Durchführung der Herrschaft Spartas und Lysanders

[5] Durch den Sturz der Herrschaft Athens standen die Städte seines Reichs, soweit sie nicht, wie mit Ausnahme von Milet und Ephesos die meisten und namentlich die kleineren Orte des ionischen und karischen Festlandes, von den persischen Satrapen besetzt waren, zur Verfügung Spartas3. Sparta hatte ihnen die Autonomie [5] zugesichert, das heißt Freiheit nach außen und Wiederherstellung der altererbten, durch die Gewaltherrschaft der Demokraten unterdrückten aristokratischen Verfassung im Inneren, die das politische Recht auf die Besitzenden beschränkte, die sich selbst bewaffnen konnten. Der Ausführung des zweiten Teils des Programms stand jetzt kein Hindernis mehr im Wege. Überall wurde die Demokratie gestürzt und Oligarchien eingerichtet. Wenn das in manchen Fällen, wie namentlich auf Samos, ohne arge Gewalttätigkeit nicht abging, so trugen die Demokraten selbst die Schuld: sie hatten durch ihr Wüten gegen die Gegner die Vergeltung unvermeidlich gemacht. Alle Kolonien Athens wurden aufgehoben, die Ansiedler und ebenso die mit Land ausgestatteten Kleruchen auf Euböa, Samos, Lesbos, Naxos u.a. verjagt, das Land den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben, nach Agina4, Melos, Hestiäa, Skione, Toro ne, Potidäa die Reste der alten Einwohner zurückgeführt. Nur die drei Inseln Lemnos, Imbros und Skyros mußte man den attischen Ansiedlern lassen, wenn auch ihre Abhängigkeit von Athen jetzt gelöst war, da es hier Reste der alten, überdies nichtgriechischen Bevölkerung nicht mehr gab. Dagegen der erste Teil des Programms erwies sich sofort als unausführbar und ist auch von Sparta niemals ernsthaft in Aussicht genommen worden. Es mußte seine Anhänger schützen und seine Suprematie aufrechterhalten und konnte, wenn es geordnete Zustände schaffen wollte und das Ergebnis der Zertrümmerung des attischen Reiches nicht ein wüstes Chaos werden sollte, die Städte nicht sich selbst überlassen. Im Kriege mit Athen hatte es, zuerst unter Brasidas in Thrakien, dann im Seekrieg auf den Inseln und in Kleinasien, in die von Athen abgefallenen oder eroberten Städte überall Garnisonen (meist aus geworbenen Truppen) unter Führung eines spartanischen Offiziers gelegt, der als »Ordner« (Harmost)5 die Verteidigung leiten und die Verfassung im konservativen Sinne organisieren sollte. An diesem System hielt man auch weiter fest. Die Anhänger Spartas waren damit einverstanden und baten vielfach selbst um Entsendung eines Harmosten; sie bedurften eines Rückhalts [6] gegen die ihrer politischen Rechte beraubte Masse, die zu Athen hielt. Überdies hatte Sparta die Küstenstädte in Thrakien gegen die Barbaren des Binnenlandes, die Inseln und Häfen gegen die durch Krieg und den Wegfall der athenischen Seepolizei aufblühende Piraterie zu schirmen, und die asiatischen Küstenstädte suchten bei ihm Anlehnung gegen die drohende Herrschaft der persischen Satrapen. Auch die »freiwilligen« Beiträge, welche die Bündner, wenn auch unregelmäßig genug, gezahlt hatten, wurden beibehalten und jetzt nach athenischem Muster fest geregelt; angeblich hat Sparta, wie sein Vorgänger, jährlich einen Tribut6 von über 1000 Talenten erhoben. Es konnte die Bundessteuern um so weniger entbehren, da sein eigenes Finanzwesen gänzlich unentwickelt war, und es doch, bei der numerischen Schwäche seines Bürgerheers, wesentlich auf geworbene oder von den abhängigen Gemeinden, namentlich denen Arkadiens, gestellte Söldner angewiesen war.

Nur mit Hilfe der Truppen, Schiffe und Geldmittel seiner Verbündeten hatte Sparta den Sieg erringen können. Jetzt suchte es seine Führerstellung zunächst im Peloponnesischen Bunde noch fester zu gestalten, als es nach der Niederwerfung des Sonderbundskrieges geschehen war. Einen Ersatz aus der Siegesbeute erhielten die Bündner für ihre Leistungen nicht. Von den alten Gegnern Spartas hatte Argos rechtzeitig Frieden geschlossen. Auch Mantinea war im J. 417 wieder in den Peloponnesischen Bund eingetreten. Freilich war es noch immer demokratisch und im Grunde Sparta feindlich gesinnt; aber die Truppenunterstützung, die Athen von hier für den Zug nach Sizilien erhalten hatte, war von Privatleuten gestellt, offiziell hatte die Stadt Sparta Heeresfolge geleistet. So scheute Sparta vor einem Bruch des dreißigjährigen Friedens [7] zurück7. Ganz ungeregelt waren noch die Beziehungen zu Elis8. Die schweren Provokationen der Zeit des Sonderbundskrieges waren nicht gesühnt; immer noch behauptete es die Herrschaft über Triphylien und hatten die Demokraten das Regiment. In den Peloponnesischen Bund war es nicht wieder eingetreten, sondern neutral geblieben; ja als König Agis einmal in Olympia ein Opfer darbringen wollte, damit Zeus ihm Sieg gewähre, wiesen die Elier ihn zurück: es sei nicht Brauch, den panhellenischen Gott in einem Kriege zwischen Hellenen um Sieg anzuflehen. Trotzdem wurde auch hier die Abrechnung noch verschoben. Selbst gegen die Messenier, die es doch unmöglich in Naupaktos dulden konnte, ist Sparta zunächst noch nicht eingeschritten; und den Westen, Korkyra und die ionischen Inseln, Akarnanien, Ätolien, um die im Archidamischen Kriege so heftig gestritten war, überließ es gänzlich sich selbst. Auch Sparta bedurfte nach den großen Anstrengungen der letzten Jahre zunächst der Ruhe, und vor einem größeren Landkriege scheute es um so mehr zurück, da auch ein Sieg leicht schwere Verluste an Menschenleben bringen konnte. – Trotzdem empfanden die Bundesgenossen Spartas sofort, wie sehr sich mit dem Wegfall des von Athen geübten Gegendrucks ihre Stellung verschlechtert hatte. Allgemein hatte man sich dem Gefühl hingegeben, daß mit dem Falle Athens irgend etwas Unerhörtes, eine neue glückliche Zeit eintreten werde und daß Sparta das bringen müsse. Aber alles blieb beim alten; ja die ökonomische Lage Griechenlands wurde durch gewaltsamen Umwälzungen und durch die Unsicherheit der Meere noch schlechter als vorher, zumal der Haupthandelsplatz durch die inneren Wirren noch über ein Jahr lang vollkommen brach gelegt war. Politisch standen auch die nicht zum Peloponnesischen Bunde gehörenden Staaten Mittelgriechenlands, Böotien, Phokis, Lokris, jetzt zu Sparta nicht anders als jene. Mit der erträumten Autonomie war es nichts. Gerade die größten Bundesstaaten, Theben und Korinth, die eben noch die [8] Zerstörung Athens gefordert hatten, mußten jetzt empfinden, daß sie in der freien Bewegung noch mehr gehemmt waren als früher; ihr Ideal von Autonomie, eine selbständige Politik und Erweiterung ihrer Macht über die Nachbarn, war durch eben den Staat vereitelt, dem sie durch ihr Geld und Blut die Herrschaft verschafft hatten. Als die Böoter9 ihren Anteil an dem Zehnten der Beute10 forderten, um auch ihrerseits dem delphischen Apollo ein Weihgeschenk darbringen zu können, wurden sie abgewiesen; Lysander nahm sie insgesamt für Sparta in Anspruch und errichtete daraus das große delphische Weihgeschenk, das sich in seiner Verherrlichung zuspitzte.11 So schlug überall in kürzester Frist die Stimmung vollkommen um, vor allem aber in Theben und Korinth; wenn ihnen bisher Athen im Wege gestanden hatte, so spähten sie schon ein Jahr nach seinem Fall nach einer Gelegenheit, das weit härtere Joch abzuschütteln, das Sparta ihnen auferlegt hatte.

Zunächst war dazu freilich wenig Aussicht. So gering Spartas Kriegsmacht, so groß seine Kriegsscheu war, seine absolute Überlegenheit [9] im Feld war allgemein anerkannt; und überall hatte es feste Verbindungen und zuverlässige Anhänger. Die Gegner dagegen waren isoliert und ohnmächtig; sollte ein Staatwagen, ihm zu trotzen, so war sein Schicksal im voraus besiegelt. Spartas Hauptstützen aber waren die beiden Staaten, die ihm als selbständige Mächte im Kriege gegen Athen zur Seite gestanden hatten, Persien und Sizilien. Gleich nach dem Frieden schickte Sparta den Aristos als Gesandten an den neuen Machthaber in Syrakus, um mit allen Mitteln seine Stellung zu festigen (u. S. 87) und die Allianz mit Dionysios abzuschließen, die unerschüttert bestanden hat über die Zeit hinaus, wo Sparta eine Großmacht war. So gern Sparta sich als Tyrannenfeind preisen ließ, so wenig hat es jemals Bedenken getragen, sich mit einem Tyrannen zu verbinden und seine Stellung zu stärken, wo es ihm dienlich war: es hat immer nur praktische Politik getrieben. Verwickelter waren die Beziehungen zu Persien. In den Verträgen hatte Sparta das Recht des Königs auf das asiatische Festland anerkannt; aber zur Zeit befanden sich zahlreiche Küstenstädte in Spartas Händen, und es traf keinerlei Anstalten, sie herauszugeben. Einstweilen drohte hier noch keine Gefahr. Kyros befand sich noch am Hofe und hatte Lysander gestattet, in seinen Provinzen nach Belieben zu schalten. Tissaphernes von Karien hatte den Prinzen begleitet und war überdies durch ihn ganz in den Hintergrund gedrängt. Mehr Schwierigkeiten waren von Pharnabazos zu erwarten, der am Kriege mit Eifer persönlich teilgenommen hatte und nicht gewillt war, seine Rechte ruhen zu lassen. Indessen solange Lysander unumschränkt schaltete, konnte auch er nicht daran denken, mit Gewalt vorzugehen.

Die Durchführung der Neuorganisation des attischen Reichsgebiets lag in den Händen des Siegers von Ägospotamoi, und damit eine so unumschränkte Machtstellung, wie sie noch nie ein Grieche besessen hatte. Das Schicksal von mehreren hundert Städten, Leben und Besitz von Hunderttausend griechischer Bürger hing allein von seinem Willen ab. Lysanders Ziel war, diese Stellung für sich festzuhalten; die ihm von Sparta gegebenen Instruktionen führte er in dem Sinne aus, der seinen Zwecken dienlich war. So ging er ganz andere Wege als ehemals Brasidas in Thrakien. Schon [10] in seiner ersten Nauarchie 408/7 hatte er den Grund zur Aufrichtung seiner persönlichen Herrschaft gelegt, indem er überall in Ionien die oligarchischen Klubs organisierte und zugleich die feste Verbindung mit Kyros knüpfte (Bd. IV 2, 339). Als er im Winter 406/5 zum zweitenmal den Oberbefehl übernahm, hat er diese Stellung weiter gefestigt. Gewissensskrupel kannte er nicht; die ihm zugeschriebenen Worte: »wo das Löwenfell nicht ausreicht, muß man den Fuchspelz umhängen« und »Knaben betrügt man mit Würfeln, Männer mit Eiden« zeichnen treffend seinen Charakter und seine Politik. Wie er Milet durch ein Blutbad unter den Demokraten in die Hände seiner Anhänger brachte, ist schon erzählt (Bd. IV 2, 355). Nach dem Siege wiederholten sich ähnliche Szenen vielerorts. Auf Thasos12, das seit 408 (Bd. IV 2, 325) wieder fest zu Athen gestanden hatte, hat er (vielleicht erst Anfang 403) die Anhänger Athens durch eine feierlich im Heraklestempel abgegebene Erklärung, sie hätten nichts zu befürchten, und man müsse den Gegnern verzeihen, aus ihren Schlupfwinkeln gelockt und dann in der Stadt sämtlich aufgreifen und umbringen lassen. An anderen Orten warteten seine Vertrauensmänner nicht, bis er kam; sie waren sicher, daß er sie nötigenfalls schützen werde. So führte die Befreiung vom Joch Athens in allen Städten seines Reichs zu Bluttaten und Greuelszenen, die alles weit hinter sich ließen, was man der attischen Demokratie und ihren Beamten und Gerichten mit Recht oder Unrecht zum Vorwurf gemacht hatte. Eine echte Aristokratie, wie sie Sparta verheißen hatte, lag durchaus nicht in Lysanders Interesse. Vielmehr kamen unter dem Namen der Restauration des gerechten patriarchalischen Regiments der Vorzeit überall die verworfensten Gesellen ans Ruder, die kein anderes Ziel kannten, als die Herrschaft mit vollen Zügen auszukosten, ihre Taschen zu füllen und Rache zu üben an dem Demos, der sie bedrückt hatte. Auf der Siegesfahrt nach der Schlacht und während der Belagerung Athens suchte Lysander möglichst viele Städte selbst auf, hob überall die demokratische Verfassung auf und verjagte [11] die Anhänger Athens. Die Regierung vertraute er durchweg Kommissionen von 10 Männern (Dekarchien13) an, die völlig unumschränkt über Leben und Eigentum der Bürger schalten konnten. Nach der Kapitulation von Samos wurde auch hier bei den restaurierten Oligarchen die gleiche Verfassung eingeführt. Sein Einfluß in Sparta war groß genug, daß zu Harmosten14 nur Männer seines Vertrauens bestellt wurden, oft Leute niederer Herkunft, nicht selten Mothakes (Heloten); die bereits in älterer Zeit ernannten wußte er ganz an sich zu fesseln, indem er ihren Lüsten nachsah und sie verlockte, ihre Macht nach seinem Vorbilde zu mißbrauchen. Wo ein Anlaß zu weiterem Einschreiten vorlag, zögerte er keinen Augenblick. Aus Sestos15 vertrieb Lysander die alten Einwohner und siedelte hier seine Schiffsoffiziere an. Dadurch sicherte er sich zugleich den Schlüssel zur hellespontischen Meerstraße. Am schlimmsten fuhr Chios16, weil es der mächtigste aller Seestaaten [12] war und als freier Verbündeter zu Sparta übergetreten war. Die Konflikte, in die es mit den spartanischen Nauarchen geriet, haben wir schon kennengelernt; sie endeten damit, daß Kratesippidas die Verbannten zurückführte, den Oligarchen das Regiment gab und die Führer des Demos verjagte (Bd. IV 2, 324). Lysander scheint dann diese Maßregeln noch einmal in größerem Umfange wiederholt zu haben; die Verbannten sammelten sich unter persischem Schutz in Atarneus an der äolischen Küste. Außerdem aber hat Lysander die gesamte Flotte der ehemals seemächtigen Insel fortgeführt. So mochten die Chier jetzt aufs bitterste bereuen, daß gerade sie, die bevorrechteten Bundesgenossen Athens, die ersten gewesen waren, welche zum Sturze der attischen Macht die Hand geboten hatten.

Auch Athen konnte dem Schicksal der Städte sei nes Reichs nicht entgehen. Wiederherstellung der Verfassung der Väter war hier seit langem das Schlagwort der konservativen Partei, und diese war es, welche durch Theramenes den Frieden geschlossen und damit den Anspruch auf die Leitung der Stadt gewonnen hatte. Aber neben sie traten jetzt die von Lysander zurückgeführten Exulanten, meist von den Radikalen verjagte und zum Teil wegen offenkundigen Hochverrats geächtete Mitglieder der Vierhundert, unter ihnen Männer wie Onomakles, Aristoteles, Charikles, der ehemalige Glenosse des Peisandros in der Verfolgung der Hermokopiden. An ihre Spitze trat alsbald Kritias, der Sohn des Kallaischros. Auch er war wie Alkibiades und Theramenes ein echter Jünger der Sophistenzeit. Der Sproß eines der vornehmsten attischen Adelshäuser, der Medontiden, aus dem ehemals die Könige Athens und später Solon hervorgegangen waren, geboren etwa um 455, hatte er bereits ein viel bewegtes Leben hinter sich. Als junger Mann hatte er die Sophisten gehört und sich namentlich Sokrates angeschlossen; dann entfaltete er eine rege Tätigkeit auf allen Gebieten der Literatur17. Wir kennen von ihm Tragödien im Stile des [13] Euripides, in denen z.B. Sisyphos die echt sophistische Lehre entwickelte, die Sittengesetze seien von den Menschen aus sozialen Bedürfnissen geschaffen worden; dann habe, um ihre Beobachtung zu erzwingen, ein besonders schlauer Mann die Götter erfunden. [14] In Vers und Prosa behandelte er Sitten und Lebensweise mehrerer griechischer Staaten (speziell Sparta und Thessalien, wahrscheinlich auch Athen), mit unverhohlener Bewunderung der spartanischen Institutionen, z.B. des maßhaltenden spartanischen Trinkkomments im Gegensatz zu dem in Athen herrschenden Trinkzwang. Ferner hat er rhetorische Musterreden und ethische und naturwissenschaftliche Abhandlungen verfaßt. Tiefe und selbständige Gedanken hat er, soviel wir sehen können, nirgends aufzuweisen; aber seine Darstellung war gewandt und nicht ohne Wirkung; er verstand eben die Mache. Jedoch seinem Ehrgeiz genügte es nicht, sich als einen neumodischen, allen Sätteln gerechten Literaten zu erweisen und womöglich den ersten Platz unter ihnen zu erobern; er wollte eine herrschende Rolle spielen so gut wie sein etwas jüngerer Genosse und späterer Rivale Alkibiades oder wie Lysander. Bei der Bewegung der Vierhundert saß er im Rate, trat aber hinter seinem Vater zurück (Bd. IV 2, 285). Dann schwenkte er wie Theramenes und so viele andere noch rechtzeitig zu den Gegnern ab, half den Extremen den Prozeß machen und beantragte Alkibiades' Rückberufung (Bd. IV 2, 303); trotzdem wurde er von den Radikalen unter Kleophon verbannt (Bd. IV 2, 315). Er ging nach Thessalien und hetzte hier die leibeigenen Bauern gegen die Grundherrn auf (u. S. 51). So war er eine ebenso gewissenlose Natur wie Lysander und für diesen der gegebene Mann. Einstweilen ging er mit Theramenes zusammen; die patriarchalische Verfassung und die Herrschaft der Tüchtigsten nach spartanischem Muster war das Ideal, das auch er bekannte. Aber tatsächlich erstrebte er wie seine Anhänger, vor allem Charikles, nichts anderes als die unumschränkte Gewalt und Rache an den Demokraten; um dies Ziel zu erreichen, war ihm so gut wie seinen Gesinnungsgenossen, die Lysander in den anderen Städten ans Ruder brachte, jedes Mittel recht.

Durch den Frieden mit Sparta war den Athenern in ihren inneren Angelegenheiten freie Hand gelassen worden; wollte die Umsturzpartei ihre Pläne durchsetzen, so mußte sie, wie im J. 411, den Demos dazu bringen, freiwillig auf seine Rechte zu verzichten. Sie setzte ein geheimes Aktionskomitee von fünf von den Klubs [15] ernannten Ephoren18 ein, die die Volksversammlung, die Wahlen und die Garnison terrorisieren und nach ihrem Willen lenken sollten. Die Demokraten versuchten, sich zur Wehr zu setzen, voran die Strategen und Taxiarchen, welche schon die Annahme des Friedens zu verhindern gesucht hatten (Bd. IV 2, 363). Aber sie kamen nicht mehr ans Ziel; ihr Komplott wurde beim Rat angezeigt19, und dieser, der bereits ganz unter dem Einfluß der Oligarchen stand, ließ sie verhaften. Indessen zeigten diese Vorgänge doch, daß die Umsturzpartei ohne einen kräftigen Druck von außen nicht ans Ziel gelangen konnte; sie wandte sich an Lysander, der noch vor Samos lag. Theramenes und seine Genossen sorgten, daß die entscheidende Volksversammlung20 bis auf seine Ankunft verschoben [16] wurde. Dann wurden die noch im Lande stehenden feindlichen Truppen zusammengezogen und eine Volksversammlung ins Theater von Munychia berufen. Drakontides brachte den Antrag ein, dreißig Männer zu ernennen, welche die neue Verfassung auf Grund der Ordnungen der Väterzeit ausarbeiten und bis dahin das Regiment führen sollten. Die Menge murrte; aber Theramenes erklärte, das kümmere ihn wenig, wo alle besser Gesinnten mit ihm einverstanden seien. Den Ausschlag gab die Erklärung Lysanders, Athen habe die für die Niederlegung der Mauern gesetzte Frist bereits verstreichen lassen und somit den Friedensvertrag gebrochen; jetzt müsse es die neue Bedingung annehmen. Von den Dreißig wurden zehn von Theramenes, zehn von den Ephoren der Klubs vorgeschlagen, zehn nominell frei gewählt (etwa Juni 404). Damit war die Demokratie dem Untergang des Reichs nachgefolgt; ihre letzten Verteidiger, die verhafteten Strategen, Taxiarchen, Trierarchen, wurden dem Gericht zur Aburteilung überwiesen.

Wie die Vierhundert im J. 411 waren die Dreißig ernannt als eine interimistische Behörde, welche den Staat aus der demokratischen Korruption in das Ideal der gesetzmäßigen und gerechten Ordnung überführen sollte, und die Gemäßigten, wie Theramenes, mögen auch wirklich dies Ziel im Auge behalten haben21. Aber die Extremen dachten so wenig wie vor sieben Jahren ihre Vorgänger [17] daran, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen: sie wollten die Herrschaft dauernd behalten und womöglich mit niemand anders teilen. Zunächst gingen beide Richtungen noch Hand in Hand. Die Grundgesetze der Demokratie wurden aufgehoben, die ausgeleerten Schiffshäuser, das Symbol der Seemacht und der auf ihr beruhenden Pöbelherrschaft, auf Abbruch verkauft22. Die einfachen Zustände des Agrarstaats sollten wiederkehren. Daher wurden alle Sätze des solonischen Rechts23 gestrichen, welche eine feinere Kasuistik enthielten und dadurch zu juristischen Erörterungen Anlaß boten, ferner der neumodische Unterricht in der Redekunst verboten – eine Maßregel, die speziell auf Kritias' ehemaligen Lehrer Sokrates zielte24. Im übrigen brauchte man keine Verfassungsgesetze, wohl aber willfährige Organe. Neue Beamte wurden ernannt, darunter als Archon Pythodoros; der Rat wurde aus dem letzten Rat der Demokratie, der sich bereits gefügig genug erwiesen hatte, mit geringen Modifikationen entnommen25. Ihm wurde, nach spartanischem Muster, auch die Kriminaljurisdiktion übertragen; um ihn völlig zu terrorisieren, fand die Stimmabgabe bei den Prozessen26 öffentlich statt, unter dem Präsidium der Dreißig. Auch darüber war Theramenes mit Kritias und Charikles einig, daß, ehe festgestellt werden könne, wer würdig sei, dem neuen Staat als Bürger anzugehören, Athen von den schlechten Elementen gründlich gesäubert werden müsse. So wurden, wie in der Französischen Revolution, die Polizei- und Henkerkommissionen die wichtigsten Hilfsorgane des Staats, die Elfmänner in der Stadt unter Satyros (Bd. IV 2, 362), die Zehnmänner im Piräeus unter Kritias' Vetter und Mündel Charmides, dazu eine Leibgarde von 300 Peitschenträgern27. Die wegen des demokratischen Komplotts[18] Verhafteten (o. S. 16) wurden vom Rat zum Tode verurteilt28, ebenso zahlreiche Sykophanten und Demagogen niederen Ranges, die ehemals die Geißel der Besitzenden gewesen waren29. Das fand auch bei den Gemäßigten volle Zustimmung und vor allem bei der Ritterschaft, die sich überhaupt mit Begeisterung der Reaktion in die Arme warf. Bei jedem weiteren Schritt aber traten die inneren Gegensätze unter den Machthabern hervor. Theramenes und seine Anhänger wollten jetzt wirklich an die Ausarbeitung der Verfassung gehen; den Extremen, Kritias und Charikles voran, erschien das als Torheit: sie seien Gewaltherrscher, auch wenn sie dreißig seien und nicht einer, und jede Konzession an die konstitutionellen Einrichtungen könne ihre Stellung nur gefährden. Aber um die Herrschaft dauernd zu behalten und nach Gutdünken schalten zu können, bedurften die Machthaber der demokratischen Masse gegenüber noch viel mehr eines ständigen Rückhalts an Sparta, als die Zehnherrschaften in den übrigen Städten. So gingen Äschines und Aristoteles nach Sparta, um sich die Entsendung eines Harmosten und einer Garnison zu erbitten. Lysander, jetzt nach Sparta heimgekehrt (Herbst 404), erwirkte die Bewilligung. Kallibios wurde mit 700 Mann nach Athen geschickt und nahm sein Quartier auf der Burg. Kritias und die Seinen kamen ihm auf [19] alle Weise entgegen, so daß er ihnen jeden Exzeß gestattete. Zugleich brauchte man immer dringender Geld, nicht nur um die Anhänger zu belohnen und die eigenen Taschen zu füllen, sondern auch um der Besatzung den Sold zu zahlen. So mehrten sich von Tag zu Tag die Exekutionen und Konfiskationen, nicht mehr nur unter den Führern der Gegenpartei und dem Gesindel, sondern gegen jeden, der den Herrschern gefährlich schien oder ihre Rache oder auch ihre Begehrlichkeit reizte, darunter Männer wie der ehemalige Stratege Leon (Bd. IV 2, 267., 344, 2) und Nikias' Sohn Nikeratos – sein Oheim Eukrates war bereits mit den demokratischen Verschwörern hingerichtet. Das Sykophantengewerbe blühte alsbald unter der Oligarchie noch mehr als unter der Demokratie, und manche der ärgsten Denunzianten der früheren Zeit wurden jetzt bequeme Werkzeuge der Gewaltherrscher30. Noch größer als die Zahl der Hingerichteten war die der Verbannten und Geflüchteten. Die spartanische Regierung verbot allen griechischen Staaten, die Flüchtlinge aufzunehmen; aber Theben und Argos trotzten dem Befehl und gewährten ihnen Schutz, und selbst in Megara fanden nicht wenige Zuflucht31. Auch die bisherigen Anhänger der Reaktion in Athen begannen stutzig zu werden, zumal auch ihr Leben der Willkür der Machthaber schutzlos preisgegeben war; und wieder wie 411 übernahm Theramenes die Führung der Opposition gegen die Extremen. Kritias und Charikles sahen ein, daß sie eine Konzession machen mußten: die Dreißig entschlossen sich, eine Liste von 3000 Namen aufzustellen, welche fortan Vollbürger sein und nur durch einen Spruch des Rats verurteilt werden sollten, während sie über alle anderen sich selbst die volle Gewalt vorbehielten32. Die Zahl 3000 entsprach, nach den gewaltigen Verlusten, [20] welche die letzten Jahre an Leben und Eigentum gebracht hatten, den 5000 Vollbürgern des Jahres 411. Aber eben darum war Theramenes auch damit nicht zufrieden: es sei eine Absurdität, eine Normalzahl festzusetzen, während der richtigen Theorie nach Vollbürger alle die sein müßten, welche sich selbst bewaffnen und aus eigenen Mitteln etwas für den Staat leisten könnten. »Was wir tun«, sagte er, »widerspricht sich diametral: wir gründen eine Gewaltherrschaft, die schwächer ist als die Unterworfenen.« Kritias und Charikles ließen sich dadurch nicht beirren. Sie entwaffneten alle Athener, die nicht im Katalog der 3000 standen, und fuhren fort zu morden. Sie suchten möglichst viele Athener zu ihren Maßregeln als Gehilfen heranzuziehen, um so durch den Kitt des Verbrechens ihre Herrschaft zu festigen. Um sich Geld zu beschaffen, setzten sie einen Beschluß durch, daß jeder der Dreißig einen reichen Metöken greifen und hinrichten und sein Vermögen einziehen solle. Theramenes beharrte auf seinem Widerspruch. Da sah Kritias, daß er sich des Rivalen mit Gewalt entledigen müsse; er berief eine Ratssitzung und erhob gegen ihn die Anklage wegen Hochverrats. Obwohl der Sitzungssaal mit Bewaffneten umgeben war, machte die Majorität nach Theramenes' glänzender Verteidigungsrede33 aus ihrer Gesinnung kein Hehl. Da half sich Kritias, indem er Theramenes' Namen aus dem Verzeichnis der 3000 strich und ihn jetzt aus eigener Machtvollkommenheit den Henkern übergab. Mit seinem Tode begann die volle Schreckensherrschaft. So fiel durch sein Ende ein verklärender Abglanz auf Theramenes' Persönlichkeilt zurück; man vergaß seine Ränke und Intrigen, man verzieh ihm selbst seine Schuld im Arginusenprozeß, weil er als Märtyrer für ein Ideal gefallen war, das viele der besten Männer im Herzen trugen. Freilich hat eben sein Leben und sein Schicksal erwiesen, daß, wie Athen sich einmal entwickelt hatte, die gemäßigte Aristokratie ein Traum war, und daß jeder Versuch, ihn zu [21] verwirklichen, zwischen den Extremen, die er beide mit gleicher Entrüstung von sich wies, zermalmt werden mußte.

Ganz Griechenland lag wehrlos Sparta und seinem Feldherrn zu Füßen. Aber noch lebte ein Mann, der ihnen gefährlich werden konnte, Alkibiades. Nach dem Siege Lysanders war für ihn auf seinen thrakischen Besitzungen keines Bleibens mehr; aber er hoffte noch immer, sein altes Ziel erreichen zu können. Die Pläne des Kyros und seine enge Verbindung mit Sparta waren ihm nicht verborgen; wenn er dem neuen König Artaxerxes II. die Augen öffnete über die drohenden Gefahren und die Treulosigkeit seiner Verbündeten, mußte es gelingen, ihn auf Athens Seite hinüberzuziehen und Spartas Übermacht zu brechen. Nach mancherlei Abenteuern gelangte er an den Hof des Pharnabazos: und auch hier erwies er seine Fähigkeit, die Menschen zu gewinnen und nach seinen Zwecken zu lenken. Der Satrap gewährte ihm die Möglichkeit, an den Hof zu gehen. Nur um so dringenderes Interesse hatten all seine Feinde, ihn zu beseitigen, ehe er neues Unheil anrichtete. Die Dreißig hatten ihn verbannt und geächtet34, König Agis haßte ihn als den Schänder seiner Ehre; die Ephoren sandten an Lysander den Befehl, ihn aus der Welt zu schaffen35, und dieser, der in ihm noch immer seinen gefährlichsten Rivalen in dem Kampf um die persönliche Herrschaft sehen mußte, stellte an Pharnabazos im Namen Spartas die peremptorische Forderung, seinen Schützling zu töten. Pharnabazos war mit der Übermacht, die Lysander gewonnen hatte, und mit seinem herrischen Auftreten keineswegs einverstanden; aber zur Zeit fühlte er sich noch zu schwach, ihm zu widerstehen, und überdies mochte er, wenn er auch dem regierenden König die Treue wahrte, doch Bedenken haben, sich durch eine gegen Kyros gerichtete Maßregel allzu sehr zu kompromittieren. So gab er der Forderung nach; er ließ Alkibiades auf der Reise in Phrygien überfallen und niedermachen36.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 5-22.
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