bis, nach Anaximanders Lehre, diese Welt, wie sie aus dem Urstoff entstanden ist, so auch wieder in sich zusammenstürzt und der Kreislauf von neuem beginnt. Diese Sätze, mögen sie in klaren Worten formuliert sein und eine Begründung versucht werden oder nicht, erscheinen als Postulate jeder Naturbetrachtung, als selbstverständliche Denknotwendigkeiten. Hinzu kommt für die alten ionischen Weisen das Postulat von der Einheit alles Stoffs, sei es nun das Wasser, oder das Grenzenlose, das alles umschließt und durchdringt, im Gegensatz zu dem begrenzten Einzelobjekt der sinnlichen Wahrnehmung, oder die Luft oder was sonst. Aus diesen Grundsätzen wird das Weltbild aufgebaut; [853] die Einzelerscheinungen haben sich ihnen unterzuordnen. Für die alte Religion blieb in diesem Weltbilde kein Raum; die milesische Physik ist im Grunde atheistisch, auch wenn sie das Leben der Materie göttlich nennt und ihre Ursubstanz und deren Erscheinungen mit den Göttern des Volksglaubens identifizieren möchte. Ein wenn auch vorläufiger Abschluß, eine Grundlage, auf der man weiterbauen konnte, war freilich so nicht zu erreichen. Anaximanders Erdkarte ist ein Jahrhundert lang in Geltung geblieben, aber aus seiner Kosmologie haben seine Nachfolger, Anaximenes wie Heraklit, gerade diejenigen Lehren nicht übernommen, in denen er sich am weitesten von dem mythischen Weltbild entfernt hatte: den im Zentrum der Weltkugel schwebenden Erdzylinder, um den sich das Himmelsgewölbe und die Räder der Gestirne drehen. Sie denken sich vielmehr die Erde wieder als Grundlage des Weltalls und lassen die Gestirne nach alter Weise längs ihres Randes, nicht unterhalb desselben, zum Aufgang zurückkehren. Von neuem hat Anaximenes nur den Gedanken hinzugefügt, daß aus dem Urstoff, der Luft, alle anderen Stoffe durch Verdichtung und Verdünnung, also durch Veränderung des Aggregatzustandes, hervorgegangen seien. – So überraschend es zunächst erscheint, so unverkennbar ist es, daß in all diesen Fragen das entgegengesetzte System, die Lehre des Pythagoras, viel weiter gekommen ist, obwohl oder vielleicht gerade weil es an der Religion festhält und sich ganz dem Mystizismus und der Erlösungslehre in die Arme wirft. Denn es hat eine unerschütterliche Grundlage in der Mathematik. Diese lenkt das Denken nicht auf die Substanz, sondern auf die Form der Dinge; und hier waren sicherere Erkenntnisse zu finden als in der Physik. Daß man in der ersten Entdeckerfreude die Form für den Inhalt nahm, daß man in ihr auch das Wesen der Dinge erkannt zu haben glaubte, ist begreiflich genug auch ohne die mystische religiöse Grundstimmung. Trotzdem ist Pythagoras der Begründer nicht nur der wissenschaftlichen Mathematik und der Harmonielehre; auch die wissenschaftliche Astronomie hat er geschaffen, indem er die Gesetze der Mathematik auf sie anwandte. Die Kugelgestalt der Erde, die Ordnung der Weltkörper und ihrer Bewegungen, der [854] Gedanke, daß die Erde selbst sich um ein Zentralfeuer bewegt und die tägliche Umdrehung des Himmels sich aus einer Umdrehung der Erde erklärt, das sind nicht minder unvergängliche Ruhmestitel des Pythagoreismus als die Entdeckung des Satzes von den Quadraten der Seiten des Rechtecks und des Irrationalen und die Zurückführung der Tonhöhe auf die nach festen Proportionen geteilte Saitenlänge. Im Lauf des 5. Jahrhunderts sind diese Lehren in mannigfachen Variationen von der Schule weitergebildet; daß die Grundgedanken überall auf den Meister selbst zurückgehen, hätte nie bezweifelt werden sollen. – Dazu kommt noch ein zweites Moment. Für Pythagoras waren alle wissenschaftlichen Erkenntnisse nur Vorbereitungen für den praktischen Zweck, die richtige, der Weltordnung und den in ihrer Harmonie verkörperten ethischen Grundsätzen entsprechende Gestaltung des Lebens und weiter des Staates. So untersucht er auch das Wesen des Menschen und gliedert die sittlichen Begriffe gleichfalls in sein System ein: sie sind nicht minder Verkörperungen der Zahlen wie die kosmischen Erscheinungen. In scharfem Gegensatz zu der milesischen Physik treten hier praktische Untersuchungen und Lehren neben die theoretischen; die ethischen und politischen Fragen sind für ihn ein ebenso wesentlicher Bestandteil der Welterkenntnis wie die kosmischen Gesetze1003.

[855] Die gesamte bisherige Naturbetrachtung, so verschieden im einzelnen ihre Ergebnisse waren, ist beherrscht von dem Streben, alle Erscheinungen der Sinnenwelt auf ein Grundprinzip zurückzuführen und als Wandlungen, als gesetzmäßige Veränderungen eines grundlegenden Substrats zu begreifen, mag dasselbe nun rein materiell oder formal-mystisch gedacht sein. Aber schon erhoben sich von zwei Seiten her Einwände, welche ihre Grundlagen in Frage stellten: Heraklit von Ephesos bestritt die Realität des Seins, Xenophanes und, seine Gedanken systematisch vertiefend, Parmenides von Elea die Realität des Werdens und jeglicher Veränderung. – Ephesos war in der Tyrannenzeit von inneren Wirren so arg heimgesucht worden wie nur irgendeine Ionierstadt (Bd. III2 S. 568; dann aber scheint die Unterwerfung durch die Lyder, die Verlegung der Stadt ins Tiefland, das fünfjährige Regiment des Aristarchos (Bd. III2 S. 571 ruhigere Zustände und eine längere Herrschaft der Aristokratie herbeigeführt zu haben. In den Kriegen gegen die Perser spielt Ephesos gar keine Rolle; selbst ein Tyrann wird nicht erwähnt. Es war eben ein unbefestigter, jedem Angriff offenliegender Ort geworden, und der alte Kriegsruhm der Ephesier war längst verblaßt. Auch dem Delischen Bunde kann Ephesos erst zur Zeit der Eurymedonschlacht beigetreten sein (o. S. 499). Aber sein Gebiet war ausgedehnt und offenbar stark bevölkert, aus dem Handel und vor allem aus dem Ansehen des Artemisheiligtums entwickelte sich ein bedeutender Wohlstand; das beweist der hohe Tribut, den die Stadt an Athen gezahlt hat (o. S. 719). So haben offenbar die materiellen Interessen völlig dominiert; dadurch mag die Demokratie, die Mardonios 492 in Ionien einführte, hier dauernd Wurzel geschlagen haben. – Das sind die Verhältnisse, in denen Heraklits Genius sich entfaltet hat. Er entstammte einem altadligen Geschlecht, in dem die Ehrenrechte des ephesischen Königtums sich durch [856] alle Wirren hindurch erhalten hatten (Bd. III2 S. 322; und er war, wenn nicht ein Parteigänger der Aristokraten, so ein fanatischer Gegner der Demokratie, der Herrschaft der blinden Masse, die keinen Verstand hat und wie Hunde anbellt, wen sie nicht kennt. Besonders empört hat ihn die Verbannung seines Freundes (Schülers?) Hermodoros, der dann nach Italien gegangen sein und bei der Gesetzgebung in Rom mitgewirkt haben soll (o. S. 626f). »Die Ephesier allesamt sollten sich aufhängen und den Unmündigen die Stadt überlassen, da sie Hermodoros, den tüchtigsten Mann unter ihnen, verjagt haben mit den Worten: ‹unter uns soll nicht einer der Tüchtigste sein, und wenn schon, so mag er anderswo und bei anderen Menschen leben›.« Eine politische Wirksamkeit war bei solchen Gesinnungen ausgeschlossen. Nur um so mehr verschließt sich Heraklit in sich selbst und in die Gedanken, die unaufhaltsam in ihm stürmen und wogen. Er hat sie in einem Buche offenbart, das er im Tempel der Artemis niederlegte, in prophetischer Sprache, voll ahnungsvoller poetischer Bilder, voll der kühnsten und dunkelsten Wendungen, in fortwährendem Ringen mit dem Versuch, das Unsagbare dennoch zu sagen oder wenigstens eine Ahnung davon zu erwecken. Dem Uneingeweihten erschien die Schrift oft fast unverständlich, und ohne Zweifel hat Heraklit das gewollt: mochten die Menschen sich abmühen, ob sie imstande seien, die Gedanken des wahren Weisen zu erfassen1004.

In Heraklit tritt uns zum erstenmal das Selbstbewußtsein der denkenden Persönlichkeit in seiner ganzen Wucht entgegen. [857] Der Gegensatz des Denkers, der etwas Neues entdeckt, zur Masse und zur Tradition, der wie ehemals in Hesiod und Archilochos oder den israelitischen Propheten, so jetzt in den Weisheitslehrern und vor allem in Pythagoras sich verkörpert, gelangt in Heraklit zu vollbewußtem Ausdruck. Daher die Verachtung, mit der er auf die Massen blickt; nur die überlegene Einzelpersönlichkeit hat Wert und Bedeutung. »Einer gilt mir Zehntausende, wenn er der Beste ist.« »Was haben sie für Verstand und Vernunft? Sie folgen den Sängern und lassen sich vom Pöbel belehren, da sie nicht wissen, daß die meisten schlecht und nur wenige gut sind. Statt alles anderen wählen die Besten ein einziges, ewigen Ruhm unter den Sterblichen, die Menge aber sättigt sich wie das Vieh.« Der die Wahrheit erkennende Intellekt tritt geradezu ins Zentrum der Weltbetrachtung; hier liegt der Schwerpunkt seiner Philosophie. Die Intelligenz ist der Logos, die in Worten ausgesprochene Erkenntnis, die Vernunft, und zwar ebensowohl die des Weisen, der das Wesen der Welt kennt, wie die immanente Vernunft in der Welt selbst, die sie regiert und beherrscht – denn beides ist für Heraklit identisch, die Erkenntnis deckt sich mit ihrem Inhalt. »Weise ist, nicht mich, sondern den Logos zu hören und zu bekennen, daß eins alles weiß1005.« »Dieser Logos [d.h. zugleich diese meine Lehre und diese Weltvernunft] ist ewig; aber die Menschen können ihn nicht begreifen, sowohl ehe sie ihn gehört haben, als auch wenn sie ihn zuerst hören. Alles geschieht nach diesem Logos; sie aber gleichen Unkundigen, wenn sie kundig werden wollen solcher Worte und Werke, wie ich jetzt darlege, wo ich jedes naturgemäß gesondert darstelle und sage, wie es sich verhält. Die übrigen Menschen aber wissen nicht, was sie im Wachen tun, sondern es bleibt ihnen verborgen, wie wenn sie schlafen.« Heraklit ist der Prophet, der den Logos besitzt, »der allen anderen unerkannt geblieben ist, obwohl er für alle gilt, die da leben, als ob sie eine Einsicht für sich hätten« (fr. 92. 95). Auch die den Griechen für weise gelten, sind zur Erkenntnis nicht gelangt, sondern nur zu [858] Meinungen1006. »Von allen, deren Reden ich gehört habe, ist keiner zu der Erkenntnis gelangt, daß das Weise (d.h. sowohl die Weisheit, wie das eine die Welt regierende weise Wesen fr. 41 D.) von allen anderen Dingen gesondert ist.« Homer, Hesiod, Archilochos, die Träger der überkommenen Weisheit, hat er aufs schärfste angegriffen. »Vielwissen bringt nicht zu Verstand: denn sonst hätte es Hesiod Verstand gelehrt und Pythagoras und ebenso Xenophanes und Hekatäos.« Über »die Weisheit, das Vielwissen, die schlechte Kunst«, die Pythagoras sich zusammengebraut hat, spricht er voll Geringschätzung (vgl. Bd. III2 S. 759). Aber doch »müssen Weisheit liebende Männer gar sehr vieles erforschen«, wie »Goldsucher, die viel Erde durchgraben und wenig finden«. Denn »die Natur liebt sich zu verstecken«. »Wer nichts zu finden erwartet, wird nichts Unerwartetes finden, da es unerforschlich und unzugänglich ist.« Die Sinne trügen, auch das Auge, das doch ein besserer Zeuge ist als das Ohr; das Schlimmste aber ist der Wahn, das Meinen, der Epilepsie vergleichbar.

Was ist nun die Weisheit, die der Logos, die Erkenntnis der Weltvernunft, verkündet? Ein ewiger Wechsel von Entstehen und Vergehen, ein immerwährender Fluß aller Dinge, ohne Ruhe und Stillstand. Daß die jetzige Gestalt der Welt nicht ewig sei, daß, wie sie entstanden ist, sie auch vergehen wird, um in alle Ewigkeit immer aufs neue wieder eine andere zu erzeugen, hatten auch die milesischen Naturforscher gelehrt, vor allem Anaximander: aber für sie gab es doch ein Seiendes von ewigem Bestand, eine Substanz, die nur die Erscheinungsform wechselt. Heraklit dagegen kennt nur ein Werden, kein Sein. Wohin wir schauen, erblicken wir nichts als Gegensätze; diese existieren nebeneinander, gleich wahr, obwohl sie sich widersprechen; aber sie sind durcheinander, sich gegenseitig ergänzend und wieder aufhebend. »Im Wandel besteht das Ausruhen« (μεταβάλλων ἀναπαύεται). Anfang und Ende (Grenze) fallen zusammen. »Nicht zweimal können wir in denselben Fluß treten, denn immer anderes Wasser fließt hindurch«, oder auch »in denselben Fluß treten wir und treten wir nicht«. [859] Die Relativität der Urteile, wie wir sagen würden – das ist aber für Heraklit die den Dingen immanente absolute Gegensätzlichkeit der Eigenschaften – tritt zum erstenmal klar ins Bewußtsein. »Gut und schlecht ist dasselbe.« »Für den Walker ist ebenderselbe Weg gerade und krumm.« »Das Meer ist das reinste und unreinste Wasser, für die Fische trinkbar und heilbringend, für die Menschen untrinkbar und verderblich.« »Der weiseste Mensch ist gegen Gott wie ein Affe.« Aber eben in diesen Gegensätzen besteht die Einheit, das Wesen der Dinge. Es verbindet sich »Ganzes und Nichtganzes, Zusammenstrebendes und Auseinanderfallendes, Gleichklang und Dissonanz; aus allem eins und aus einem alles«. Nicht die Ruhe ist das Ideal, sondern »der Krieg ist der Vater und König aller Dinge, er hat die einen zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht«. »Homer, der den Streit (Eris) aus den Menschen und Göttern wegwünschte, merkte nicht, daß er damit alles Entstehen verdammte.« »Den Menschen wäre nicht gut, wenn ihnen geschähe, was sie wünschen: durch Krankheit wird die Gesundheit angenehm und ein Gut, durch Hunger die Sättigung, durch Mühen das Ausruhen.« Freilich »die Menschen können nicht verstehen, wie das Auseinandergehende immer zusammengeht«. Es geht ihnen wie dem blinden Homer, »dem weisesten aller Hellenen, der das Rätsel der Fischerknaben von den Läusen nicht lösen konnte: ‹die wir sahen und packten, haben wir weggeworfen, die wir nicht gesehen und gepackt haben, tragen wir mit uns herum›.« Auf dieser Einheit im Widerstreit beruht die Harmonie des Weltganzen, und zwar ist »die unsichtbare Harmonie besser als die sichtbare«. Und nun schwelgt Heraklit weiter in der Häufung und Verbindung unüberbrückbar scheinender Gegensätze. »Die meisten nehmen Hesiod zum Lehrer, da sie überzeugt sind, daß er am meisten wisse, der doch das Wesen von Tag und Nacht nicht erkannt hat, denn sie sind eins.« »Das Leben heißt Leben, aber es ist Tod.« »Die Unsterblichen sind sterblich, die Sterblichen unsterblich, dieser Leben ist jener Tod, dieser Tod jener Leben.« Das heißt, so dürfen wir erklären, das Leben ist ein fortwährendes Sichverzehren und Sterben der lebendigen Kräfte; ein ewiges Sein [860] ohne Entstehen und Vergehen aber ist das Gegenteil des Lebens, Stillstand und Tod. Der Kampf der Gegensätze, die doch immer eins sind, der ewige Wechsel und das ewige Werden und Vergehen – das ist verkörpert im Feuer, dem Sinnbild des immer Lebendigen, das immer sich verzehrt, aus dem Tode Leben schafft und durch sein Leben dahinstirbt. Das Feuer ist daher das Wesen der Welt. »Diese eine alles umfassende Weltordnung hat weder ein Gott noch ein Mensch gemacht, sondern sie war immer und ist und wird sein ewiglebendes Feuer, das nach Maßen sich entzündet und nach Maßen verlöscht.« Aus dem Himmelsfeuer geht das Wasser hervor, aus diesem die Erde, und aus dieser steigt wieder Wasser zum Himmel, das das Feuer nährt; denn »der Weg aufwärts und abwärts ist ebenderselbe«. »Das Feuer lebt durch den Tod der Erde, die Luft durch den Tod des Feuers; Wasser lebt durch den Tod der Luft, Erde durch den des Wassers.« »Alles tauscht sich aus gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Gut gegen Gold und Gold gegen Gut.« Auch der Lebensgeist, die Seele ist Feuer und Wärme. »Wie in der Nacht das Licht, entzündet sich und verlöscht der Mensch.« »Die trockene Seele ist die weiseste und beste«; aber »die Seele freut sich feucht zu werden« – z.B. im Rausch –; und doch »ist den Seelen Tod, Wasser zu werden, dem Wasser Tod, Erde zu werden; aus Erde aber entsteht wieder Wasser, aus Wasser Seele« (d.h. die feurige trockene Seelensubstanz). Wie aus dem Feuer die Elemente sich sondern, so wird dereinst, nach 10800 [= 24 X 33 X 52] Jahren, diese Welt in Flammen aufgehen und der Kreislauf von neuem beginnen. – Aber zugleich waltet in der Welt, sie lenkend und regierend, die Intelligenz, »das eine Weise, das den Namen Zeus nicht führen und doch führen will« – nämlich nicht im Sinne der Volksreligion, aber doch im Sinne des Lebensprinzips. Es ist die Harmonie, in der sich die Gegensätze vereinigen: »Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger.« Bei ihm ist alles schön und gut und gerecht, was für den Menschen sich scheidet. Er ist zugleich das Weltgesetz, das eine ewige Recht (δίκη), »von dem alle menschlichen Gesetze leben«, und der vorbestimmte Zwang des Geschicks [861] (εἱμαρμένη ἀνάγκη), der allen Dingen seine ewigen Satzungen, seine »Maße« gibt (d.i. das Naturgesetz), »die sie nicht überschreiten dürfen, ohne den Erinyen, den Gehilfen des Rechts, anheimzufallen«, so die Sonne (fr. 94 D.), das Meer (fr. 31 b D.), das Feuer selbst (fr. 30 D.). Die Weltverbrennung ist zugleich das Weltgericht; da »kommt das Feuer über alles und wird packen und richten«. Da scheiden sich der Wahn und die Erkenntnis: »Dike wird die Baumeister und Zeugen der Lüge fassen« (fr. 66. 83 D.). Aber auch die Gottheit zeigt das Doppelantlitz aller Dinge; sie ist das Weltgesetz und die Harmonie und die Intelligenz, aber zugleich der Krieg und der Zufall: denn »das Lebensprinzip der Welt (so darf man wohl αἰών übersetzen) ist ein spielendes, würfelndes Kind; eines Kindes ist das Königtum«.

So wirft Heraklit die ganze bisherige Weltanschauung über den Haufen; weder für die Stofflehre der Milesier ist bei ihm Raum, noch für die Formenlehre der Pythagoreer, da er ihre Grundlage aufhebt, das Sein und die Anwendbarkeit der Denkgesetze auf die Welt. In schroffster Abweisung des Satzes des Widerspruchs sieht er ihr Wesen gerade in der Vereinigung des absolut sich Widersprechenden. Es ist nur konsequent, wenn seine Schüler, deren es noch zu Anfang des 4. Jahrhunderts in Ephesos eine ganze Schar gab, nach Platos Schilderung nur in Rätselworten sprachen, wie Rasende, und jeder Diskussion sowie jeder bestimmten Aussage auswichen, da es, wo alles in ewigem Fluß sei, eine Erkenntnis, ein Wissen überhaupt nicht geben könne1007. Heraklit hat diese Folgerung nicht gezogen; aber wenn er über das materielle Wesen der Welt positive Aussagen macht, wenn er in dem ewig lebendigen, ewig entstehenden und ewig verlöschenden Feuer den Grundstoff sieht1008, so begeht er eine handgreifliche [862] Inkonsequenz, die sich nur dadurch erklärt, daß er doch noch, sich selbst unbewußt, im Banne der milesischen Physiker steht, für die das Vorhandensein eines höchsten materiellen Prinzips (ἀρχή), eines Grundstoffs, aus dessen Wandlungen alles hervorging, das erste Postulat des Denkens war. Und nicht minder widerspruchsvoll ist das Verhältnis dieses materiellen Prinzips zu dem geistigen, zur Intelligenz, zur Gottheit. Es scheint nicht, daß Heraklit sich näher darüber ausgesprochen hat, ob er sich das Feuer zugleich als Weltseele, als identisch mit Gott und dem Weltgesetz gedacht hat. Ebensowenig klar ist seine Anschauung vom Schicksal der menschlichen Einzelseele. Sie ist ein ewig sich wandelnder Teil des Feuers und stirbt durch das Erlöschen des Feuers; nach dem Tode »harren ihrer Dinge, die sie nicht erwartet, noch vermutet« – eben das Gericht der Weltverbrennung – aber zugleich tritt sie in den ewigen Kreislauf ein, zuerst abwärts, dann wieder aufwärts zum Feuer, dem lebendigen Urstoff. Mochten das Widersprüche sein, das kümmerte den Logos nicht; war doch alles Widerspruch und nur in Rätselworten zu verkünden. Heraklit ist eben ein Prophet so gut wie die Sibylle und der Gott in Delphi, »der weder spricht noch verbirgt, sondern zeigt«. Es ist ganz verkehrt, ihn als Naturforscher, als Physiker zu betrachten wie die Milesier, obwohl er scheinbar nichts anderes getan hat als das Urprinzip des Wassers, der Luft, des Grenzenlosen durch das Feuer zu ersetzen. Die Beschreibung und Erklärung der physischen Erscheinungen ist für ihn etwas ganz Nebensächliches, worauf er sich nur so weit einläßt, wie es für seinen Zweck unerläßlich ist – und da fällt er in die primitivsten Vorstellungen zurück. Sein Weltbild bezeichnet, mit dem Anaximanders verglichen, um von Pythagoras ganz zu schweigen, einen [863] noch weit größeren Rückschritt als das des Anaximenes. Die Erde ist unten, der Himmel und das Feuer oben, Sonne und Mond sind hohle Wannen, die vom Feuer beleuchtet werden und durch Umkippen sich verfinstern; die Sonne ist nicht größer als sie scheint, »einen Menschenfuß breit«. Daneben hat er von dem verachteten Xenophanes den Satz übernommen, daß die Sonne im Osten sich entzündet und im Westen verlöscht, jeden Tag neu1009. – Eine Weltanschauung wie die Heraklits führt notwendig zur Mystik. Die Gottheiten des Volksglaubens hat er angegriffen wie die Aufklärer und Xenophanes, oder besser wie die Orphik und die hebräischen Propheten: »sie beten zu den Steinbildern wie wenn jemand mit den Häusern schwatzen wollte, und wissen nicht, was Götter und Heroen sind«; »wenn sie befleckt sind, reinigen sie sich mit Blut, wie wenn wer in Schmutz getreten ist, sich mit Schmutz waschen wollte«; aber die Mysterien sind ihm heilig, und die Götter können die Menschen sühnen und heiligen. Der religiösen Stimmung entspricht die pessimistische Anschauung des Lebens; aber so sehr er die Menschen verachtet, er will auf sie wirken, sie zur wahren geistigen und sittlichen Erkenntnis führen, die Unwissenheit und die Leidenschaften bekämpfen so gut wie Pythagoras, wenn auch auf ganz anderem Wege.

Durch die zündenden Worte, die Heraklit in das griechische Geistesleben hineingeworfen hat, hat er zum Denken angeregt wie kaum ein anderer Geist vor ihm und nach ihm. Er ist einer von den wenigen Menschen, dessen individuellste Gedanken fortleben durch alle Zeiten. Immer aufs neue sind sie in der weiteren Entwicklung hervorgebrochen; und nicht minder als das Altertum hat unsere Zeit die unvergleichliche Gewalt seiner Sprache wieder und wieder erfahren. Intuitiv, aus dem geheimnisvollen Schauen eines mächtig erregten Geistes heraus, der überall die Gegensätze fühlt und das Welträtsel erkennt, wo andere sich mit einfachen Formeln beruhigen, hat er das Erkenntnisproblem in den Mittelpunkt des Denkens gestellt. Aber einer systematisch [864] vorschreitenden wissenschaftlichen Forschung hat er durch die Negierung des Satzes vom Widerspruch den Weg nicht geöffnet, sondern versperrt; wenn A nicht gleich A, sondern gleich Nicht-A ist, ist keine Wissenschaft möglich. So ist die Philosophie als Wissenschaft von der Möglichkeit des Erkennens, als Metaphysik, nicht aus seiner Lehre und nicht in Ephesos entstanden, sondern aus den entgegengesetzten Gedanken in der Phokäerstadt Elea in Unteritalien. Hier hatte Xenophanes (Bd. III2 S. 762 nach langen Irrfahrten seine Heimat gefunden. Auch sein Denken war mehr noch als von der milesischen Naturforschung, deren Ergebnisse er durch neue Beobachtungen zu vermehren suchte, von religiösen Gedanken beherrscht. Bei dem Versuch, die Menschen zu belehren und zu richtigen Anschauungen zu erheben, war auch ihm die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens und der Mitteilung durch das Wort aufgegangen, aber nicht an dem Problem des ewigen Werdens, sondern an dem des Seins, an der Idee der einen alles umfassenden und durchdringenden ewigen Gottheit, die keinem Sinn und keinem Wort und Gedanken in ihrer Wesenheit faßbar ist; »denn der Schein ist über alles gebreitet«, und so ist es nur eine Scheinwelt, die wir sinnlich wahrnehmen und zu beschreiben versuchen. Auf der Grundlage, die er geschaffen hat, hat sein Schüler Parmenides (geb. um 515, o. S. 630) weitergebaut und sie nach allen Seiten hin erweitert und gefestigt1010. Die Summe seiner Lehre hat er um das Jahr 475 nach dem Beispiel [865] des Xenophanes in einem Gedicht zusammengefaßt1011; aber dieses Gedicht ist zugleich das erste System der Philosophie, das die Weltgeschichte kennt.

Auch Parmenides1012 hat den Versuch gemacht, in Fortbildung [866] der Lehren der älteren Forscher, nicht nur der Milesier und des Pythagoras, sondern auch des Heraklit, ein Bild der Sinnenwelt zu entwerfen, und er rühmt, »daß keiner der Sterblichen ihm mit seiner Auffassung den Rang werde ablaufen können«. Wie Heraklit findet auch er in der Natur zwei polare Gegensätze; aber er faßt sie nicht wie dieser oder wie die milesischen Physiker als verschiedene, in ewigem Wechsel begriffene Erscheinungsformen des einen Urstoffs, sondern als zwei scharf voneinander geschiedene Urelemente: auf der einen Seite »das ätherische Flammenfeuer, milde und sehr leicht«, auf der anderen »die lichtlose Finsternis, ein dichtes und schweres Gebilde«. Jenes tritt rein in den Gestirnen (Sonne, Venus, Fixsterne) hervor, dies in der Erde. Die übrigen Stoffe, wie Luft und Wasser, sind durch Absonderung aus diesen beiden entstanden, analog dem doppelten Kreislauf Heraklits. Die beiden Urelemente liegen teils in »Kränzen«, d.i. wahrscheinlich konzentrischen Ringen, nebeneinander, teils sind sie gemischt, so in den mittleren Weltringen, d.i. wie es scheint den Sphären der Planeten und vor allem des aus beiden Elementen gemischten Mondes, der nur durch fremdes, von der Sonne geborgtes Licht leuchtet und daher auch seine Gestalten wandelt, ferner in der Milchstraße, die aus Licht und Finsternis gemischt ist. Wie das Weltall eine fest wie mit einer Mauer umgrenzte Kugel ist, so auch die Erde in seiner Mitte. Parmenides ist der [867] erste, der die Pythagoreische Lehre von der Kugelgestalt der Erde literarisch vertreten und in seiner Zonenlehre weiter ausgebildet hat: nur die schmalen gemäßigten Zonen sind bewohnbar, nicht die kalten und die große, weit über die Wendekreise hinausgreifende heiße Zone. In dem mittelsten der gemischten Kränze zwischen Erde und Himmel haust die Gottheit, die alles lenkt und durch Eros, den ersten der Götter, die sie ersonnen hat, aus der Mischung der Geschlechter alle lebendigen Wesen erzeugt. Auch im Menschen sind beide Elemente gemischt, sowohl physisch, was in phantastischer Weise, wie es scheint im Anschluß an die Lehre des Alkmäon (o. S. 846f.), weiter ausgeführt wird, wie geistig. Durch die stoffliche Verwandtschaft mit den Elementen vermitteln die Sinnesorgane die Wahrnehmung, und auf ihnen beruht das Denken eines jeden; daherschwankt es, ebenso wie bei Heraklit, je nach der augenblicklichen stofflichen Zusammensetzung der Organe: das Element, das in jedem einzelnen Falle überwiegt, bestimmt Wahrnehmung und Gedanken. – »So sind der auf die sinnliche Wahrnehmung begründeten Lehre gemäß« – so dürfen wir κατὰ δόξαν wiedergeben, wenn wir den Sinn, den Parmenides damit verbindet, erschöpfen wollen – »diese Dinge entstanden und sind jetzt und werden, da sie gewachsen sind, in Zukunft auch ihr Ende nehmen; jedem von ihnen aber haben die Menschen seinen bezeichnenden Namen beigelegt.«

So sehr Parmenides' Weltbild von dem weit naiveren des Xenophanes abweicht, die Grundanschauung, die seine Physik von der milesischen unterscheidet, hat er ihm entlehnt: den Dualismus, die Annahme zweier entgegengesetzter Urstoffe; nur waren es bei Xenophanes Erde und Wasser, nicht Erde und Feuer. Aber nur um so schwerer tritt der schon bei Xenophanes erwachende Einspruch hervor, den das menschliche Denken gegen ein derartiges Weltbild erhebt. Zum erstenmal gelangen die Antinomien zum Bewußtsein, in welche die menschliche Vernunft sich verwickelt, wenn sie die Welt begrifflich zu erfassen versucht; und sofort machen sie mit überwältigender Wucht sich geltend. Entstehen und Vergehen, Bewegung und Veränderung, kurz alles Werden postuliert ja einen Übergang von nicht Vorhandenem [868] zu Vorhandenem, von Nichts zu Etwas; wie aber ist das denkbar? Die primäre Tatsache, von der alles Denken ausgeht, ja die mit ihm identisch ist, ist das Sein; der Begriff des Seins aber duldet schlechthin keine Veränderung. Das Sein kann weder aus dem Nichts hervorgehen, noch zu Nichts werden; es ist ewig und unveränderlich, folglich weder entstanden noch vergänglich noch beweglich. Es ist absolut und nach Parmenides ausschließlich positiv bestimmbar; jede negative Aussage würde es einschränken und dadurch aufheben. Denn noch ist das Wesen der logischen Verknüpfung von Subjekt und Prädikat nicht erkannt – das hat erst Plato getan –; so glaubt man, daß durch jede Aussage das Dasein des Subjekts ausgesagt werde, und das scheint damit, daß es etwas nicht sein soll, in absolutem Widerspruch zu stehen1013. Daher ist auch die Annahme einer gegenseitigen Begrenzung verschiedener Dinge und vollends die Annahme zweier Urstoffe, welche die Sinnenwelt postuliert, ebenso unmöglich wie die eines Leeren neben dem Seienden, dessen Existenz, als dessen, was die einzelnen Körper trennt und begrenzt, die Pythagoreer behaupten. Denn das Leere ist lediglich ein negativer Begriff, von dem man mithin unmöglich behaupten kann, es sei; und auch von den beiden Stoffen ist zwar der eine lebendig, leuchtend, positiv, der andere aber das Gegenteil von dem allem und mithin negativ. – So besteht ein absoluter und unüberbrückbarer Widerspruch zwischen der Sinnenwelt und der Welt, die sich aus den reinen Verstandesbegriffen aufbaut. Nur die eine von beiden kann die wahre Welt sein. Für Parmenides ist die Entscheidung nicht zweifelhaft: nicht von der Gewohnheit darf der Mensch sich beirren lassen, noch dem Auge, dem Ohr, der Zunge folgen, sondern [869] mit dem Verstande soll er urteilen und entscheiden. Die Sinnenwelt ist Täuschung und Blendwerk; über sie kann es daher nur Meinungen der Menschen geben, keine Wahrheit. Schlechthin zu verwerfen ist der Wahn, »der Sein und Nichtsein für dasselbe und nicht dasselbe erklärt und behauptet, bei allem gebe es einen rückwärtsgewandten Weg«, d.h. die Lehre Heraklits. Diese Leute sind »Doppelköpfe, nichtswissende Sterbliche, in deren Brust Ratlosigkeit den schwanken Sinn lenkt«. Aber mehr als Irrtum und trügerische Meinung ist auch die richtigere Auffassung der Sinnenwelt nicht, die Parmenides selbst entwickelt; denn sie beruht auf dem Glauben, daß Nichtsein existiere, und zwar notwendig existiere. Die Einbildung gaukelt dem Menschen zwei Urstoffe vor, aus deren Wechselwirkung sich die Welt zusammensetze, während es doch nur einen geben kann; und so sind »Werden und Vergehen, Sein und Nichtsein, den Ort verändern und die Farbe wechseln nichts als Worte, die die Sterblichen festgelegt haben in der Überzeugung, es sei wahr«. In einer großartigen Allegorie schildert Parmenides den Weg, der ihn zur Erkenntnis der Wahrheit geführt hat. Sein Denken, das Roßgespann, das ihn trägt, führt ihn weiter und weiter auf dem vielgepriesenen Pfad der Göttin, d.i. der Erkenntnis, geleitet von lichten Götterjungfrauen, der Intuition des Denkens. Die Achse knirscht in der Nabe, je weiter er vorwärts dringt; er gelangt aus dem Hause der Nacht, des Wahns, der negativen Materie des Dualismus, an das Tor des Lichts, der Substanz, der Erkenntnis. Da werfen die Heliostöchter den Schleier ab, das Recht (Δίκη, auch Θέμις), das nach dem Zwange der Denkgesetze (ἀναγκη)1014 über das Urteilen entscheidet, das die Begriffe in den festen Banden der Realität hält, öffnet die Pforte: er erschaut die Göttin, die ihm die Wahrheit verkündet und zugleich über das Reich der Meinung die scheinbarste Hypothese offenbart. »Das methodische Denken läßt nur einen Ausspruch übrig: es ist (μοῦνος δ᾽ ἔτι μῦϑος ὁδοῖο λείπεται, ὡς ἔστιν).« Ein ewiges Sein, »ungezeugt und unvergänglich, ganz, [870] eingeboren, unerschütterlich und ohne Ende«. Auch eine zeitliche Aussage ist auf dasselbe nicht anwendbar, denn sie enthält die Negation, den Wahnbegriff des Werdens: »es war nicht und es wird nicht sein, denn es ist jetzt allzusammen eins und kontinuierlich«. Das ist die Summe aller wahren Erkenntnis: eine Substanz, denknotwendig und identisch mit dem Gedachten – denn «in jedem Denken ist der Begriff des Seins ausgesprochen» und daher «Denken und Objekt des Denkens identisch» oder auch einfach «Denken und Sein identisch» –, der Inbegriff aller positiven Prädikate, ausgedehnt, gleichmäßig und ohne Intervalle und ohne innere Grenzen und Unterschiede nach allen Seiten hin den Raum erfüllend, aber notwendig nach außen festbegrenzt – denn sonst wäre es nicht vollendet – in der Gestalt des vollkommenen Körpers, der Kugel, unbeweglich und ohne Anfang und Ende, jedes Nichtsein, d.h. jede andere Existenz ausschließend. In der Welt des Meinens entspricht ihm das Element des Lichten und des Feuers, das hier beschränkt und vermischt ist durch das Nichtseiende, das erdige Element des Finsteren. Aber in der unerschütterlichen Konsequenz seines Denkens hat Parmenides sich wohl gehütet, diese Anschauungen der Sinnenwelt in die Substanzlehre hineinzutragen; nur in der Allegorie klingen sie an. Eine Brücke zwischen beiden Welten zu schlagen und etwa zu erklären, wie aus der denknotwendigen Welt des Seins die Scheinwelt der Phänomene hervorgegangen sei, ist von seinem Standpunkt aus vollkommen unmöglich. Ebenso vermeidet er, obwohl sein Denken sich aus dem des Xenophanes entwickelt hat, konsequenter als Spinoza, peinlich, seine Substanz als Gottheit zu bezeichnen. «Das Seiende», damit ist alles gesagt; und eben darin beruht der gewaltige Fortschritt von einer idealen Religionsphilosophie zur Metaphysik der reinen Begriffe1015.

[871] Wohlgerundet, nach allen Seiten hin abgeschlossen wie seine Substanz tritt uns der gewaltige Bau des »großen« Parmenides, wie Plato ihn nennt, entgegen. Die Erklärung der Sinnenwelt gestattet und erfordert mannigfache Hypothesen, von denen er diejenige aufgestellt hat, die ihm am probabelsten erscheint; aber sobald sich der Gedanke dem abstrakten Reich der Begriffe, der Denknotwendigkeiten, zuwendet, versinkt sie ins Nichts. Seine Schüler haben seine Lehre weiter zu begründen und bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen unternommen. Zeno von Elea (o. S. 629, 3), etwa 25 Jahre jünger als der Meister, hat die Widersprüche dargelegt, in die sich das Denken bei dem Versuch, den Vorgang der Bewegung verstandesgemäß zu begreifen, hoffnungslos verwickelt, und die damit eng verwandten ebenso unlösbaren Probleme, zu denen die unendliche Teilbarkeit jeder räumlichen Größe das Denken führt. Zeno sucht dadurch die Unmöglichkeit der Scheinwelt und die Alle inexistenz des Seienden zu erweisen. Aber eben damit legt er zugleich diesem die Axt an die Wurzel: der Seinsbegriff wird so vollständig inhaltsleer, daß er vom Nichts nicht mehr zu unterscheiden ist. – Etwa um dieselbe Zeit hat der Samier Melissos, der uns bereits als Feldherr seiner Heimat im Kampf gegen Athen begegnet ist (o. S. 715), die Lehre des Parmenides in leicht faßlicher Darstellung methodisch zu erweisen versucht. Seine Schlüsse sind freilich vielfach ziemlich trivial und unzutreffend ausgefallen. Von dem Lehrer weicht er darin ab, daß er das Seiende für (räumlich) unendlich erklärt, weil es (zeitlich) weder Anfang noch Ende habe, und daß er seine Körperlichkeit leugnet, denn sonst hätte es Teile und wäre nicht eins. Auch hat er ausdrücklich ausgesprochen, daß man über die Götter nichts aussagen dürfe, weil eine Erkenntnis über sie unmöglich sei. Indessen nicht in diesen Sätzen liegt seine Bedeutung, sondern [872] darin, daß er die Ostgriechen mit der eleatischen Lehre, dem diametralen Gegensatz wie zu Heraklit so zur Naturlehre der Milesier, bekannt gemacht hat (vgl. Polybos [Hippokr.] de nat. hom. 1).

Neben den großen grundlegenden Systemen sind im Laufe des 5. Jahrhunderts zahlreiche andere aufgestellt worden, teils Fortbildungen, teils Vermittlungsversuche. Wir kennen mehrere Pythagoreer, die physikalische Systeme veröffentlichten; so der Arzt Alkmäon von Kroton (o. S. 846f.), Hippasos von Metapont, der vielleicht schon vor Heraklit das Urelement im Feuer suchte, später Philolaos von Kroton und Ekphantos von Syrakus. Auch der Dichter Ion von Chios (o. S. 766) hat sich in einer Schrift »Die Dreigänge« (τριαγμοί) an philosophischen Fragen versucht. In einer Variation der Pythagoreischen Zahlenlehre suchte er überall die Dreiheit als das Maßgebende nachzuweisen, so im Stofflichen Feuer, Wasser, Luft; die höchste Dreiheit aber sind die das menschliche Schicksal beherrschenden Mächte »Einsicht, Macht und Zufall«1016. Ganz von Parmenides ist Empedokles von Agrigent (o. S. 622) beherrscht, in seinen Lehren wie in der poetischen Form ihres Vortrags. Aber er hält sich im Bereich der δόξα, für die er statt der »trügerischen Erklärung« des Parmenides eine »nicht trügerische Erklärung« geben zu können behauptet. Die zwei Urstoffe ersetzt er durch vier: Feuer, Luft, Wasser, Erde, d.i. zugleich das Warme und Kalte, Feuchte und Trockene, eine Lehre, die auch Zeno aufgenommen hat (o. S. 867 Anm.) und die bekanntlich schließlich allen anderen Hypothesen, die sie zu vereinigen schien, den Rang abgelaufen hat. Damit verband er einerseits den heraklitischen Gedanken des Kampfes der Gegensätze, der Prinzipien der Zuneigung (Freundschaft, Liebe) und des Haders, andererseits orphisch-pythagoreischen Mystizismus; und das Ganze war überströmt von dem Nimbus des wundertätigen Heilkünstlers und Charlatans, der das eigentliche Wesen des Mannes ausmachte. Im [873] Osten dagegen dominierte noch durchaus die Stofflehre der Milesier; denn Heraklit hat hier, anders als bei den Denkern des Westens, zunächst noch wenig gewirkt. Eine neue Gestalt hat ihr Anaxagoras von Klazomenä (ca. 500-428 v. Chr.) gegeben. Sein großes Vermögen hat er vernachlässigt oder verschenkt, um ganz der Versenkung in die Forschung zu leben. Er ist früh nach Athen übergesiedelt, wo er einen Schülerkreis um sich sammelte und sein Lehrbuch veröffentlichte; das nahe Verhältnis, in dem er zu Perikles stand, ist schon erwähnt worden. Auch für ihn gilt der Grundsatz der milesischen Physik von der Ewigkeit der Materie, den nur Heraklit verworfen hat, während Parmenides aus ihm so ganz andere Konsequenzen zog. Anaxagoras hat ihn zuerst bestimmt formuliert: »kein Ding kann entstehen oder vergehen«. Daraus folgert er: »die Hellenen reden mit Unrecht vom Entstehen und Vergehen, sondern aus vorhandenen Dingen geht das Bestehende durch Mischung und Scheidung hervor.« Ebenso lehrte Empedokles, mit dem überhaupt Anaxagoras trotz des diametralen Gegensatzes ihrer Persönlichkeiten nahe verwandt ist. Aber Anaxagoras schloß daraus nicht auf vier Elemente, sondern auf unzählige, unendlich teilbare, jedoch qualitativ verschiedene »Dinge« oder »Samen« von äußerster Kleinheit. Aus ihnen bauen sich alle Körper auf. Gerade die Elemente des Empedokles sind am stärksten gemischt; denn sie enthalten die Samen aller organischen und unorganischen Stoffe in sich. »Alles enthält Teile von allem.« – Eine direkte Einwirkung des Parmenides auf Anaxagoras können wir nirgends nachweisen; aber der Ausgangspunkt ist allerdings bei beiden derselbe, der Widerspruch zwischen dem Denkgesetz der Beharrlichkeit und der milesischen Hypothese des einen sich fortwährend verändernden Urstoffs. Um die Realität der Sinnenwelt zu retten, verlegt Anaxagoras die Einheit in die kleinsten Teile, deren Bestand sich weder quantitativ noch qualitativ ändern kann. So ersetzt er das Werden und Vergehen durch das mechanische Prinzip der Bewegung. Damit aber führt er einen neuen Begriff in die Physik ein. Die Erklärung bietet ihm die Betrachtung der lebenden Wesen. Wie in diesen allen ein geistiges Element sitzt, das sie beherrscht und regiert, so auch in der Welt als Ganzem. [874] Es ist das ewig lebendige Element, gleichfalls stofflich gedacht, aber leichter als alle anderen und mit ihm nicht vermischt, sondern sie regierend, mischend und trennend und dadurch gestaltend, der Nûs, die Weltseele, oder richtiger der Kraft- und Denkstoff. Der Nûs hat zu Anfang, als noch all die unzähligen Stoffpartikeln zusammen waren, den Anstoß zu der großen Umdrehung gegeben, die seitdem die Welt bewegt. Die Entstehung der Einzeldinge denkt sich Anaxagoras rein mechanisch, in derselben Weise wie die Atomistik und die moderne Naturwissenschaft. Das Prinzip des Nûs tritt völlig zurück; er hat den entscheidenden Stoß gegeben, und dieser wirkt nun in Ewigkeit weiter. – Um die Einzelerklärung der Erscheinungen hat sich Anaxagoras sehr ernstlich bemüht. Auch mit mathematischen Untersuchungen und z.B. im Anschluß an die Dekorationsmalerei der attischen Bühne mit den Problemen der Perspektive, ferner mit allegorischer Homererklärung hat er sich beschäftigt, die dann sein Schüler Metrodoros von Lampsakos (o. S. 842) weiter ausgeführt hat. Aber hier zeigt sich erst die wissenschaftliche Bedeutung der mathematischen Entdeckungen und der mathematischen Methode des Pythagoras in ihrer ganzen Größe. Auf diesem Gebiete ist der Osten der griechischen Welt dem Westen gegenüber noch völlig rückständig: Anschauungen, die hier jedem Denker von Jugend auf völlig vertraut waren, sind dem Osten gänzlich unbekannt oder werden geringschätzig beiseitegelegt. Anaxagoras steht noch auf dem Standpunkt, den ein Jahrhundert vor ihm Anaximander eingenommen hatte. Er hat die Nilüberschwemmung (o. S. 754f.), einen Meteoritenfall und anderes ganz rationell erklärt; er weiß, daß der Mond eine andere Erde ist, die ihr Licht von der Sonne erhält, er erklärt die Sonne für »einen im Feuer glühenden Stein«, und zwar ist sie »größer als der Peloponnes«! Das war für ihn, der naiven Volksanschauung gegenüber, die Heraklit teilt, etwas Großes; bei einem Pythagoreer oder Eleaten konnte es nur Lächeln erregen. Und die Erde vollends liegt als Scheibe in der Mitte des Weltalls wie ein Deckel auf der unteren Luft, die sie durch ihren Druck hält. – Neben diesen Lehren hat sich die altmilesische Anschauung von der Einheit des Urstoffs erhalten. Um den Beginn des [875] Peloponnesischen Kriegs haben zwei Männer durch ihre Repristinierung ziemliches Aufsehen gemacht, Hippon von Samos, der zur Abwechslung wieder einmal im Wasser den Urstoff suchte, und Diogenes von Apollonia auf Kreta, der die Lehre des Anaximenes von der Luft in zeitgemäße Form brachte. »Wenn die verschiedenen sinnlich wahrgenommenen Bestandteile dieser Welt, wie Erde, Wasser usw., wesensverschieden wären, könnten sie sich nicht verwandeln noch vermischen noch beeinflussen.« Also ist alles eines Ursprungs, und zwar Luft. Diese ist zugleich das belebende und denkende Prinzip – die überlegene Intelligenz der Menschen kommt daher, daß sie aufrecht gehen und durch die Nase reinere Luft einziehen als die an der Erde haftenden Tiere – und weiter die welterhaltende Gottheit Zeus usw. So absurd diese und ähnliche Lehren schienen und so sehr sie den Spott hervorriefen, so hat doch namentlich Diogenes auch viel Anklang gefunden, so bei manchen Medizinern (de flatibus); auch Herodots Windlehre (o. S. 755) ist wohl von ihm beeinflußt. Ähnliche Anschauungen vertraten Archelaos von Athen, ein Schüler des Anaxagoras, der zugleich über die Entwicklung der Begriffe spekulierte, Idäos von Himera u.a.

Anaxagoras hat die Realität der Sinnenwelt dadurch zu retten gesucht, daß er die Körper in unzählige kleine Bestandteile auflöste und ihnen selbständig das Element der Bewegung gegenüberstellte. Aber ließ sich nicht beides vereinigen? Ließen sich nicht alle Erscheinungen dennoch einheitlich erklären, auch wenn man den Grundgedanken zugab, der zu diesem Dualismus geführt hatte! Diesen Versuch hat die atomistische Theorie unternommen. Sie ist die Schöpfung des Leukippos, wahrscheinlich eines Milesiers, der aber wie Melissos seine geistige Anregung den Eleaten verdankt und wohl deshalb häufig als Eleat bezeichnet wird1017. Dann hat er sich in der blühenden Stadt Abdera niedergelassen und hier eine Schule gegründet. Seinen bedeutendsten Schüler und zugleich [876] den Vollender seines Systems gewann er in Demokrit, dem Sohn eines wohlhabenden Abderiten (geb. um 460 v. Chr.)1018. Das geistige Eigentum beider zu sondern ist für uns unmöglich, da in der literarischen Produktion Leukipp ganz hinter seinen Schülern zurücktrat. Von den alten Forschern kennen ihn nur Aristoteles und Theophrast, der das Hauptwerk der Atomistik, die sonst unter Demokrits Namen gehende »große Weltordnung« (μέγας διάκοσμος), für ein Werk Leukipps erklärte; dagegen hat Epikur die Existenz Leukipps überhaupt bestritten. Sicher ist, daß Leukipp seine Grundlehren spätestens gegen 430 veröffentlicht haben muß; denn Diogenes von Apollonia hat sie für seinen synkretischen Monismus benutzt und selbst eine so charakteristische Anschauung wie den Wirbel (δίνη) der Atome auf das feuchte Urelement übertragen; daher spottet Aristophanes 423 in den »Wolken«, wo er die Lehren des Diogenes dem Sokrates zuschreibt, über den »König Wirbel, der den Zeus entthront hat«1019. – Wie Parmenides kennt auch Leukipp nur eine ewige und unveränderliche Substanz. Aber diese Substanz tritt uns in der realen Welt sinnlich entgegen, nicht in einer die Realität des Daseins aufhebenden Gedankenwelt. Sie ist nicht eine kontinuierliche Einheit, sondern besteht aus unendlich vielen massiven und raumausfüllenden Punkten (ναστὰ καὶ πλήρη), die nicht weiter teilbar sind, den Atomen – d.h. um die Realität der Materie zu retten, wird die vom Denken geforderte [877] und von der Mathematik vorausgesetzte Teilbarkeit ins Unendliche für die reale Welt geleugnet. Neben der Materie existiert, wie im Gegensatz zu Parmenides die Pythagoreer fordern, der leere Raum, das »Nichtseiende«, der die Atome voneinander trennt und ihre Bewegung sowie ihr Eindringen in die Körper durch Kanäle oder Poren (πόροι – ebenso Empedokles) ermöglicht. Aber diese Atome sind nicht, wie die »Samen« des Anaxagoras, qualitativ, sondern nur nach Gestalt und Größe verschieden, und zwar in unendlicher Mannigfaltigkeit, so daß alle Gestalten erschöpft werden: »denn es gibt keinen Grund, warum sie eher so als so gestaltet sein sollten«. Außerdem haben sie die Eigenschaft, sich ununterbrochen zu bewegen; infolge ihrer verschiedenen Form stoßen sie dabei aneinander. Durch den Anprall entsteht der »Wirbel«, der sich immer weiter durch die Welt der Atome fortsetzt. Dadurch wird die Annahme eines gesonderten Bewegungselements, das Anaxagoras postuliert hatte, unnötig. Ein einziges ewiges Naturgesetz beherrscht die gesamte Welt. »Kein Ding«, sagt Leukipp in einer Schrift über den Nûs, die wahrscheinlich direkt gegen Anaxagoras gerichtet war, »entsteht spontan, sondern alles nach Gesetz und Notwendigkeit« (οὐδὲν χρῆμα μάτην γίγνεται, ἀλλὰ πάντα ἐκ λόγου τε καὶ ὑπ᾽ ἀνάγκης). Durch den Wirbel sondern sich die Dinge; die Atome verketten sich mit ihren Auswüchsen aneinander oder prallen voneinander ab; Gleiches gesellt sich zu Gleichem, an der einen Stelle drängen sie sich zusammen, an einer anderen bewegen sie sich weitgetrennt im leeren Raum. So bilden sich unzählige Welten, die entstehen und vergehen. In der unseren sammeln sich die größeren und daher schwereren Atome in der Mitte als Erde, die leichteren nach außen, als umschließende »Häute«. Auch die Seele, das wahrnehmende und denkende Element in den lebenden Wesen – die beiden geistigen Tätigkeiten werden noch nicht geschieden –, ist nicht etwa von der übrigen Materie verschieden, sondern besteht nur aus besonders feinen, kugelrunden und daher fortwährend beweglichen Atomen nach Art des Feuers – hier ist der Einfluß Heraklits unverkennbar –, die durch den ganzen Leib zwischen die Atome des Körpers verteilt sind und so die Bewegung desselben verursachen. Damit ist zugleich der Gedanke [878] rein herausgebildet, der latent bereits der Naturerklärung der Milesier zugrunde lag. Die Belebtheit der Materie ist freilich aufgegeben, aber Kraft und Stoff sind identisch, die Bewegung ist ein notwendiges und von ihr untrennbares Attribut der Materie. So ist eine streng einheitliche, rein mechanische und materialistische Weltanschauung erreicht: »es gibt nichts als die Atome und das Leere«. Der qualitative Unterschied der einzelnen Naturkörper beruht, soweit er der realen Welt angehört, ausschließlich auf der verschiedenen Lagerung und Gestalt der stofflich gleichartigen Atome, soweit er subjektiv ist, auf den Sinneseindrücken, die durch materielle »Ausflüsse«, auch Abbilder (εἴδωλα)1020 der Dinge genannt, vermittelt werden – eine Lehre, die wie die von den Poren dem Empedokles entlehnt ist. Daher sind diese nichts Objektives, sondern individuell verschieden und konventionell. »Nach menschlicher Satzung (νόμῳ – im Gegensatz zu dem von Natur Gegebenen, Realen, φύσει) ist etwas süß oder bitter, warm oder kalt, auf Satzung beruht die Farbe; wirklich sind nur die Atome und das Leere. Das, was nach den Sinneseindrücken für existierend gehalten wird, ist der Wahrheit gemäß nicht vorhanden.« »Wir können in Wahrheit zu einer Erkenntnis, wie beschaffen ein jedes Ding ist oder auch nicht ist, nicht gelangen.« »Der Mensch muß nach dieser Richtschnur erkennen, daß er von der Wahrheit entfernt ist.« »Auch diese Überlegung zeigt, daß wir in Wahrheit von nichts etwas wissen; sondern nach dem Zufluß von außen bildet sich jeder seine Meinung.« – Das sind Sätze und Lehren Demokrits, von denen bei Leukipp höchstens die ersten Keime vorgebildet waren. Sie zeigen unverkennbar bereits den Einfluß der Gedankenwelt, aus der die Sophistik erwachsen ist, und wohl zweifellos des Protagoras selbst. Aber sie sind nicht zu entbehren, um das System in seiner Totalität zu übersehen. Wie Demokrit die Lehren des Meisters nach allen Seiten hinausgebaut und ergänzt hat, kann dagegen erst in einem späteren Zusammenhang dargestellt werden.

Die atomistische Lehre hat auf ihre Zeit und auf die nächste Generation nur sehr geringe Wirkung ausgeübt; erst Aristoteles [879] hat sie hervorgezogen und in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung gewürdigt. Dann hat Epikur, in direkter Anknüpfung an Demokrit, wenn auch mit manchen Modifikationen im einzelnen, sie zur Basis eines lediglich auf ethische Zwecke abzielenden Systems gemacht. Erst zweitausend Jahre nachdem sie aufgestellt war, ist sie durch die moderne Naturwissenschaft zu grundlegender und stets wachsender wissenschaftlicher Bedeutung gelangt. Das hat dazu geführt, die Bedeutung, die ihr an sich innewohnt, sowohl als wissenschaftlichem System, wie im Zusammenhang der griechischen Entwicklung, gewaltig zu überschätzen. Wohl imponiert die Geschlossenheit ihres Baus; aber trotzdem steht sie ihrem philosophischen Wert nach nicht höher, sondern auf dem gleichen Niveau mit den übrigen physikalischen Systemen ihrer Zeit: sie alle wollen das Ergebnis einer methodischen Naturerklärung vorwegnehmen, das, wie für seine Kunst Hippokrates ausgesprochen hat, wenn überhaupt, so nur durch eine angestrengte und entsagende Arbeit von Generationen zu erreichen war. Daß die Atomistik durch Epikur und durch die moderne Naturwissenschaft zu alles überragendem Ansehen gelangt ist, beruht doch nur darauf, daß jener sie als ein bequemes System ergriff, um rein dogmatisch alle Naturerklärung für erledigt zu erklären und für einen naturalistischen Eudämonismus Raum zu gewinnen, mit dem der Mensch sich zufrieden geben könne, während umgekehrt die moderne Naturwissenschaft durch Annahme der Atomistik alle metaphysischen Probleme beiseitegeschoben hat, um sich ungestört ihrer Aufgabe, der Erforschung und Beschreibung der Einzelvorgänge, zuwenden zu können. Als eine derartige Hilfshypothese hat die Atomistik volle Berechtigung; aber im Sinne Leukipps und Demokrits will sie etwas ganz anderes sein, nämlich ein metaphysisches System, das alle Welträtsel zu lösen vermag. Scheinbar erreicht sie ihr Ziel, indem sie den von ihr konstruierten Stoffteilchen Unteilbarkeit und immanente Bewegung zuschreibt; damit wähnt sie die von Parmenides aufgestellten Denknotwendigkeiten aufgehoben zu haben. In Wirklichkeit freilich hat sie nichts anderes getan, als daß sie mit einem geschickten Kunstgriff die Widersprüche, die sie nicht beseitigen kann, in die Definition verlegt. So [880] tritt denn in der Lehre von der Sinneswahrnehmung die Achillesferse des Systems deutlich zutage: hier entpuppt sich die einzig reale Welt der Atome, deren alleinige Wahrheit noch in demselben Atemzug so stolz und sicher verkündet ward, mit einemmal als eine Welt des Scheins und der Meinung, ganz wie Parmenides behauptet hatte. Aus dem Zirkel, daß das Erkenntnisvermögen aus Dingen erklärt werden soll, die nur durch eben dieses Erkenntnisvermögen selbst dem Bewußtsein vermittelt werden, kommt kein derartiger Erklärungsversuch heraus.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 853-881.
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