Die Kultur Siziliens

[612] Wenn es auf Sizilien an äußeren und inneren Kämpfen auch nach dem Sturz der Tyrannen keineswegs gefehlt hat, so hat doch die ganze Insel und jede einzelne Stadt in dieser Zeit einen gewaltigen Aufschwung genommen. Zwischen den blutigen Schlachten der ersten wirren Jahre, dem Sikelerkrieg, dem Kriege zwischen Syrakus und Agrigent lagen, wie schon in der Tyrannenzeit, lange Friedensjahre, und wenn in den wechselvollen inneren Bewegungen die Unsicherheit aller Verhältnisse immer aufs neue hervortrat, so ist doch das Bestreben unverkennbar, sich vor den ärgsten Ausschreitungen zurückzuhalten; bei der Stärke der Gegensätze ist es ein Ruhm für alle Parteien, daß seit 461 blutige Revolutionen vermieden worden sind. Die steigende Prosperität, welche die ganze griechische Welt ergriffen hatte, kam auch der Insel zugute. Jedem Gegner konnte man sich gewachsen und überlegen fühlen; die alten Feinde, Karthager und Etrusker, waren zurückgeworfen und wagten keinen Angriff mehr. Auch in den nichtgriechischen Teilen der Insel drang die hellenische Kultur mächtig vorwärts. Wie die Sikelerstädte (o. S. 608) haben die Elymer von Segesta, Eryx, Entella griechische Münzen geprägt, daneben solche in einheimischer Sprache und griechischer Schrift; auch die Phönikerstädte Motye und Panormos prägten sowohl mit phönikischer wie [612] mit griechischer Legende, letzteres sogar unter seinem griechischen Namen (der phönikische war ץיצ Ṣîṣ; s. Bd. II2, S. 106)733. In der kleinen sikelischen Landstadt Inykon fand wenig später der Sophist Hippias für seine Vorträge ebensoviel Zulauf wie in den regsten Griechenstädten734. Der Landbau hat zweifellos an Ausdehnung und Intensität zugenommen; im Gegensatz zu den großen Städten des Mutterlands war man in Sizilien nicht auf fremden Import angewiesen. Neben Getreide produzierte man namentlich Wein und Öl, vor allem auf dem ausgedehnten Gebiet von Agrigent. Ein reger Handel verband die Insel nicht nur mit dem Mutterland, und hier in stets wachsendem Maße mit Athen, und mit Italien – neben den griechischen Städten namentlich, wie die vielen sizilischen Lehnworte im Lateinischen bezeugen, mit Rom-, sondern auch mit Karthago735. Außer den Produkten des Landbaus wurden Industrieerzeugnisse exportiert; besonderen Ruhm genossen in der griechischen Welt die sizilischen Wagen. In Großstädten wie Syrakus hat sich zweifellos eine rege Industrie entwickelt. Die Bevölkerung wuchs rasch und noch rascher der Wohlstand. Die ganze Entwicklung drängte auf die Bildung großer Vermögen hin; die wiederholten Besitzwechsel und Neuaufteilungen der Feldmark führten dazu, daß die Reichen das Land in weitem Umfang aufkauften und ein großer Teil des Grundbesitzes sich in wenigen Händen konzentrierte. Ihnen gegenüber stand in den Großstädten ein zahlreiches Proletariat; auch die Sklavenschaft mehrte sich rasch, teils durch die Kriege, teils durch Kauf und Raub. So bestand ein scharfer Klassengegensatz, der in den politischen Kämpfen jederzeit hervortritt736.

[613] Die allen schnell aufblühenden Kolonien natürliche Raschheit und Leichtigkeit des Lebens wird durch den jähen Wechsel in den Geschicken der Staaten wie der Einzelnen nur noch gesteigert. Je unsicherer die Zukunft, je prekärer der Besitz ist, desto mehr will man den Moment genießen, desto geneigter ist man auch, alles auf eine Karte zu setzen. »Die große Bevölkerungszahl der Städte«, läßt Thukydides den Alkibiades sagen, »beruht darauf, daß sie von zusammengewürfelten Massen bewohnt sind; so vollziehen sich Verfassungsänderungen und Aufnahme fremder Elemente leicht. Daher betrachtet denn auch niemand seinen Wohnsitz als sein Vaterland; weder ist er selbst militärisch ausgerüstet und bewaffnet, noch hat er auf seinem Grundbesitz dauernde Anlagen errichtet; ein jeder versucht sich zu verschaffen, was er durch den Einfluß seiner Redegewandtheit oder auch im Bürgerzwist vom gemeinen Gut erraffen kann, um es, wenn er einen Fehlschlag erleidet, in ein anderes Land mit sich fortzunehmen.« Das Maßhalten fehlt völlig, das den Anschauungen des Mutterlands – mochte Demokratie oder Aristokratie herrschen – als das höchste Gesetz der Lebensweisheit und des Lebensgenusses galt. Prunk und Genußsucht sind der Grundton des sizilischen Lebens – recht im Gegensatz zu dem angeblichen dorischen Nationalcharakter, der nach einer phantastischen Geschichtsauffassung den Schlüssel für das Verständnis der griechischen Geschichte gewähren soll. Die Reichen lieben mit ihrem Reichtum zu prunken, glänzende Feste zu feiern, in üppigen Gewändern und mit zahlreichem Gefolge aufzutreten, in prächtigen Häusern zu wohnen, den Freuden der Tafel [614] und der Liebe bis zum Übermaß zu huldigen; die sizilische Kochkunst wurde berühmt. Wie die Großen der Tyrannenzeit huldigen sie mit Eifer dem Rennsport und üben die großartigste Gastfreiheit; verschwenderisch spenden sie der Menge bei Staats- und Familienfesten. Dadurch suchen sie zugleich ihren Einfluß zu steigern und sich für den Fall eines Umschlags Popularität und Existenz zu sichern. Auch die Staaten denken nicht anders. Mochten noch so viele zugrunde gegangen, Städte zerstört, vornehme Männer erschlagen oder verbannt sein, das war ihr Geschick; dafür hatten andere sich behauptet und waren in die Höhe gekommen. Man traute auf sein Glück, auf die Götter, die helfen mußten – feierte man ihnen doch glänzende Feste und baute herrliche Tempel mit reichen Schätzen –, man verschloß gegen die Unsicherheit der Lage absichtlich die Augen, überzeugt, es werde schon gehen. Als die Athener im Jahr 415 nach Sizilien zogen, war man in Syrakus überzeugt, kein Feind könne der Stadt etwas anhaben, und traf keinerlei Vorbereitungen für den Krieg. In Selinus fühlte man sich so sicher, daß man die Mauern verfallen ließ. »Durch diese Götter sind die Selinuntier siegreich«, setzte man auf die Weihinschrift goldener Götterbilder, die man nach Beendigung eines Kriegs anfertigen ließ, »durch Zeus siegen wir und durch Phobos und Herakles und Apollo und Poseidon und die Tyndariden und Athena und Malophoros und Pasikrateia und die übrigen Götter, vor allem aber durch Zeus« (IGA. 515; DS3 1122). Nirgends in der griechischen Welt sind so zahlreiche und so prächtige Tempel gebaut worden wie in Selinus und Agrigent; freilich würde man im Mutterland die gewaltigen Dimensionen, in denen der Zeustempel von Agrigent und der Apollotempel von Selinus entworfen sind – beide sind niemals ganz vollendet worden –, und die riesigen Giganten, welche im Inneren das Gebälk trugen, als maßlos verschmäht haben. Unwillkürlich rufen diese Bauten trotz des ganz andersartigen Aufbaus die Riesenwerke des Orients, namentlich die ägyptischen Tempel, ins Gedächtnis. So wenig an eine Beeinflussung durch dieselben zu denken ist, so deutlich zeigt sich, wie die griechische Kultur hier, in der eigenartigen und exponierten Lage Siziliens, äußerlich und innerlich in die Bahnen [615] des Orients einlenkt. Das gleiche lehren auch die fortgeschrittensten der Metopen von Selinus. Die Unbeholfenheit, die ihnen noch immer anhaftet, teilen sie mit den gleichzeitigen oder etwas älteren Metopen und Giebelfiguren von Olympia und anderen Ausläufern der Übergangszeit von der archaischen zur vollendeten griechischen Kunst. Aber daneben zeigen sie eine Weichlichkeit und Sinnlichkeit der Formen, welche der Kunst des Mutterlands fremd ist. Die wunderbaren Schöpfungen der sizilischen Münzprägung können uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die wahre griechische Kunst auf sizilischem Boden niemals hätte entwickeln können; auch stehen sie deutlich unter dem Einfluß der Kunst des Mutterlandes – ebenso wie die Weihgeschenke der Tyrannen in Delphi und Olympia nicht von sizilischen Meistern gearbeitet sind. Grandios sind die Bauten allerdings. Wie zum Trotz schauen die Tempel von Selinus und die lange Tempelreihe auf dem Höhenrücken, der steil abfallend Agrigent im Süden begrenzt, hinaus ins karthagische Meer, als wollten sie verkünden, daß unter ihrem Schutze die Städte für die Ewigkeit sicher gegründet seien. Um so ungeahnter und furchtbarer ist dann im Jahr 409 die Katastrophe hereingebrochen, die der kurzen Herrlichkeit ein Ende bereitete.

Im 6. Jahrhundert hat Sizilien den Stesichoros hervorgebracht, den großen Gesetzgeber der Chorlyrik; und schon bei ihm zeigt sich der Geist der Insel in der kühnen Art, wie er die Stoffe umgestaltet und die Traditionen umwandelt. Eine Persönlichkeit von gleicher Bedeutung hat Sizilien im 5. Jahrhundert nicht mehr aufzuweisen. Man verfolgt zwar die geistige Entwicklung der übrigen griechischen Welt, man läßt sich von den Gedanken der Philosophen anregen, man bestellt sich Oden bei den Meistern der lyrischen Kunst und veranlaßt Äschylos, seine Dramen vorzuführen. Aber produktiv hat die Insel an diesen Schöpfungen nicht mehr teilgenommen. Ohne Zweifel hat man sich an der Pracht der Rhythmen und Melodien pindarischer und äschyleischer Gesänge berauscht und an den tiefen Gedanken, welche sie verkünden, seine Freude gehabt, ja selbst sie innerlich zu erfassen und zu beherzigen versucht. Aber im Grund ist diese ganze Literatur und die Stimmung, aus der sie erwachsen ist, Sizilien fremd geworden; [616] wo man sich selbst überlassen ist, geht man völlig andere Wege. Auch hier bricht sich das sizilische Temperament Bahn, die Hingabe an den Augenblick, ein scharfer Blick für das Wirkliche, ausgelassener Humor, die Neigung zu Witz und Spott, zu Disputieren und Rechthaberei, eine frivole Lebensanschauung, der es doch an Gutmütigkeit nicht fehlt, die aber vor allem den Moment voll auskosten will. Seit alters gab es wie in den meisten Orten des Mutterlands so auch in Sizilien Volkslustbarkeiten, bei denen Chöre von Possenreißern auftraten, die lustige Schwänke von Göttern und Menschen vortrugen und das Publikum in Spottgesängen verhöhnten. Gelegentlich haben sie festere Form angenommen; so kannte man alte iambische Spottlieder des Aristoxenos von Selinus. Aus diesen Anfängen ist analog der attischen die sizilische Komödie erwachsen737. Ihre Ausbildung verdankt sie dem Epicharmos, der, angeblich auf Kos geboren, als Kind nach dem sizilischen Megara gekommen sein soll – andere lassen ihn auf Sizilien geboren sein –, dann bei der Zerstörung Megaras durch Gelon nach Syrakus übersiedelte und hier in der Tyrannenzeit zahlreiche Komödien aufgeführt hat738.

In der attischen Komödie ist alsbald das politische Leben in den Mittelpunkt getreten. In Sizilien war das durch die Zeitverhältnisse ebensosehr ausgeschlossen wie durch die Neigungen des Volks. Den Gegenstand der Komödien Epicharms bildet die Vorführung komischer Szenen und Typen aus dem Alltagsleben; mit[617] scharfem Witz wird Leben und Treiben der Menschen mit all seinen Schwächen und Gebrechen vorgeführt und durchgehechelt. Träger der Handlung sind nicht nur die Menschen; noch beliebter ist die Götter- und Heroenkomödie. Sie geht ebenfalls auf ältere Traditionen zurück. Derbe Späße, Darstellung lustiger Szenen aus der Götterwelt, waren mit dem Dionysoskult überall verbunden; auch in Athen gab es eine Götterkomödie. Die sizilische Komödie zieht Götter und Heroen völlig in das Menschliche und Alltägliche hinab. Auch in dieser Gattung war Epicharm Meister. Seine Götter und Helden tun und treiben nichts anderes als die biederen Bürger von Syrakus; aber wenn die Torheiten und Leidenschaften der Menschen sich in der Götterwelt widerspiegeln, wenn die Quantitäten von Speise und Trank aufgezählt werden, die Herakles vertilgt, wenn bei dem Hochzeitsmahl der Hebe und des Herakles alle Vorbereitungen und all die schönen Leckerbissen, welche man auftischt, ausführlich geschildert werden, wenn uns erzählt wird, daß der Götterkönig Zeus einen delikaten Fisch, von dem auf dem Markt nur ein Exemplar aufzutreiben war, für sich und seine Frau vorwegnimmt und die anderen Götter nichts davon abbekommen, so ist die Wirkung überall ins Groteske gesteigert. Daneben tritt die Neigung zum Disputieren, die Freude an Scharfsinn und Witz charakteristisch hervor. Epicharm war ein vielseitig gebildeter Mann, vertraut mit der Literatur, auch in den Lehren der zeitgenössischen Philosophen – Xenophanes, Pythagoras, Heraklit – gut bewandert. So benutzt er ihre Argumentationen z.B. um nachzuweisen, daß, weil der Mensch heute ein anderer ist als gestern, er seine Schulden nicht zu bezahlen braucht. Aber auch ernstere Gedanken hat er in seinen Stücken vorgetragen, von der Ewigkeit der Götter und der Vergänglichkeit des Irdischen, von dem übersinnlichen Ursprung des Geistes, des Denkvermögens in Menschen und Tieren, oder die Lehre des Xenophanes von der Relativität unserer Anschauungen: wir erscheinen uns, dem Hund der Hund, dem Esel der Esel schön. Derartige Äußerungen haben Epicharm eine Stellung unter den Philosophen verschafft. Besonderen Ruhm haben schon bei den Zeitgenossen die zahlreichen Sprüche praktischer Lebensweisheit genossen, die in seinen Stücken verstreut [618] waren. – Als Rivale Epicharms wird Phormis oder Phormos genannt, angeblich identisch mit einem arkadischen Kriegsmann im Dienste Gelons (o. S. 597, 2), als Nachfolger sein Sohn oder Schüler Deinolochos. Weiter entwickelt hat sich die sizilische Komödie nicht; an ihre Stelle traten in der folgenden Generation die Mimen Sophrons, kurze Genreszenen aus dem Volksleben, mit scharfer Charakteristik, in derb volkstümlicher Sprache, daher auch in Prosa.

»Bleibe nüchtern und vergiß nie zu mißtrauen (laß dich durch nichts blenden und betören), das sind die Sehnen der Seele«, dieser Spruch Epicharms ist bezeichnend für die kühle, vorsichtig-vernünftige Art, mit der der Sikeliote in die Welt schaut. Je schwankender die Zustände waren, je schärfer sich die Interessen und Parteiungen gegenüberstanden, je weniger in den Volksgerichten auf eine ruhige sachliche Erwägung des Rechtsfalls zu hoffen war, desto mehr galt es, den Kopf klar zu halten und sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen, wollte man sich im Leben behaupten. Wohl aber mußte man versuchen, den Gegner zu blenden, die Menge mit sich fortzureißen und wenn nicht zu überzeugen, so doch zu überreden, sowohl im politischen Leben wie vor Gericht; wer des Wortes nicht mächtig war, war einem gewandten Gegner gegenüber verloren, mochte er noch so sehr im Recht sein. So hat sich in Sizilien die Kunst der Rede ausgebildet. Schon bei Epicharm finden wir rhetorische Mittel reichlich verwandt und parodiert, die Antithese, die pointierte Formulierung des Gedankens, die blendenden Verallgemeinerungen und Schlüsse, welche den Hörer betäuben und zu verstummen zwingen. Bald traten Lehrmeister auf, welche die Kunstgriffe der Rhetorik in ein System brachten und Leuten, die in eine Notlage gerieten, für Geld die Rede schrieben, die sie brauchten. Sie erboten sich auch, die heranwachsende Jugend zu lehren, wie sie eine kunstvoll gegliederte Rede zu verfassen, welche Mittel und Mittelchen sie anzuwenden hatten, um Erfolg zu haben. Nicht auf die Wahrheit, nicht auf Recht und Unrecht kommt es an, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, auf den Effekt; da die Augenblickswirkung entscheidend ist, braucht man die Hörer nicht zu überzeugen, sondern nur zu [619] überreden und zu verwirren. Als der erste, der in dieser Richtung tätig war, wird der Syrakusaner Korax genannt; sein Schüler Tisias hat seine Lehren in Buchform zusammengefaßt739. Weit über beide hinaus ging Gorgias von Leontini (geb. um 490). Er war zunächst von Empedokles beeinflußt, nahm aber auch sonst die Anregungen der gleichzeitigen Philosophie in sich auf. Aus den Zweifeln an der Realität der Sinneseindrücke, an dem Wesen des Wirklichen überhaupt, welche die großen Denker entwickelt hatten, zog er die Folgerung, daß es überhaupt nichts Reales gebe; alles komme darauf an, wie man die Dinge darstelle. So wird die Kunst der Rede die Beherrscherin des menschlichen Lebens, durch die man alles erreichen kann. Der »Redekünstler« (Rhetor) allein besitzt die echte »Weisheit«, er vermag jederzeit seine Ansicht durchzusetzen, »Kleines groß und Großes klein zu machen durch die Kraft der Rede«, über jeden Gegenstand weit erfolgreicher zu sprechen als der Fachmann, dem all seine Kenntnisse nichts helfen, wenn er der Rede nicht mächtig ist. In blumenreichen Schaustücken, in denen ein geistreichelndes Spiel mit Worten, Antithesen, Gleichklängen, Metaphern die Hörer berauschte und über die Gedankenarmut hinwegtäuschte, führte er seine Kunst der Masse vor; er erbot sich, jede Frage, die man ihm stelle, sofort zu beantworten. In Scharen strömte die Jugend in seinen Unterricht, um sich durch seine Kunst für das praktische Leben vorzubereiten und eine glänzende Laufbahn zu sichern740.

[620] Der reine Rationalismus genügt wohl einzelnen Denkern, aber niemals einem Volk. Je mehr das Leben auf eine nüchterne, rein verstandesgemäße Auffassung hindrängt, welche nur den eigenen Vorteil kennt, und im ununterbrochenen Kampf mit den entgegenstehenden Gewalten jedes Mittel zu ergreifen zwingt, um sich siegreich zu behaupten, desto stärker wird das Bedürfnis nach einem Gegengewicht. Der von der praktischen Tätigkeit absorbierte Verstand kann das nicht schaffen; er sieht nur den ewigen Kampf der widerstrebenden Gewalten, in dem ihm die Möglichkeit einer Erkenntnis des Absoluten, einer ewigen Wahrheit entschwindet. Einzig der Glaube vermag die Erlösung und den versöhnenden Abschluß zu bieten. Nur scheinbar ist es ein Widerspruch, daß das Sizilien des 5. Jahrhunderts mit seiner leicht beweglichen, durchaus auf das Reale gerichteten, skeptisch gesinnten Bevölkerung keine wahre Philosophie erzeugt hat, daß dagegen Theologie und Mystizismus in hoher Blüte stehen; das eine ist nur die notwendige Ergänzung des anderen. Die Städte, fortwährend von innerem Hader zerrissen und in ihrer Existenz bedroht, werfen sich um so energischer den heimischen Göttern in die Arme; sie trotzen auf ihren Schutz und suchen ihn durch glänzende Bauten, Feste und Geschenke zu sichern. Bei den Massen steht der mystische Kultus der Demeter und Persephone und des Dionysos in hohem Ansehen. Daneben verbreiten sich die Geheimlehren der Orphik. Pindar zeigt, wie beliebt am Hofe Therons die Spekulationen über Unsterblichkeit und das Gericht nach dem Tod waren. Dem Glauben an eine über der Welt stehende Gottheit, an den übernatürlichen Ursprung des denkenden Geistes in Mensch und Tier hat Epicharm wiederholt Ausdruck gegeben. Auch an Magiern und Propheten kann es auf Sizilien nie gefehlt haben – von wahrsagendem Weibsgesindel, das den Frauen für ein paar Geldstücke die Zukunft verkündet, hat gleichfalls Epicharm geredet, und schon der einzige [621] Vers des alten Aristoxenos (o. S. 617), der uns erhalten ist, handelt von der Betrügerei der Seher. Auf diesem Untergrund ist die für das Sizilien des 5. Jahrhunderts charakteristischste Gestalt erwachsen, Empedokles von Agrigent (ca. 495-435). Von der politischen Tätigkeit dieses Mannes ist schon die Rede gewesen (o. S. 606). Aber das trat ganz zurück gegen die weit höheren Ziele, die er sich gesetzt hatte. Er hatte umfassende medizinische und naturwissenschaftliche Kenntnisse erworben und, wie es scheint, Sinn für exakte Beobachtung und Experimente; er hatte sich in den Systemen der Philosophen, des Xenophanes und vor allem des Parmenides, ferner der Pythagoreer und des Heraklit umgesehen und ihre Lehren in sich aufgenommen; dazu war er aufs stärkste von orphischen Anschauungen beeinflußt. Damit verband sich ein unbedingter Glaube an sich selbst und seine Mission. Die Menschen zu erlösen, ihnen Wohltaten zu erweisen wie ein Gott, ist er in die Welt gekommen. Fleischgenuß und Meineid sind die großen Verbrechen, welche die göttlichen Geister, die Dämonen, 30000 Jahrzeiten hindurch von den Sitzen der Seligen fernhalten und in die Finsternis und das Gefilde des Elends hinabstoßen, wo sie ruhelos von Existenz zu Existenz wandern müssen als Pflanzen, Tiere, Menschen – die Pflanzen hat er, über die Orphiker und Pythagoreer hinausgehend, in den Kreis der belebten Wesen aufgenommen. Nur Enthaltsamkeit von allen Verbrechen und vor allem von dem Frevel der Fleischnahrung – denn jedes Schlachten und jedes Tieropfer ist Mord, verübt an Verwandten, Eltern und Kindern, die in Tiergestalt leben – kann sie von Stufe zu Stufe heben: »zum Schluß werden sie Seher und Dichter und Ärzte und Fürsten unter den Menschen auf Erden, und von da erheben sie sich zu Göttern und Genossen der übrigen Unsterblichen.« Diese Stufe hat Empedokles erreicht. Die ganze Natur liegt offen vor ihm, er beherrscht sie. »Ich wandle unter euch«, ruft er den Bewohnern Agrigents zu, »als unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher, von allen geehrt, wie es sich gebührt, geschmückt mit Binden und Kränzen. Wenn ich in die blühenden Städte komme, ehren mich Männer und Frauen: unzählige Scharen folgen mir, zu fragen, was ihnen Gewinn bringt, die einen, um Orakel zu holen, die anderen, [622] die Heilung von schmerzlichen Krankheiten zu erfahren.« So hat er denn Wunder in Menge getan. Gorgias, der in seinen physischen Anschauungen wie in der Ausbildung der Redekunst aufs stärkste von ihm beeinflußt ist, hat ihn zaubern sehen; eine Scheintote, an der die Kunst der Ärzte verzweifelte, hat er zum Leben erweckt, indem er die Wärme des Herzens wahrnahm und belebte; in Agrigent hat er die verderblichen Winde, welche die Felder ausdörrten, in Eselsbälgen aufgefangen; das versumpfte und verpestete Gebiet von Selinus hat er durch Entwässerungsanlagen und Kanalisation der Flüsse entseucht. Auf den Münzen dieser Stadt sind die Dankopfer dargestellt, welche man den Flußgöttern Selinus und Hypsas darbrachte, daneben ein abziehender Reiher. Als Wundermann vor allem lebt er denn auch im Gedächtnis der Menschen weiter. Über seinen Tod gab es keine Nachrichten; um so freiere Hand hatte die Legende, von seinem »Verschwinden« die abenteuerlichsten Geschichten in Umlauf zu setzen, die dann von Anhängern und Gegnern immer weiter ausgesponnen sind. »Aber«, so fährt er nach den oben angeführten Worten fort, »was rede ich noch lange von diesen Dingen, als wäre es etwas Großes, wenn ich die sterblichen vergänglichen Menschen überrage«; und nun trägt er seine Erlösungslehre vor und die Mahnung, sich des »schändlichen Mordes«, des Fleischgenusses zu enthalten. In einem anderen Lehrgedicht, das er seinem treuen Lieblingsschüler Pausanias widmete, hat er die Grundlagen seiner praktischen Tätigkeit entwickelt. Aus den disparaten Lehrsätzen der Philosophen und Mystiker hat er sich ein Weltsystem zurechtgemacht von den vier ewigen, beseelten Grundstoffen, aus deren Anziehung und Abstoßung (»Zuneigung« und »Hader«) die Welt und der ewige Wechsel der Dinge und auch alle lebenden Wesen und alle Sinneswahrnehmung und jede Erkenntnis hervorgehen. Diese rein materialistischen Anschauungen, welche auch die Götter nur als höchste Stufe der elementaren Entwicklung und daher wohl als »langlebig«, aber nicht als unsterblich anerkennen und das Universum streng einheitlich auffassen, stehen im schärfsten Widerspruch zu den mystischen Lehren von dem göttlichen Ursprung des menschlichen Geistes und der einen, fast mit Xenophanes' Worten geschilderten [623] Gottheit, – »wir können ihr nicht nahen noch sie mit unseren Augen erreichen noch mit Händen fassen ... auch hat sie keine menschliche Gestalt, sondern sie ist nur ein heiliger, unermeßlicher Geist, der mit schnellen Gedanken das ganze Weltall durchdringt.« Und doch beruht auf diesen Ideen Empedokles' Prophetenrolle und seine Befähigung, den Menschen den Zusammenhang der Dinge zu offenbaren. Er hat den Widerspruch so wenig empfunden, wie er etwa aus der Lehre, daß auch in den Pflanzen der gestürzte göttlich-menschliche Geist lebt, die Folgerung gezogen hat, man müsse sich auch der Pflanzennahrung enthalten – nur den Bohnengenuß hat auch er verpönt. Die Hauptsache war auch bei dem kosmisch-physischen System die praktische Anwendung: »Du wirst die Heilmittel gegen Krankheiten erfahren«, redet er Pausanias an, »und den Schutz gegen das Alter, da ich allein Dir dies alles gewähre. Du wirst die Kraft der Winde bezwingen, welche das Erdreich mit ihrem Wehen verderben, und wieder, wenn Du willst, umgekehrt Winde herbeiführen; Du wirst aus finsterem Regen den Menschen zu rechter Zeit Trockenheit schaffen, und wieder in Sommers Dürre netzende Regengüsse; Du wirst aus dem Hades die Abgeschiedenen heraufführen.« Als Geheimnis hat er dem Pausanias seine Lehre verkündet, »soweit es gestattet ist«. Ein wahrer Philosoph war Empedokles nicht, zu einem einheitlich durchdachten System sich durchzuringen, war er nicht der Mann. Aber vielfache Anregungen hat er in die Welt geworfen; die von ihm zuerst formulierte Lehre von den vier Elementen hat bekanntlich Jahrtausende hindurch nachgewirkt. – So reiht sich Empedokles an die zahlreichen Mystiker und Propheten des 6. Jahrhunderts, einen Pherekydes, Onomakritos, Pythagoras an. Aber er ist noch bizarrer als sie alle; in seinen Lehren wie in seinem Wirken halb ein von großen Gedanken bewegter, von innerer Überzeugung getragener Prophet und Heilkünstler, halb ein sich selbst betrügender Betrüger, eine seltsame Mischung von Denker und Scharlatan, wie sie ähnlich die Zersetzung der antiken Kultur in manchen Neuplatonikern und dann wieder die Gährung der Renaissancezeit so vielfach erzeugt hat, z.B. in Paracelsus. Deutlicher noch als seine Vorgänger zeigt er, wie auch in [624] der griechischen Kultur die Möglichkeit beschlossen lag, in die Bahnen des Orients einzulenken – und so ist es doppelt bezeichnend, daß er Sizilien angehört. Im Orient hat es allezeit viele seinesgleichen gegeben; in der griechischen Welt erscheint er dem ersten Blick befremdend und fast isoliert. Mit Recht ist die weitere Entwicklung über ihn hinweggegangen741.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 612-625.
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