Die Wissenschaften. Mathematik. Medizin

[839] Wissenschaftliche Probleme tauchen zuerst in der Praxis auf. Jeder Beruf, der eine technische Vorbildung erfordert, jede Kunstübung, jedes Handwerk ist im Besitz einer ständig wachsenden Masse von Regeln und Kunstgriffen, die sich vom Vater auf den Sohn, vom Meister auf den Schüler vererben und oft genug seit alters aufgezeichnet sein mochten, so gut wie die Satzungen der Zunft und die Gebote der Standesehre, von denen uns in dem Eid der Ärzte von Kos ein Beispiel erhalten ist975. Aber wie die Künste streben auch die technischen Berufe hinaus über das, was die Vorfahren geleistet haben; dadurch wächst auch hier stetig die Bedeutung und das Selbstbewußtsein des schaffenden Individuums im Gegensatz zu der traditionellen Homogenität der älteren Zeit. Immer wertvoller wird, was der Arzt, der Geometer, der Ingenieur so gut wie der bildende Künstler und der Musiker dem Erlernten aus Eigenem hinzufügt; was er selbst erfahren und gedacht hat, das sucht er in seiner Kunstübung zum Ausdruck zu bringen und in Lehre und Schrift durchzusetzen und so das Überkommene neu zu gestalten. Aber bei den nächstliegenden Sätzen bleibt der neu erwachte Wissenstrieb nicht stehen: er will ein Ganzes erfassen, dem das Einzelne sich einordnet, von seinem Gebiet aus die ganze Welt begreifen, nicht nur erkennen, daß etwas ist, sondern auch warum es so ist. So führt die von praktischen Bedürfnissen ausgehende Einzelforschung zu denselben universellen Problemen, mit denen sich die Spekulationen der Weltweisen beschäftigen; [839] beide Gebiete können sich intensiv beeinflussen, ja häufig durchdringen. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen Jahrhunderte hinauf bis in die Zeit, da Hesiod sich die doppelte Aufgabe stellte, die Welt in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit in der Geschichte der Götter zu begreifen und die praktischen Sätze, welche die menschliche Erwerbstätigkeit regeln, in einem Lehrgedicht zusammenzufassen. Wie Schritt für Schritt die Entwicklung weitergeführt hat, bis in Ionien die griechische Wissenschaft zu selbständigem Leben geboren ward, haben wir früher gesehen. Mit ihr tritt wiederum ein neues Element in das geistige Leben der Menschheit, das der Orient auch da nie gekannt hat, wo er, wie in der Medizin, in der Mathematik und Astronomie, zu achtungswerten wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangt ist: der Gelehrte, sei er Techniker, sei er lediglich Theoretiker, tritt mit seinen eigenen Überzeugungen an die Öffentlichkeit. Seine Lehren sind sein persönliches Eigentum und von ihm durch angestrengte Geistesarbeit erworben, auch in dem Falle, daß sie inhaltlich identisch sind mit dem, was die alte Tradition lehrte. So eröffnet sich die wissenschaftliche Diskussion, die zunächst zwischen den Fachgenossen geführt wird, aber in letzter Instanz das gesamte Publikum zur Entscheidung aufruft. Erst dadurch ist die echte Wissenschaft begründet: das Vorhandensein wissenschaftlicher Persönlichkeiten ist ihre unentbehrliche Voraussetzung, und bestehen und gedeihen kann sie nur im harten Kampf der miteinander ringenden wissenschaftlichen Überzeugungen.

Die technische Literatur hat seit der Mitte des 5. Jahrhunderts bereits einen recht ansehnlichen Umfang erreicht976. Polyklet hat seine Lehre von der menschlichen Idealgestalt, die er in seinen Werken verkörperte, auch in einer Schrift niedergelegt. Ebenso hat Parrhasios über seine Kunst geschrieben977. Von Sophokles wird eine Schrift über den Chor erwähnt, der vermutlich die Äußerungen [840] über sein Verhältnis zu Äschylos und Euripides (o. S. 830, 2) entstammen. Über die Bühneneinrichtung schrieb schon zu Äschylos' Zeit Agatharchos, der Begründer der Dekorationsmalerei. Auch von den Architekten sollen nicht wenige über ihre Bauten geschrieben haben, so Iktinos über den Parthenon. Das waren zweifellos rein technische Abhandlungen, hervorgegangen aus den Skizzen und Bauplänen. Ein weit höheres Ziel dagegen setzte sich der große Städtebaumeister Hippodamos von Milet (o. S. 676); die schematische Anordnung der modernen Stadt, die er im Piräeus und in Thurii durchführte, wollte er auch auf den Staat übertragen978. In drei Teile: heiligen, öffentlichen und privaten Besitz, sollte das Staatsgebiet, in drei Teile: Krieger, Bauern und Handwerker, auch die Bürgerschaft geteilt und darauf eine rationelle Verfassung aufgebaut werden. Auch in dieser herrschte die Dreizahl: die allgemeinen Angelegenheiten, die Fremden und die Waisen unterstanden der Aufsicht der Beamten; über Vergehen gegen Personen (ὕβρις), Sachbeschädigung und Mord und nichts anderes soll das Gericht entscheiden; die Richter sollen eine freisprechende, eine verurteilende oder eine die einzelnen Fälle spezialisierende Stimme abgeben dürfen. Daran reiht sich eine Anzahl einzelner Verbesserungsvorschläge. Man sieht, wie rasch die Theorie hier wie überall mit wenigen schematisch konstruierten Grundbegriffen zu einem abschließenden und für alle Zeiten gültigen Resultat glaubte gelangen zu können. Das Gegenstück zu diesem ältesten Erzeugnis der politischen Theorie ist Damons Schrift über Musik, mit ähnlich umfassenden politisch-reformatorischen Tendenzen (o. S. 532, 1). Auch andere Schriften über Musik kennen wir, so von Diokles aus Eläa979, ferner die Musikgeschichte des Glaukos von Rhegion (o. S. 822). Verwandter Art waren die Schriften, in denen die Rhapsoden (Homeriden) in Ergänzung ihrer Vorträge und ihres Unterrichts die Weisheit Homers erläuterten und die zahlreichen wirklichen und vermeintlichen Anstöße zu lösen suchten, die seine Gedichte boten; so Theagenes von Rhegion, Stesimbrotos von [841] Thasos, Metrodoros von Lampsakos, Glaukon von Teos. Daraus erwuchsen, indem man einen nach ästhetischen, sprachlichen und vor allem sittlichen und historischen Anschauungen korrekten Text der in zahllosen Variationen überlieferten Dichtungen herzustellen suchte, zugleich die ersten, vielfach noch sehr wilden und unmethodischen Anfänge der Philologie und der Grammatik980. Auch die Historiker und die Philosophen hatten nicht selten Anlaß, diese Fragen zu berühren. – Stesimbrotos hat auch über die Mysterienkulte geschrieben; und ähnliche Schriften über religiöse Themata wird es mehr gegeben haben. Weiter gehören hierher die schon erwähnten historischen Arbeiten. Erdbeschreibungen aus dieser Zeit kennen wir u.a. von den Athenern Phileas und Euktemon981. Bald folgten die untergeordneten, aber für das Leben nicht minder wichtigen Berufe: auf Sizilien schrieb man z.B. Lehrbücher der Kochkunst (o. S. 613, 4)982.

Das alles sind indessen kaum mehr als Ansätze zu selbständigen Einzelwissenschaften, die noch nicht ahnen ließen, welche große Zukunft ihnen dereinst beschieden war. Lebenskräftiger entwickelt waren nur diejenigen beiden Wissensgebiete, welche von Anfang an auf einer festen und scharf umgrenzten Grundlage ruhten: die Mathematik, mit ihren praktischen und theoretischen Abzweigungen, und die Medizin. Die Mathematik, vor allem die Geometrie, steht an der Wiege der griechischen Wissenschaft; hier war ein Gebiet gegeben, auf dem der forschende Verstand durch reine Verstandesschlüsse zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen [842] vermochte, denen die gesamte Erscheinungswelt sich unweigerlich einfügen mußte. Zugleich war sie das unentbehrliche Hilfsmittel, um zur Erkenntnis der in den kosmischen Erscheinungen waltenden Gesetze zu gelangen983. So haben die ältesten Denker Ioniens, Thales und Anaximander, mathemathische und astronomische Probleme zu lösen gesucht; zum Teil vielleicht im Anschluß an ägyptische Lehren. Der eigentliche Schöpfer der mathematischen Wissenschaften aber ist Pythagoras gewesen984. Er stand ganz im Banne des geheimnisvollen Zaubers der Zahl und der Proportionalität, in der er den Schlüssel zum Verständnis des Weltalls zu finden glaubte. Eben darum haben er und seine Schule, so bedeutende Entdeckungen sie auf arithmetischem Gebiet gemacht haben, doch zu einem methodischen Aufbau der Arithmetik nicht gelangen können. Denn hier sollte jede abstrakte Erkenntnis sofort ihre geheimnisvolle Bedeutung für das Wesen der Dinge, für den Kosmos und die Ethik besitzen. In der Geometrie dagegen boten die Linien und Figuren ein reales Substrat, das das Denken in festen Bahnen hielt, mochte man sie nachträglich deuten, wie man wollte. Daher sind Pythagoras' geometrische Erkenntnisse für alle Zeiten grundlegend geblieben; sie wiesen der erwachenden Wissenschaft den Weg, auf dem es jahrhundertelang keinen Stillstand, sondern nur ein sicheres methodisches Fortschreiten gab. Pythagoras' mathematische Lehrsätze sind von seinen Schülern bewahrt und vielleicht [843] erweitert, und durch sie allmählich, namentlich seit nach der Katastrophe der Schule (o. S. 627) die Überlebenden in alle Welt versprengt waren und in der Fremde als Lehrer auftraten, auch Fremden zugänglich geworden. Die Arithmetik hat der Pythagoreer Thymaridas985, die Geometrie zu Anfang des 4. Jahrhunderts Archytas von Tarent weitergebildet. Gleichzeitig wurde die Wissenschaft in Ionien weiter gefördert. Wir erfahren von einem Astronomen Önopides auf Chios, durch den der in gleiche Teile eingeteilte Tierkreis und andere Bestandteile der babylonischen und ägyptischen Astronomie in Griechenland eingeführt wurden986. Er hat nicht nur über die kosmischen Probleme (auch die Ursachen der Nilschwelle) Theorien aufgestellt, die sich mehrfach mit denen der physischen Philosophen berührten, sondern auch astronomische Berechnungen mit Hilfe geometrischer Konstruktionen ausgeführt. Seine Schule hat noch lange bestanden. Aus ihr ist wohl auch Hippokrates von Chios hervorgegangen, der erste, der ein systematisches Lehrbuch der Geometrie geschrieben hat987. Er hat sich eingehend mit den jetzt in den Mittelpunkt der Forschung tretenden Problemen der Quadratur des Kreises und der Verdopplung des Würfels beschäftigt. Daneben haben er und sein Schüler Äschylos über Astronomie geschrieben und z.B. über die Natur der Kometen eine Ansicht aufgestellt – es sei ein einziger, selten erscheinender Planet von unregelmäßiger Laufbahn, und sein Schweif beruhe nur auf Lichtbrechung –, die in ihrem ersten Teil auch die Pythagoreer vertraten. Etwas jünger ist Theodoros von Kyrene988, der sich namentlich mit den Problemen der Quadratwurzel [844] beschäftigt hat. – Wesentlich gefördert ist die Mathematik durch die praktischen Aufgaben der Feldmessung und der Mechanik, wenn auch die Theoretiker, vor allem die Pythagoreer, davon nichts wissen wollten, sondern wie Plato sich auf das weit höhere Gebiet der reinen Erkenntnis beschränkten989. Eine Aufgabe von eminenter praktischer Bedeutung auf astronomischem Gebiet war die Regulierung des Kalenders durch Ermittlung des richtigen, freilich genau nie zu erreichenden Verhältnisses zwischen den Umlaufzeiten des Mondes und der Sonne. Das Problem ist im 5. Jahrhundert viel behandelt worden. Die Pythagoreer (Philolaos) haben sich durch mystische Gründe bestimmen lassen, 729 Monate (als Quadrat der heiligen Zahl 27) gleich 59 Sonnenjahren zu setzen und diesem die Länge von 3641/2 Tagen zu geben. Weit korrekter setzte Önopides 59 Jahre = 730 Monaten, mit einer Jahrlänge von 36522/59 Tagen; er hat seinen Schaltzyklus auf einer Erztafel in Olympia aufgestellt. Noch weiter kam der attische Ingenieur Meton; er bestimmte die Länge des Jahres auf 3655/19 Tage (30' 9'' zuviel) und entwarf einen 19jährigen Kalender, den er im Sommer 432 auf der Pnyx aufstellte. Praktisch eingeführt ist derselbe allerdings erst ein Jahrhundert später, nachdem man sich bis dahin, um Mond- und Sonnenlauf mit dem Staatskalender in Einklang zu bringen, mit verschiedenen Tastversuchen begnügt hatte990.

Am anschaulichsten tritt uns das wissenschaftliche Leben des 5. Jahrhunderts in der Medizin991 entgegen, da uns hier ein [845] großer Teil der Fachliteratur in der Sammlung medizinischer Schriften erhalten ist, die den Namen des Hippokrates von Kos trägt992. Freilich sind es nicht die Anfänge, die wir hier kennenlernen. Auch in Griechenland hat es Zauberwesen und magische Einwirkungen auf die Kranken (speziell durch Träume an heiligen Orten) gegeben, die sich an manchen festländischen Kuranstalten erhalten haben mögen, wie wir sie später im Asklepieion von Epidauros in voller Blüte finden. Aber die griechische Medizin hat diese Dinge völlig abgestreift. Im Gegensatz zum Orient tritt auch in ihr die griechische Geistesrichtung klar hervor: auf der einen Seite das Streben nach unbefangener Erkenntnis der gegebenen Tatsachen, auf der anderen der Wunsch, alle Einzelerscheinungen zu einem Gesamtbilde zu verknüpfen. In der Anatomie wie in der Therapie und Diagnose war eine umfassende empirische Grundlage gewonnen, die schon zu Ende des 6. Jahrhunderts, als Demokedes von Kroton an Darius' Hof wirkte (o. S. 280), den griechischen Ärzten den Vorrang selbst vor den Ägyptern sicherte; dagegen konnte die Basis der modernen Naturwissenschaft, das Experiment, eine grundlegende Bedeutung bei den Medizinern so wenig gewinnen wie bei den philosophischen Naturforschern. Der Trieb zur Spekulation und Systematisierung stand ihm hindernd entgegen. Selbst wer eine Reihe scharfsinniger und weittragender anatomischer und physiologischer Beobachtungen gemacht hatte, wie der Arzt Alkmäon von Kroton, ein Schüler des Pythagoras, lenkte immer sofort wieder ein in die naturphilosophische Konstruktion, wie denn z.B. Alkmäon [846] die physiologische Erklärung des Sehens aus den beiden Elementen des Wassers und des Feuers ableitete, die er im Auge fand993. Entwickelt hat sich die wissenschaftliche Medizin einerseits in Unteritalien im Zusammenhang mit der Pythagoreischen Schu le – auch Empedokles (o. S. 622) gehört hierher und dann in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts Hippon und Philolaos –, andererseits im kleinasiatischen Doris in den Asklepiadenschulen von Knidos und Kos. Frühzeitig sind hier die traditionellen Lehren aufgezeichnet und nach den Fortschritten der Erfahrung überarbeitet worden. Die Lehren der Knidischen Schule haben dann im 5. Jahrhundert Euryphon und Herodikos von Knidos in eigenen Schriften weiter ausgeführt994. Sie sahen die Ursachen der Krankheiten in schlechter Ernährung; die »Überschüsse«, die der Magen nicht verdauen kann (z.B. infolge mangelnder Bewegung), gehen als Sekretionen in den Kopf oder, nach Herodikos, auch in andere Körperteile und werden von hier aus die Krankheitserreger. Alkmäon hatte weit allgemeiner die Gesundheit auf die richtige Mischung oder das Gleichgewicht der im Körper wirkenden entgegengesetzten Kräfte, z.B. des Feuchten und Trockenen, Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen, zurückgeführt, die Krankheit auf das Vorherrschen eines dieser Elemente. Diese Lehre scheint in Kos aufgenommen zu sein; ihre Weiterbildung ist die Lehre des Hippokrates von den vier Temperamenten, der richtigen Mischung der vier maßgebenden Körpersäfte: Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle.

Solange derartige Theorien nur die Krönung der medizinischen Empirie bildeten, waren sie unschädlich und selbst heilsam zur Ordnung der Erfahrungen und zur Aufsuchung neuer Probleme. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts aber brach die [847] physikalische Spekulation mit Macht auch über die Medizin herein. Von dem großen Gedanken ausgehend, daß auch der Mensch und seine Leiden nur als ein Glied der gesamten einheitlichen Naturerscheinungen betrachtet werden dürfen, kam man zu der Forderung, der Arzt müsse von dem Urprinzip der Naturerklärung ausgehen, aus demselben auch die Krankheiten erklären und sie dementsprechend behandeln. Der Reihe nach sind alle Prinzipien der Physiker auf die Medizin angewandt worden, Wind und Luft, Feuer, Wasser, Erde oder nach Empedokleischer Lehre alle vier Elemente zusammen, dazu die Urkräfte »des Warmen, Kalten, Trockenen, Feuchten oder was man sonst will«. Eine einzige Substanz soll der Mensch sein, sei es Blut oder Galle oder Schleim; aus ihren Veränderungen unter dem Zwange des Warmen und Kalten gehen alle Erscheinungen hervor, und so entstehen die Krankheiten. Für die ihren Triumphzug durch Griechenland haltende Sophistik war das die willkommenste Lehre; was Gorgias von sich behauptete, daß er wie über jeden Gegenstand so auch über die Medizin besser zu reden verstehe als der Fachmann, sehen wir in mehr als einer erhaltenen Abhandlung vollauf bestätigt. Noch willkommener waren diese Lehren dem medizinischen Charlatan, der jetzt die Blößen seines Wissens durch schöne theoretische Vorträge und Phrasen verdecken und durch neue Kuren und Rezepte voll tiefsinniger Weisheit sich großen Zulauf verschaffen konnte. Auch Naturheilkundige kamen auf, wie der Lehrer der Gymnastik Ikkos von Tarent995 (siegt in Olympia 476) und später Herodikos von Selymbria996, der in streng geregelter Bewegung die beste Therapie sah. Aber auch wissenschaftliche Ärzte haben sich dieser Manier hingegeben, namentlich aus der Knidischen Schule, aus der wir mehrere Schriften der Art besitzen; sie zeigen zugleich, wie der scheinbar so hoch wissenschaftliche Gedanke, daß der Mensch und sein Geschick nur ein Abbild des Makrokosmos ist, dem Mystizismus und dem Aberglauben[848] Tor und Tür öffnet, z.B. in dem Nachweis, daß die Siebenzahl wie die Natur so das menschliche Leben und die Krankheiten regiert, in der ernsthaften Behandlung der Traumdeutung u.ä.997.

So war die Gefahr nur zu groß, daß die ärztliche Kunst aus den gesunden Bahnen, die sie eingeschlagen hatte, herausgedrängt werde und zu einer phantastischen Geheimwissenschaft entarte. Die Gefahr bekämpft und die Medizin zu ihren wahren Aufgaben zurückgeführt zu haben, ist das unsterbliche Verdienst des Hippokrates von Kos998. Er ist im Jahre 460 geboren999, als Sproß des Nebridengeschlechts, das sich von Asklepios ableitete1000, und hat den Unterricht seines Vaters Heraklides sowie der Knidischen Ärzte genossen. Dann ist er weit gewandert; wir begegnen ihm vor allem an der thrakischen Küste, in Thasos und Abdera, auch in Kyzikos und in Thessalien. Daß er auch in Athen und am makedonischen[849] Hofe gewirkt hat, ist wohl zweifellos. Gestorben ist er in hohem Alter in Larisa in Thessalien. – Wie seine Berufsgenossen, hat auch Hippokrates seine praktische Tätigkeit durch Lehrvorträge für das Publikum eingeleitet und zu fördern gesucht (s.u.); und wie jene hat er einen großen Schülerkreis um sich gesammelt. Außerdem hat er in zahlreichen Schriften teils einzelne Gebiete seiner Kunst und seine bei Epidemien gesammelten Erfahrungen, teils die Grundfragen der Medizin behandelt. Die Grundlage seiner Tätigkeit und seiner Lehre ist die Empirie, die gewissenhafte Beobachtung des wissenschaftlich gebildeten Arztes. Wo der Pfuscher, der mit seiner Weisheit renommiert, mit fertigen Theorien auftritt und, um dem Publikum zu imponieren, neue Methoden anwendet, z.B. bei Brüchen, mögen sie auch noch so unvernünftig sein, wird der wahre Arzt der Natur und der rationellen, durch Erfahrung begründeten Methode folgen. Daher liegt für Hippokrates in der Diätetik der Schwerpunkt seiner Kunst, wenn er auch, wo es sein muß, vor energischen Eingriffen mit Messer und Feuer nicht zurückscheut. Volle Sicherheit ist freilich nicht zu gewinnen, auch wenn man die richtigen Mittel verschreibt, angesichts der dem Arzt niemals völlig erkennbaren Individualität jedes einzelnen Falles. »So werde ich den Arzt höchlich loben, der nur geringe Fehler macht.« Der Wahn, daß einzelne Krankheiten auf besondere göttliche Einwirkungen zurückgehen, wie die Epilepsie (die ἱερή νοῦσος), daß man mit Besprechungen und mystischen Reinigungen heilen könne, wird mit voller Bestimmtheit abgewiesen: alle Krankheiten sind in gleicher Weise göttlich, denn sie alle haben ihre natürlichen Ursachen und Verlauf. Überhaupt ist die Klarheit des Geistes die Eigenschaft des Hippokrates, in der sich sein wissenschaftlicher Genius am gewaltigsten offenbart. Wohl kann auch er Hypothesen und theoretische Konstruktionen nicht entbehren, die zum Teil bestimmt waren, auf Jahrtausende hinaus die Medizin zu beherrschen – seine Lehre von den vier Temperamenten ward schon erwähnt –, bis sie sich dann bei dem Fortschritt der Wissenschaft als Irrtümer erwiesen; und auch er weiß, daß zur richtigen Beurteilung des Menschen und der Krankheit die Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhangs, [850] in dem er steht, und der natürlichen Einwirkungen des Klimas, der Jahreszeiten, des Wassers, der Nahrung, des Bodens nicht zu entbehren ist – in der klassischen Schrift »Über Luft, Wasser und Örtlichkeit« sind diese Gedanken weiter ausgeführt und werden daraus die charakteristischen Unterschiede der Völker abgeleitet1001. Aber der neumodischen Medizin und ihren Phantastereien tritt er mit der größten Entschiedenheit entgegen. In der Programmschrift seiner Lehre, dem Büchlein »Von der alten Medizin«, erklärt er der Naturphilosophie mit allem, was daran hängt, energisch den Krieg. »Die Medizin besitzt alles von alters her, ein Prinzip und einen festgelegten Weg, auf dem im Laufe langer Zeit ihre vielen schönen Entdeckungen gefunden sind und das übrige gefunden werden wird, wenn jemand, der befähigt ist und das Gefundene kennt, von diesem aus weiter forscht. Wer aber das alles für wertlos erklärt und verwirft und auf einem anderen Wege und in anderen Formen zu forschen unternimmt und etwas entdeckt zu haben behauptet, ist betrogen und betrügt sich; denn das ist unmöglich.« Wenn man zum Publikum redet, soll man über die Dinge reden, die diesem bekannt sind, d.h. über die Krankheiten, die sie heimsuchen, und über nichts anderes; nur so ist eine Belehrung der Laien zu erreichen, nicht durch Spielen mit Hypothesen. »Alle, die über Medizin zu reden oder zu schreiben unternommen haben und dabei eine Hypothese über das Warme oder Kalte oder Feuchte oder Trockene oder was sie sonst wollen, zum Ausgang genommen haben, indem sie Krankheit und Tod auf eine einfache Grundursache, und zwar überall auf dieselbe, ein oder zwei Prinzipien, zurückführen, sind in einem offenkundigen Irrtum befangen; vor allem aber verdienen sie Tadel, weil sie über eine schon ausgebildete, in hohem Ansehen stehende Kunst reden,« über deren auf Erfahrung begründete Grundsätze sie sich hinwegsetzen. »Etwas an sich Warmes oder Kaltes oder Trockenes oder Feuchtes, das an keiner anderen [851] Qualität teilhat, haben sie meines Wissens nicht aufgefunden, sondern auch sie besitzen nur dieselben Speisen und Getränke wie wir alle. Aber sie legen dem einen die Eigenschaft der Wärme, dem anderen die der Kälte bei; denn das ist unmöglich, dem Patienten zu verordnen, etwas Warmes (schlechthin) zu sich zu nehmen. Denn dann wird er sofort fragen: ‹was denn?›, und dann müssen sie entweder Unsinn schwatzen oder zu etwas Bekanntem ihre Zuflucht nehmen.» «Einige Ärzte und Weisheitslehrer behaupten aber, die ärztliche Kunst könne nicht verstehen, wer nicht wisse, was der Mensch ist und wie er zuerst entstanden und zusammengewachsen ist» – das Thema zahlreicher vom entgegengesetzten Standpunkt ausgeschriebener Werke des Hippokrateischen «Corpus». «Dies gehört aber in die Philosophie, wie Empedokles und wer sonst über die Natur der Dinge geschrieben hat, nicht in die Medizin. Ich glaube aber, daß man über die Natur nirgendwo anders her etwas Sicheres erfahren kann als aus der Kunst des Arztes. Diese Erkenntnis kann man erlangen, wenn man die ärztliche Kunst richtig umfaßt hat; bis dahin aber ist meiner Meinung nach noch ein weiter Weg. Ich meine nämlich diejenige Forschung, genau zu wissen, was der Mensch ist und durch welche Ursachen er entsteht und was sonst dazu gehört.» Mit anderen Worten: die wahre Wissenschaft soll sich beschränken auf das, was sie zur Zeit erreichen kann, und von hier aus methodisch vorwärtsgehen, nicht aber die letzten und höchsten Ziele vorwegnehmen und von hier aus ihre eigenen Grundlagen umstoßen. – Als Hippokrates starb, hinterließ er eine blühende Schule, in der seine Lehren eifrig gepflegt und weitergebildet wurden, so von seinen Söhnen und Enkeln und seinem Schwiegersohn Polybos, der in einer Schrift »Über die Natur des Menschen« die Gedanken der Schrift über die alte Medizin weiter ausgebildet hat. Völlig überwunden ist die entgegengesetzte Richtung nicht, vielmehr taucht sie immer von neuem wieder auf und hat in den folgenden Jahrhunderten noch viele seltsame und phantastische Blüten getrieben. Denn in ihr verkörpert sich, was ein wesentliches Moment der Größe wie der Einseitigkeit des griechischen Denkens ausmacht: das Streben nach Universalität, nach [852] theoretischer Verknüpfung der Einzelfälle. Aber daneben war die exakte Wissenschaft auf eine feste Grundlage gestellt, die sie trotz aller Spekulation nie wieder völlig verlieren konnte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 839-853.
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