Ägyptische Einwirkungen und innerer Gegensatz zur ägyptischen Kunst. Die Architektur

[175] Die neue Kultur, die in dieser Kunst einen so lebendigen Ausdruck gefunden hat, ist, auch wenn politisch ein fremdes Volkstum auf die Insel eingedrungen sein sollte, doch eine Fortbildung der älteren Gestaltungen, die sich auf Kreta selbst entwickelt haben. Zugleich aber steht sie, ebenso wie diese, in engster Verbindung und Wechselwirkung mit der Entwicklung, die sich gleichzeitig in Ägypten vollzieht. Die regen politischen und kommerziellen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben wir schon kennen gelernt; ägyptische Waren, Gefäße aus Alabaster und hartem Stein sowie aus Fayence, Glasperlen und ähnliche Schmuckstücke, Skarabaeen mit den Namen Thutmosis' III. und seiner Nachfolger, Elfenbein [175] (das auch aus Syrien bezogen sein kann)323, Straußeneier finden sich nicht selten sowohl in den kretischen Palästen wie in den Gräbern des griechischen Festlandes324. Der Papyrus mag ehemals auch auf Kreta angepflanzt oder sogar einheimisch gewesen sein; aber wenn daneben die Lilien in der kretischen Malerei und Dekoration ebenso eine führende Stellung einnehmen, wie in der gleichzeitigen ägyptischen Kunst, und auch die Palme vielfach dargestellt und dekorativ verwendet wird325, so ist der Zusammenhang unverkennbar. Und wenn wir auf Siegelsteinen an Stelle der in der kretischen Baukunst gebräuchlichen dicken Holzsäulen, an die Tiere gebunden sind (o. S. 172), schlanke als Stangen verwendete und im Boden befestigte Stämme finden, die in eine Blätterkrone (Palmblätter?) ausgehn, auf der ganz unorganisch der Würfel liegt, der das Gebälk trägt326, so ist hier einfach der in Ägypten seit dem Alten Reich übliche Brauch übernommen, die Stangen der Zelte und Säulen mit Blumen und Blättern zu schmücken, aus denen die ägyptischen Pflanzensäulen mit Papyrus- und Palmenkapitell hervorgegangen sind. Auch nach Vorderasien haben sich diese Formen weithin verbreitet; überall, wo die Pflanzensäule vorkommt, geht sie auf ägyptische Vorbilder zurück.

Wesentlich schwächer ist der Einfluß der asiatischen Welt, trotz der engen Berührung der Religion und Kultformen Kretas mit Kleinasien. Von hier mögen die phantastischen [176] Mischgestalten auf den Siegeln stammen. Der Löwengreif und die in ein weibliches Wesen umgesetzte, meist geflügelte Sphinx gehn zwar in ihrem Ursprung auf Ägypten zurück, sind aber auf Kreta in der Gestalt übernommen, die ihnen die syrisch-kleinasiatische Kunst gegeben hat327; in der kretischen Form hat dann ein ägyptischer Künstler den Greif auf die Streitaxt des Königs Amosis gesetzt (o. S. 56). Eine Gemme aus Mykene zeigt zu beiden Seiten einer Palmsäule asiatischen Stils (mit den Früchten unter den Blättern) eine geflügelte Sphinx mit der babylonischen Hörnerkrone auf dem Kopf. Auch babylonische und chetitische Siegelzylinder haben sich gelegentlich auf Kreta gefunden328.

Die von Ägypten gegebene Anregung führte mehrfach zu einer direkten Übernahme und Nachbildung künstlerischer Motive. Der oben S. 56 erwähnte Dolch aus dem fünften Schachtgrab von Mykene, das Gegenstück zu den Waffen im Grabe der A'ḥḥotep, stellt nicht eine kretische oder griechische, sondern eine ägyptische Landschaft dar: durch das Papyrusschilf schlängelt sich ein Nilarm mit seinen Fischen, dazwischen flattern Enten, die von Wildkatzen gejagt werden. Die Gewänder kretischer Frauen, die in Fayence in den Votivgaben des Heiligtums der Schlan gengöttin des Palastes von Knossos nachgebildet sind329, zeigen eingewebt eine Gruppe von Papyrusschilf, die aus einem Hügel aufsprießt, in direkter Nachbildung und Umsetzung einer in Ägypten ganz geläufigen, auch als Hieroglyphenzeichen für das Delta verwendeten Darstellung. Neben einer Affenfigur aus Glasfluß mit dem Namen Amenophis II. aus Mykene stehn gleiche Figuren von Lapislazuli aus dem Königsgrabe bei Knossos330; [177] in den Gemälden aus Hagia Triada schleicht durch das Gebüsch ein ganz lebenstreu wiedergegebener Pavian. Der Einfluß Ägyptens331 erstreckt sich auch auf andere Gebiete: auf der berühmten Schnittervase aus Hagia Triada schreitet dem Chor als Vorsänger ein kahlköpfiger, mit dem Lendenschurz, bekleideter Ägypter voran, der als Musikinstrument das Sistrum trägt.

So erscheint die Annahme nicht zu kühn, daß die Entwicklung der kretischen Wandmalerei, des führenden Elements in der neuen Kunst, durch die Bekanntschaft mit dieser in Ägypten seit einem Jahrtausend reich entwickelten Kunst angeregt ist, wie sie dann umgekehrt wieder stark auf diese zurückgewirkt hat. Nur umso deutlicher wird jedoch eben durch diese fortdauernden gegenseitigen Einwirkungen und Entlehnungen, daß ihrem inneren Wesen nach die beiden Kulturen und ihr Kunstgefühl fundamental voneinander verschieden sind. Der Stil ist in jeder von beiden ein ganz anderer, und was immer die eine von der anderen übernimmt, wird innerlich umgebildet und in den eigenen Stil übersetzt. Die ägyptische Kunst ist stets streng gebunden; sie wurzelt in einer mehr als ein Jahrtausend alten Tradition und einer Technik, deren Regeln und Formen sie festhält, auch wenn sie sie mit neuem Inhalt erfüllt und neue Ideen oder fremde Anregungen behutsam aufnimmt. Die kretische Kunst dagegen ist jugendfrisch und keck; sie wagt sich an die kühnsten Aufgaben, sucht das Unmögliche möglich zu machen, sie hat wohl ein lebendiges Stilgefühl, aber kein Gefühl für die Grenzen der Kunst. Daß sie durchaus auf die Wiedergabe des Moments gestellt ist, bestimmt auch ihren Charakter; so bedeutend und wirkungsvoll manche ihrer Schöpfungen sind, es fehlt ihr die strenge Zucht, die den großen Werken sowohl der ägyptischen wie denen der griechischen Kunst ihren Ewigkeitswert verleiht. Eben darauf beruht freilich zugleich der [178] hochmoderne Charakter der kretischen Kunst, durch den sie eine einzigartige Stellung in der Kunstgeschichte einnimmt. Sie ist durchaus heiter, das Erzeugnis einer Kultur, die mit offenen Augen in die bunte Welt der Natur hineinschaut und den Reichtum des Lebens behaglich genießen will. So hat sie auch ihre helle Freude an der Erscheinung des Menschen; sie legt großes Gewicht auf die athletische Durchbildung des Körpers, die sich in den Schaustellungen der Feste in Ring- und Faustkämpfen und vor allem in den Stierkämpfen bewährt, bei denen Jünglinge und Jungfrauen den anstürmenden Wildstier bei den Hörnern packen und über ihn hinwegspringen – daß gar manche dabei aufgespießt werden oder sonst zugrunde gehn, wird als unvermeidlich von den zuschauenden Massen gleichmütig hingenommen und in den Gemälden und Reliefs dargestellt. Noch charakteristischer ist das raffinierte Kostüm der Frauen, ein bunter, mit Stickereien geschmückter Rock, der in Streifen herabfällt, ein kokettes Jäckchen, das enganliegend Rücken und Oberarm bedeckt und über das das Haupthaar lang herabfällt, der Rumpf eng zusammengeschnürt durch einen gestickten Gürtel und ein Mieder, das die prallen Brüste freiläßt und in voller Nacktheit hervordrängt332. Auch das ist für das Wesen der kretischen Kultur bezeichnend, daß die Frauen gleichberechtigt neben den Männern stehn, sich in der Gesellschaft frei bewegen und mit den Männern zusammen den Spielen zuschauen und auch in ihnen auftreten.

Aus diesem Charakter erklärt es sich, daß, ganz anders als in Ägypten und in Griechenland schon die gleichzeitige Entwicklung auf dem Festland, die kretische Kultur eine monumentale Architektur nicht geschaffen hat. Die Städte bilden ein Gewirr von schmalen winkligen Gassen. Die dichtgedrängten mehrstöckigen Häuser, von deren Aussehn kleine Fayencemodelle aus dem Palast von Knossos ein Bild geben,[179] sind nach außen völlig abgeschlossen; die aus Quadern mit Balkenlagen dazwischen erbaute Front liegt unmittelbar an der Straße, die schmale Tür ist nicht selten in eine Seitengasse verlegt, so daß nach der Hauptstraße nur ein paar Fenster des oberen Stockwerks hinausschauen. Bei größeren Häusern liegen die Zimmer, unter denen auch ein Bad nicht fehlt, um einen offenen Säulenhof.

Inmitten der Städte liegt auf einem Hügel in mehreren Stockwerken der riesige Palast, eine endlose Reihe von Zimmern, die sich um einen großen, nach allen Seiten geschlossenen Binnenhof gruppieren. Im Inneren schaffen lange Korridore die Verbindung, Lichthöfe und Schächte gewähren dem Tageslicht Zutritt. Bequeme Treppen oder schräg ansteigende Gänge führen in die oberen Stockwerke mit ihren Prunkgemächern. Alles ist auf ein behaglich genießendes Dasein eingerichtet; die Windungen der Treppen und Gänge bereiten gefällige Überraschungen, die offenen Hallen und Pfeilersäle des Obergeschosses gewähren einen freien Ausblick in die Landschaft ringsum. Auch für Badezimmer nebst Klosett mit Wasserspülung und für durchgehende Kanalisierung ist vortrefflich gesorgt. Dazu kommen Kulträume und die zahlreichen Zimmer für das Gesinde und die Scharen der Handwerker und Künstler, die wie in Ägypten im Dienst des Fürsten oder Magnaten arbeiten; ferner eine lange dem Palast vorgelagerte Reihe von kellerartigen Magazinen mit riesigen Tonkrügen (Pithoi), die die Vorräte und die Tributgaben bewahren, darunter namentlich auch Öl, das in einer großen Ölmühle gepreßt wird. Das Schema der gesamten Anlage geht auf die alten Paläste der Kamareszeit zurück, auf deren Grundmauern sich in Knossos und Phaestos die Neubauten erheben; die Verfeinerung und vor allem die Ausschmückung der Gemächer mit Fresken und Reliefs gehört dann der neuen Kunst an.

So anheimelnd und reizvoll diese Bauten in einzelnen Teilen wirken, so vollständig fehlt ihnen die innere Geschlossenheit und der große Stil des von einer einheitlichen [180] Idee beherrschten Bauwerks. Im Thronsaal, in den Vorhallen an den Eingängen, an den Treppen, in Kapellen und sonst wird das Gebälk teils von Steinpfeilern, teils von runden Holzsäulen getragen, immer mit Verjüngung nach unten, während auf dem breiteren Ende das wulstartige Kapitell ruht, mehrfach mit Haken zum Aufhängen von Vorhängen. Aber zu einer weiteren Entwicklung hat das nicht geführt, eine wirkliche Säulenarchitektur, wie sie gleichzeitig in Ägypten zu so grandioser Entfaltung gelangt, ist der kretischen Bauweise völlig fremd; diese Säulen sind in ihrer primitiven Form nicht mehr als ein Mittel, um einen größeren lichten Raum zu schaffen, der einen freundlichen Eindruck gewährt333. Das Antlitz der Paläste ist ganz nach innen und nach dem großen Binnenhof gewandt, in scharfem Gegensatz gegen die festländischen Bauten, welche den Hauptraum nebst dem davor liegenden, von einer Kolonnade umschlossenen Hof und der Eintrittshalle dem Eintretenden zuwenden. Nach außen sind sie, wie die ägyptischen und vorderasiatischen Tempel und Paläste, durch die ungegliederte Außenwand abgeschlossen, eine Fassade fehlt vollkommen; mehrere kleinere Eingänge und an der Nordwestecke eine große Freitreppe führen ins Innere. Ein monumentaler Eindruck, wie ihn jene erreichen, wird überhaupt nicht erstrebt; darüber vermag auch der große Hof an der Westseite des Palastes von Phaestos mit einer mächtigen, senkrecht zum Haupteingang verlaufenden Freitreppe, auf der die Zuschauer bei den Stierkämpfen und ähnlichen Schauspielen Platz nehmen, nicht hinwegzutäuschen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 175-181.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon