Athen und der Westen. Thurii

[673] Die Koloniegründungen im Bereich des Ägäischen Meers dienten der Sicherung und dem Ausbau dessen, was man schon besaß. Aber die Perikleische Politik verfolgte weitere Ziele. Hatte man auf die Eroberungen in Asien und auf dem griechischen Festland verzichten müssen, so gab es andere Gebiete, wo eine Erweiterung der attischen Macht ohne Gefahr erreichbar schien.

[673] Seit dem 6. Jahrhundert waren Athens Beziehungen zum Westen ständig gewachsen. Seine dominierende Stellung im etruskischen Handel wurde schon erwähnt (o. S. 626); nicht minder rege war der Verkehr mit Unteritalien, Sizilien, Karthago. Dafür bezog Athen Getreide und andere landwirtschaftliche Produkte (Käse, Schweine) Italiens und Siziliens, getrocknete Fische, karthagische Teppiche, etruskische Erzwaren820. Durch Athens Großmachtstellung wuchsen seine kommerziellen Verbindungen ständig; und immer mehr mußten sie sich in politische umsetzen. War doch das Vordringen des attischen Handels im Westen zugleich die schwerste Schädigung Korinths. Wenn Gemeinden des Westens in Bedrängnis gerieten, wie 454 Segesta (o. S. 611), wandten sie sich um Hilfe nach Athen, und dies verweigerte das Bündnis nicht. Vor allem aber richteten sich Athens Augen auf Unteritalien. Seit 510 lag Sybaris in Trümmern, ehemals der nächste Verbündete Milets und die blühendste und üppigste Stadt der griechischen Welt. Der Gedanke lag nahe, die Erbschaft Milets aufzunehmen, im Gebiet von Sybaris festen Fuß zu fassen, Metapont und Tarent im Norden, Kroton und Lokri im Süden zurückzudrängen. Auch hier ist Themistokles der Wegweiser gewesen. Zur Zeit der Schlacht bei Salamis soll er gedroht haben, wenn die Griechen Athen im Stich ließen, dem Wort des Orakels entsprechend die Athener nach der Sirismündung zu führen, auf die alte Sprüche ihnen ein Anrecht gewährten. Daß das mehr war als ein vorübergehender Einfall, den die Verzweiflung eingab, beweisen die Namen seiner Töchter Italia und Sybaris. Jetzt, wo die großen Pläne der radikalen Demokratie gescheitert waren, lenkte ihr Führer auch hier in die Bahnen des Themistokles zurück821.

Die Reste der Sybariten, welche sich in Laos und Skidros an [674] der Westküste Önotriens behaupteten (Bd. III2 S. 757, hatten um das Jahr 453 den Versuch gemacht, die alte Heimatstadt wiederherzustellen. Indessen schon nach wenigen Jahren wurden sie von den Krotoniaten aufs neue verjagt. Da wandten sie sich um Hilfe nach Athen. Hier aber ging man nicht nur auf ihre Vorschläge ein, sondern noch weit darüber hinaus. Die Zerstörung von Sybaris war eine der schwersten Katastrophen, welche die Griechenwelt getroffen hatte; wenn irgendwo, so konnte Athen hier zeigen, daß es der wahre Leiter von Hellas war und jetzt, wo es eben den Frieden geschlossen und die Hände frei hatte, vor keiner Aufgabe zurückschreckte, welche das allgemeine Interesse ihm stellte. Nicht als spezifisch athenische Kolonie sollte Sybaris auferstehen, sondern als eine panhellenische Schöpfung unter Athens Leitung; waren doch die Interessen Athens mit denen der gesamten Nation identisch822. So erging an die ganze Griechenwelt der Aufruf, sich an dem großen Unternehmen zu beteiligen; Athen stellte die Führer, eine Kommission von zehn Männern, darunter Xenokritos, der Elegiker Dionysios ὁ Χαλκοῦς (»der Pfennig«), so zubenannt, weil er die Prägung kleiner Kupfermünzen in Athen eingeführt hatte, und der Seher und Wahrsager Lampon. Glückverkündende Sprüche [675] verhießen vollsten Erfolg; in Scharen strömten die Auswanderer herzu nicht nur aus dem attischen Herrschaftsgebiet, sondern ebenso aus Arkadien, Elis, Achaia, aus Böotien und dem übrigen Mittelgriechenland823. Viele der berühmtesten Männer der Zeit waren darunter: Sophisten wie Protagoras von Abdera, Euthydemos und Dionysodoros von Chios, Empedokles von Agrigent, die Rhetoren Tisias (o. S. 620) und Nikias von Syrakus, der weitgereiste Erzähler Herodot von Halikarnaß, der Architekt Hippodamos von Milet, der in Sparta wegen des Friedens mit Athen verurteilte Staatsmann Kleandridas824. Im Jahr 444 gingen die Kolonisten in See. Unweit der Stätte des alten Sybaris, bei der Quelle Thuria, wurde die neue Stadt angelegt. Auch in ihren Einrichtungen sollte sie das Ideal eines griechischen Gemeinwesens darstellen825. Den Grundriß, vier breite Hauptstraßen, die von drei Querstraßen rechtwinklig geschnitten wurden, entwarf Hippodamos, der große Städtebaumeister, der auch den Piräeus ausgebaut hatte (u. S. 710). Das Recht entlehnte man dem Zaleukos oder Charondas, deren Satzungen modernisiert und weiter ausgebildet wurden826; freilich zeigte sich bald, daß die entwickelte Kasuistik [676] auch ihre Schattenseiten hatte. Auch Protagoras soll bei der Gesetzgebung tätig gewesen sein.

Trotz und gerade infolge der großen Erwartungen, mit denen das Unternehmen begonnen war, ist auch dem neuen Sybaris das gewöhnliche Schicksal einer Kolonie nicht erspart geblieben. Den idealen Tendenzen entsprechend sollte die Stadt sich selbst regieren, frei verbündet mit Athen und der Verkünder seines Namens und seiner Macht im Westen, aber ohne den Zwang und die Kontrolle, die bei den Kolonien am Ägäischen Meer geübt wurden. Doch die disparaten Elemente, die hier zusammengekommen waren, konnten sich schlecht vertragen. Zunächst machten die Sybariten Schwerigkeiten; sie forderten für sich die wichtigsten Ämter, das beste Ackerland vor den Toren, auch den Vortritt ihrer Frauen bei Festen und Opfern. Darüber kam es alsbald zum offenen Hader; die Zugewanderten, weitaus in der Mehrzahl, fielen über die Sybariten her und machten sie großenteils nieder. Der Rest gründete am Bach Traeis, an der Grenze des Gebiets von Kroton, ein neues Sybaris. Die Folge war, daß die athenische Kolonie nach der Quelle den Namen Thuria oder Thurioi annahm827. Die Bürgerschaft, jetzt lediglich aus den Einwanderern bestehend, organisierte sich in zehn Phylen, drei peloponnesischen (Arkas, Achais, Elis), drei mittelgriechischen (Boiotia, Amphiktionis, Doris), vier aus dem athenischen Reich (Ias, Athenais, Eubois, Nesi otis). Schon darin spricht sich aus, wie wenig der Zahl nach der Einfluß Athens und seines Anhangs dominierte. Bald trat er mehr und mehr zurück. [677] Die Leitung des Gemeinwesens kam in die Hände des Kleandridas; ausgesprochene Parteigänger Athens wie Herodot mußten schon um 440 ihre neue Heimat verlassen, ebenso Euthydemos und Dionysodoros; auch Protagoras hat später vorwiegend in Athen gelebt828.

Auch Verwicklungen mit den Nachbarn blieben nicht aus. Zwar Kroton erkannte das neue Gemeinwesen an, dessen Gebiet es doch kaum hätte behaupten können – vielleicht wirkten dabei die inneren Wirren der letzten Jahrzehnte (o. S. 627f.) nach. Dagegen führte der Versuch, das alte Gebiet von Sybaris wiederzugewinnen und bis ans Westmeer vorzudringen, zu schweren Kriegen mit den Lukanern, dem in das Binnenland vorgedrungenen sabellischen Stamme (o. S. 626), und mit Terina, in denen Kleandridas mehrere Siege erfocht829. Nicht weniger Gefahren drohten von Tarent, das die Vorherrschaft über das Gebiet des Tarentinischen Golfs erstrebte und sich über Metapont hinweg im Sirisgebiet festzusetzen suchte. In diesen Zusammenhang gehört wohl ein Freundschaftsvertrag Athens mit dem Messapierhäuptling Artas, dem Nachbarn Tarents830. Bald kam es zwischen Thurii, das auch hier Kleandridas führte, und Tarent zu einem langwierigen und wechselvollen Kriege. Endlich einigte man sich, das streitige Gebiet gemeinsam zu besiedeln. Aber das Übergewicht behaupteten die Tarentiner; bald darauf, im Jahr 433/32, verpflanzten sie die Ansiedler eine halbe Meile weiter nach Norden an den Fluß Akiris, verstärkten sie durch eigene Kolonisten und gaben der neuen Stadt den Namen Heraklea831.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 673-678.
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