Sturz des Alkibiades

[222] Währenddessen hatten in Athen die Untersuchungen wegen der Religionsfrevel ihren Fortgang genommen. Vier Anzeigen wegen Verspottung der Mysterien und eine wegen des Hermenfrevels waren einander gefolgt, mehr als 40 vornehme Männer, darunter viele Freunde des Alkibiades, waren beschuldigt und sahen, soweit sie nicht schleunigst geflohen waren – das war der Mehrzahl geglückt –, der sicheren Verurteilung entgegen. Die ganze Stadt war in fieberhafter Aufregung; wenn der Rat Sitzung hielt, wagte niemand sich auf dem Markt zu zeigen, aus Angst, ergriffen zu werden. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als ein neuer Denunziant, Diokleides, angab, er habe in der verhängnisvollen Nacht gegen 300 Leute im Theater versammelt gesehen und die meisten beim Licht des Vollmondes199 erkannt; das seien zweifellos die Urheber des [222] Hermenfrevels, wie auch einige von ihnen ihm bekannt hätten; sie hätten ihm große Summen versprochen, wenn er schwiege, hätten aber ihr Versprechen nicht gehalten. Damit war das Leben eines jeden Bürgers einem gewissenlosen Schurken preisgegeben. Die Aufregung wurde noch dadurch gesteigert, daß man erfuhr, die Böoter machten mobil und die Spartaner seien an den Isthmos vorgerückt – in Wirklichkeit handelte es sich um eine Intervention Spartas in böotischen Angelegenheiten –; die ganze Nacht über blieben die Athener in Waffen an den Sammelplätzen konsigniert. Nur mit Mühe wurde Peisandros' Versuch vereitelt, die Grundrechte des attischen Bürgers aufzuheben und die von Diokleides zuerst Genannten zu foltern. Da entschloß sich einer der Gefangenen, nachdem ihm Straflosigkeit zugesichert war, durch ein Bekenntnis das Leben der übrigen zu retten. Es war Andokides, der Sohn des Leogoras, aus dem Geschlecht der Keryken, ein junger Mann von mäßiger Begabung, aber ein eifriger Politiker der konservativen Partei, der bereits vor einigen Jahren in einer Broschüre die Demokratie schlecht gemacht und Hyperbolos und die Kriegspolitik bekämpft hatte. Er und sein Vater waren besonders verdächtig, weil die Herme vor ihrem Hause fast allein nicht verstümmelt war. Er behauptete, die Tat sei von den Genossen eines Klubs verübt worden, an dessen Spitze Euphiletos stand; er selbst, Andokides, habe nicht daran teilgenommen, sondern damals krank zu Hause gelegen, deshalb sei die Herme vor seinem Hause verschont.

Als Täter nannte er nur Männer, die entweder bereits unrettbar verloren oder geflohen waren. Wie weit seine Aussage der Wahrheit entspricht, hat nie ermittelt werden können; aber, so schweren Anstoß seine Aussage gegen ihm befreundete Männer erregte, unbestreitbar ist sein Verdienst, endlich Athen die Ruhe wiedergegeben und zahlreichen Bürgern, darunter seinem Vater und vielen seiner nächsten Verwandten, das Leben gerettet zu haben. Die also schuldig Bezeichneten wurden, soweit man ihrer habhaft war, hingerichtet, die Flüchtigen geächtet, ihr Vermögen eingezogen; die übrigen erhielten die Freiheit zurück, und alsbald beruhigte sich die Stimmung so sehr, daß Leogoras die Verurteilung eines Ratsherrn, [223] der wegen einer anderen Denunziation gegen ihn eingeschritten war, durchsetzen konnte200.

Der Hermenfrevel war gesühnt; es blieb der Mysterienfrevel. Und jetzt war Athen reif geworden für die politische Aktion, um derentwillen die Demagogen sich der Untersuchung bemächtigt hatten. Ununterbrochen hatten sie gegen Alkibiades gehetzt: er habe mit seinen oligarchischen Freunden in aller Welt konspiriert zum Umsturz der Verfassung Athens. Daß die Spartaner ausgerückt waren, sei zu diesem Zweck geschehen; sie hätten mit Hilfe der mit Alkibiades verschworenen Hermenverstümmler ihr Ziel erreicht, wären diese nicht eben an jenem Tage verhaftet worden. In Argos wurden Alkibiades' Freunde beschuldigt, eine Erhebung gegen den Demos geplant zu haben; deshalb übergab Athen diesem die 300 von Alkibiades auf die Inseln gebrachten argivischen Aristokraten (s.S. 204) zur Abschlachtung. Sein Streben nach der Tyrannis sei offenkundig; in der Verhöhnung der Mysterien habe er seine geheimsten Gedanken verraten, den Umsturz aller göttlichen und menschlichen Ordnung. Es sei höchste Zeit, ihn nicht noch länger an der Spitze des Heeres zu lassen, sondern ihn endlich zur Verantwortung zu ziehen, wie die ehrlichen Demokraten es schon vor der Ausfahrt versucht, aber es durchzuführen damals nicht gewagt hätten. Noch einmal kam der alte Haß der beiden Häuser, die ehedem um die Herrschaft in Athen gerungen hatten, der Philaiden und der Alkmeoniden, zum Durchbruch: Kimons Sohn [224] Thessalos brachte die Anklage (Eisangelie) vor das Volk, Alkibiades habe in seinem Hause mit seinen Genossen die Mysterien von Eleusis nachgeahmt und profaniert201. Die Volksversammlung nahm die Anklage an; das Staatsschiff Salaminia wurde nach Katana entsandt, um ihn zur Verantwortung nach Athen zu bringen, mit ihm die übrigen Schuldigen, die sich beim Heere befanden (etwa Sept. 415.)

Den Feldherrn aus der Mitte des an ihm hängenden Heeres zu entführen, war nicht unbedenklich; die Abgesandten hatten den Auftrag, möglichst behutsam vorzugehen und die Beschuldigten nicht zu verhaften. Daß Alkibiades der Mann danach war, Gewalt zu brauchen und an der Spitze des Heeres Athen unter seinen Willen zu zwingen, wenn er auf Erfolg hoffen durfte, hätte man nie bezweifeln sollen; aber begreiflich ist es, daß er einen Widerstand für aussichtslos hielt. Wollte er etwas erreichen, so mußte er nicht nur sein Kommando behaupten, sondern sich offen gegen Athen empören und die Vaterstadt bekämpfen; wie hätte er dafür ein Bürgerheer gewinnen können, das trotz der konservativen Neigungen der Hopliten die herrschende Demokratie loyal anerkannte und gewohnt war, den Befehlen des Souveräns daheim zu gehorchen, auch wenn es sie mißbilligte, in dem die für ein solches Unternehmen ausschlaggebende Flottenmannschaft durchaus radikal gesinnt, in dem überdies Alkibiades' Autorität durch Nikias und Lamachos paralysiert war? So hat Alkibiades sich dem Befehle gefügt; er und die Mitangeklagten folgten der Salaminia auf seiner eigenen Triere. Aber in Thurii gingen sie ans Land und entwichen den Häschern; die Salaminia mußte allein zurückkehren. In Athen hat man darauf über Alkibiades und seine Genossen das Todesurteil gesprochen, ihr Vermögen eingezogen, über ihn selbst in feierlichen Formen den Fluch der Götter herabgerufen, und wie ehemals gegen Themistokles in alle Welt Boten entsandt, die die Auslieferung des Verbrechers [225] fordern sollten. Die Gefahr der Tyrannis war beseitigt. Aber noch ganz anders als Themistokles war Alkibiades eine Macht, auch wenn er allein stand; er hat den Athenern alsbald bewiesen, daß er noch lebe. Schon auf der Rückfahrt hatte er in Messana die Namen der Parteigänger Athens, mit denen er in Verbindung stand, ihren Gegnern verraten und ihren Untergang herbeigeführt. Von Thurii begab er sich über Elis im Vertrauen auf seine alten Verbindungen nach Argos. Als aber auch hier die attischen Schergen von dem eng verbündeten Demos seine Auslieferung forderten, blieb ihm nichts übrig, als beim Feind Zuflucht zu suchen wie Themistokles. Die spartanische Regierung erkannte, welchen Nutzen sie aus ihm ziehen könne; auf seine Anfrage erklärte sie, man werde ihn sein früheres Verhalten nicht entgelten lassen, und forderte ihn auf, nach Sparta zu kommen202.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 222-226.
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