Die Entwicklung Kretas. Aufkommen und Charakter einer neuen Kultur

[162] Gleichzeitig mit Ägypten ist auch Kreta auf den Höhepunkt seiner Entwicklung gelangt309. Seit alters haben beide Länder in regem Verkehr miteinander gestanden, von dem in allen Epochen der kretischen Kulturentwicklung gar manche aus Ägypten importierte Waren – vor allem Steingefäße, ferner Elfenbein und Fayence – und Einwirkungen, so z.B. in der Gestalt der als Eigentumsmarken dienenden Siegel (Bd. I, 510), Zeugnis ablegen. Mit der Inselwelt des Ägaeischen Meers steht Kreta ununterbrochen in lebendigster Verbindung, gebend und nehmend, wie z.B. das für Messer und Waffen (Pfeil- und Lanzenspitzen) verwendete Obsidian aus Melos bezogen wird. Auf dieser kleinen Insel entsteht dadurch eine dicht besiedelte Handelsstadt (Phylakopi, Bd. I, 511f.), die das für Leben und Krieg unentbehrliche Material weithin über die Inseln und auf das griechische Festland und nach Troja exportiert; auch als dann die Verwendung von Bronze immer [162] weitere Verbreitung findet, hat sich daneben das billigere und durch seine scharfen Schneiden und Spitzen ausgezeichnete Obsidian noch lange im Gebrauch erhalten. Mit Kleinasien war, falls wir hier überhaupt in vorgriechischer Zeit mit einem Eindringen neuer Volksstämme zu rechnen haben, jedenfalls die älteste Schicht der Bevölkerung Kretas und ebenso weithin die der Inseln und des griechischen Festlandes auch ethnographisch verbunden; in der Religion Kretas, in den Götterdarstellungen und Kultsymbolen, in den phantastischen Mischwesen der Dämonenwelt tritt diese Gemeinsamkeit anschaulich hervor. Auf diesem Wege scheinen auch einzelne auf Babylonien zurückgehende Motive in die kretische Religion und Kunst gelangt zu sein310. Mit den Küsten Syriens und Phoenikiens sowie mit Cypern wird gleichfalls schon seit alters ein Verkehr bestanden haben.

Wie dann zu Anfang des 2. Jahrtausends auf Kreta aus den älteren Ansätzen eine höher entwickelte einheitliche Kultur erwächst, ist früher schon dargelegt worden (Bd. I, 513ff.). Die Osthälfte der Insel – die Westhälfte ist noch wenig erforscht und scheint von der Entwicklung des Ostens kaum berührt zu sein – ist mit zahlreichen dicht bebauten Städten besiedelt, in den Königssitzen Knossos und Phaestos entstehn die großen Paläste, deren Grundmauern unter dem Neubau der folgenden Epoche noch größtenteils erhalten sind. Dazu kommen die Heiligtümer auf den Berghöhen und in Felsgrotten, sowie in den Palästen selbst, mit ihren zahlreichen Weihgaben. Auch sonst geben die Funde, Gefäße aus Stein, Metall und Ton, Waffen, Schmucksachen, Siegel und Gemmen, ein Bild von der reichen Kultur dieser Epoche. Charakterisiert ist sie durch den in bunten Farben schwelgenden Dekorationsstil der feinen, deutlich die Nachahmung metallener Vorbilder zeigenden Tongefäße, der sog. [163] Kamaresvasen. Auch eine Kursivschrift hat sich aus den auf den Siegeln verwendeten Bildzeichen schon in dieser Zeit entwickelt (s.u. S. 172f..)

Über die politische Gestaltung der Insel, namentlich über das Verhältnis der beiden großen Königssitze zueinander, läßt sich nichts erkennen; daß wohlgeordnete Verhältnisse bestanden und der Staat eine bedeutende Macht besaß, vor allem zur See, kann nicht zweifelhaft sein. So wird es sich erklären, daß im Gegensatz gegen die festländischen Städte in Asien und Griechenland und z.B. gegen die gleichzeitige Stadt Phylakopi auf Melos, die kretischen Städte unbefestigt sind: sie hatten keine feindlichen Angriffe zu befürchten, auch auf der Insel selbst müssen friedliche Zustände ohne Fehden untereinander geherrscht haben. Mit dem Pharaonenreich der zwölften Dynastie stand man andauernd in regem Verkehr; die geschmackvollen Tongefäße des Kamaresstils waren hier ein begehrter Artikel und haben sich mehrfach in den Überresten einer Stadt im Faijûm (Kahun) und in Gräbern dieser Zeit bis tief nach Nubien hinein (Anibe) erhalten. Vielleicht haben die Pharaonen nicht nur durch Gesandtschaften, sondern zeitweilig auch militärisch auf der Insel eingegriffen (vgl. Bd. I, 291); die Dioritstatue eines ägyptischen Beamten etwa aus dem Ende der zwölften oder der dreizehnten Dynastie hat sich in einer der Kamareszeit angehörenden Schicht des Palastes von Knossos gefunden.

Aber diese Gestaltung hat ein jähes Ende gefunden in der großen Katastrophe, in der die alten Paläste von Knossos und Phaestos zerstört worden sind. Das führt auf die Vermutung, daß eine verheerende Invasion die ganze Insel heimgesucht hat, die mit der eben in diese Zeit fallenden Aufrichtung des Hyksosreichs zusammenhängt (o. S. 43). Dafür spricht nicht nur, daß sich der Deckel eines Alabastergefäßes mit dem Namen des mächtigen Hyksoskönigs Chian in Knossos in der ältesten Schicht des neuen Palastes gefunden hat, sondern vor allem, daß die ägyptischen Nachrichten eine [164] enge Verbindung der Könige von Theben mit Kreta im Kampf gegen die Hyksos erkennen lassen (o. S. 55f). Offenbar hat Kreta alsbald seine Selbständigkeit wiedergewonnen; und da hat man auch begonnen, die zerstörten Paläste wieder aufzubauen.

Mit dieser Umwälzung auf politischem Gebiet verbindet sich nun ein tiefgreifender Wandel der Kultur, der uns vor allem in der Kunst ganz lebendig entgegentritt311. An Stelle der dekorativen Ornamentik des Kamaresstils, die auch da, wo sie Vorbilder aus der Natur, wie z.B. Blätter und Blüten, verwendet, diese inkonventionell stilisierte Formen umsetzt und deren Reiz auf der harmonischen Farbenwirkung beruht, tritt eine von Grund aus entgegengesetzte Auffassung der Kunst. Die geistige Einstellung hat sich gewandelt; es ist, als ob das Gefühl für die Natur, für den unerschöpflichen Reichtum ihres Lebens und den ununterbrochenen Wandel [165] ihrer Erscheinung plötzlich erwacht sei: dieses Leben wiederzugeben, nicht das Objekt selbst in seiner dauernden Gestalt, sondern die lebendigste Bewegung, den Sinneneindruck des Moments festzuhalten und im Bilde zu verewigen wird die Aufgabe der Kunst.

Dieser jähe Wechsel nicht nur der Formen, sondern vor allem der Anschauung hat zunächst die Annahme nahegelegt, daß auch in der Bevölkerung selbst ein Wandel eingetreten sei; ein fremdes Volk sei auf die Insel eingedrungen, das die neue Kunst, die uns sogleich voll durchgebildet entgegentritt, an seinen älteren Sitzen entwickelt und fertig mitgebracht habe. Freilich ließ sich innerhalb der ägaeischen Welt keine Stätte nachweisen, an der diese Entwicklung stattgefunden hätte; die asiatischen Küsten aber kommen dafür überhaupt nicht in Betracht, da hier überall ein ganz anderer, fundamental abweichender Stil herrscht312. Die fortschreitende [166] Untersuchung hat vielmehr gezeigt, daß auch die neue Kultur auf Kreta bodenständig ist und daß in ihr gar manche der älteren Formen weiterwirken oder nachleben, wie denn auch die neuen Paläste unmittelbar auf den Fundamenten der alten erbaut sind, deren Anlage und Raumverteilung beibehalten und nur, wie immer bei Umbauten, in Einzelheiten verschieben oder erweitern, also in den für die Einrichtung der Wohnung maßgebenden Erfordernissen ein Wandel nicht eingetreten ist313. Natürlich bleibt es, bei dem Fehlen aller geschichtlichen Überlieferung, doch möglich, daß fremde Eroberer auf die Insel gekommen sind und sich den dort herrschenden Verhältnissen angepaßt haben; aber wahrscheinlicher ist, daß auch hier, wie so oft bei einem auf den ersten Blick unvermittelt erscheinenden Stilwandel, eine organische Entwicklung vorliegt314. Die Kultur der Insel ist seit dem Ausgang des 3. Jahrtausends mächtig vorgeschritten, das Leben ist reicher, die materiellen Mittel sind größer geworden. Aber die Formen, die damals geschaffen sind, genügen auf die Dauer nicht mehr: sie schnüren die freie Gestaltung in enge Grenzen ein, trotz aller technischen Vollkommenheit erscheinen sie hohl und inhaltsleer: übersättigt [167] wendet man sich von ihnen ab, die innerlich gewandelte Kultur schafft sich einen Stil, in dem die neu erschlossene Anschauung der Außenwelt einen Ausdruck gewinnt, der die Empfindung, aus der sie erwachsen ist, lebensvoll hervorzurufen und wiederzugeben vermag.

Auf dieser inneren Entwicklung beruht die bedeutsame Stellung, die Kreta nicht nur in der Geschichte der Kunst, sondern dadurch zugleich in der Geschichte der menschlichen Kultur überhaupt einnimmt; die Individualität des Volkes hat sich in der neuen Kunst einen seine Eigenart verkörpernden Ausdruck geschaffen. Man mag zum Vergleich die Festlegung des ägyptischen Stils unter den ersten Dynastien und weiter den jetzt durch die Ausgrabungen bei der Stufenpyramide Zosers in Sakkara so anschaulich gewordenen Gegensatz zwischen der Architektur der dritten und der vierten Dynastie und dann die Fortentwicklung zu den Grabtempeln der fünften Dynastie und der Ausgestaltung der Mastabagräber heranziehn, oder auch in Babylonien das Fortschreiten von der primitiven altsumerischen Kunst zu der im Reich von Akkad unter Sargon und Naramsin erreichten Höhe. Aber die kretische Entwicklung geht darüber hinaus; ein bereits voll ausgebildeter einheitlicher Kunststil wird bewußt beiseite geworfen und durch einen von ganz anderen Anschauungen beherrschten ersetzt. So ist wirklich gleichartig vielmehr der Übergang vom geometrischen zum archaischen Stil in Griechenland oder der vom romanischen zum gotischen Stil und dann die Bekämpfung und Verdrängung des letzteren durch die Renaissance, ebenso aber auch die tiefgreifende Umwälzung des Geschmacks und des Hausrats, die wir im letzten Menschenalter erlebt haben315.

Es sind geniale Künstler gewesen, die das neue Sehen der Welt im Bilde verkörpert haben. Ihre größte Schöpfung [168] sind die Freskogemälde an den Wänden der Paläste und die gleichartigen Stuckreliefs. In reichster Fülle entfaltet sich das Abbild der Natur, die Wiesen und Gärten in ihrer Blütenpracht, das Leben des Meeres mit den zwischen den Wasserpflanzen dahinschwimmenden Fischen und Polypen. Alles ist auf den Augenblick gestellt. Die Blätter und Sträuche schwingen sich im Winde, die Ölbäume zeigen ihren knorrigen Wuchs; die gerade Linie, die in den ägyptischen Gemälden durchaus vorherrscht, wird in Kreta grundsätzlich gemieden. Inmitten dieser Landschaften erscheinen Menschen und Tiere immer, wie in Ägypten, im Profil gesehn, aber in lebhaftester Bewegung mit der Landschaft zu malerischer Einheit verwachsen, die Löwen, Stiere, Hirsche, Wildkatzen in gestrecktem Lauf, alle vier Beine vom Boden losgelöst und übernatürlich lang gezogen – ein charakteristischer Versuch, den Sinneneindruck des im Moment den Raum durchfliegenden Körpers im Bilde wiederzugeben. Auf einem der ältesten und schönsten dieser Landschaftsbilder, aus Knossos, pflückt ein Knabe, dunkelblau gemalt, die auf dem Felsboden des Parkes sprießenden Krokosblüten und sammelt sie in einen Korb316. Auf einem Gemälde aus dem Palast von Hagia Triada bei Phaestos beschleicht inmitten der bunten Blumenpracht der Felslandschaft eine Katze einen Fasan, ähnlich wie in der Nillandschaft auf dem Dolch aus [169] Mykene (o. S. 57); auf einem anderen ergeht sich eine Frau in bunten Gewändern im Lustgarten. Auch fremde und phantastische Tiere werden in die Landschaft gesetzt; so lagert in Wandgemälden des Thronsaals von Knossos ein riesiger Vogelgreif zwischen den Stauden317, auf einem anderen lauert inmitten des Gesträuchs ein Pavian. Dazu kommen die schon erwähnten Seestücke. Andere Gemälde schildern das Treiben am Fürstenhof, Reihen von Männern, die, wie in den gleichartigen ägyptischen Darstellungen, Gefäße als Tribut bringen, Kulthandlungen, Stierkämpfe, die auf Kreta seit alters heimisch sind, denen das Volk, Männer und Frauen, zuschaut, teils aus Balkonlogen, teils unter den Ölbäumen des Hofes in dicht gedrängten, in flotter Umrißzeichnung skizzierten Massen. Neben den Freskogemälden stehn die farbigen Reliefs, für die die einzelnen Figuren aus Stuck ausgeschnitten und zusammengefügt sind. Derart sind z.B. die Fayencereliefs einer säugenden Wildziege und einer säugenden Kuh, auch hier mit lebendigster Wiedergabe der Bewegung, und die große Figur eines jugendlichen Fürsten (des »Prinzen mit der Federkrone«), der in stolzer Haltung dasteht, die Lilienkrone mit mächtig aufragenden Pfauenfedern auf dem Haupt. Daran reihen sich die prächtigen Reliefs auf Prunkgefäßen aus Stein (Steatit) und aus Edelmetall318 – letztere, aus Kreta importiert, in den Gräbern von Mykene und Amyklae (Vaphio) erhalten. Bei der Gestaltung des menschlichen Körpers wird, in dem Streben, die athletische Durchbildung stark zu betonen, der Rumpf über den Hüften wespenartig eingeschnürt, eine Bildung, die schon in den Tonfiguren der älteren Zeit angebahnt ist.

Diesen Schöpfungen der Malerei gegenüber tritt die Rundplastik völlig zurück. Die kretische Kunst ist eben, in scharfem Gegensatz gegen das Dominieren der Plastik in [170] Ägypten, durchaus malerisch. Größere Statuen zu bilden hat man überhaupt nicht versucht, und die Kleinplastik lehnt sich durchaus an die von Malerei und Relief geschaffenen Vorbilder an und bleibt daher unselbständig. Gelegentlich führt das Streben, die lebendige Bewegung des Moments auch im Rundbilde festzuhalten, zu Wagnissen, die dem Wesen der Plastik widersprechen, so in der Elfenbeinfigur eines Jünglings, der frei in der Luft schwebend, mit Spannung aller Muskeln in dem langgestreckten Leibe, über einen Stier hinwegspringt319.

Umso bedeutender sind die in reicher Fülle, teils im Original, teils in Abdrücken auf Ton, erhaltenen Werke der Glyptik. Wie in der vorderasiatischen und ägyptischen Kulturwelt besitzt auch auf Kreta jeder selbständige Mann ein Siegel aus hartem Stein oder Elfenbein, bei Armen aus Ton, mit dem er sein Eigentum bezeichnet und Urkunden beglaubigt, ursprünglich in Form von Zylindern und Prismen, dann als Petschaft oder in einen Ring gefaßt; so hat sich hier die Technik der Steinschneidekunst schon früh ausgebildet (Bd. I, 510). Jetzt gelangt sie zur vollen Reife. Auch hier dominiert durchaus das Streben, den Moment in lebendigster Bewegung festzuhalten, so in den Kultszenen und, in Mykene, in den Einzelkämpfen; aber was in den Wandgemälden rasch hingeworfen ist und daher oft zu flüchtiger Behandlung verführt, ist hier mit erstaunlicher Kunstfertigkeit auf kleinstem Raum sorgfältig in allen Einzelheiten ausgeführt. So sind diese Werke der Kleinkunst neben den in der Technik gleichartigen Goldbechern und Einlagen der Dolche wohl die schönsten und eindruckvollsten Schöpfungen der neukretischen Kunst320. Häufig werden diese Siegel jetzt [171] auch in Gold gearbeitet und als Ringe oder im Armband als Schmuckstück getragen; gleichartige Darstellungen finden sich vielfach auch auf Schiebern von Schmuckketten u.ä.

Zur Differenzierung der Eigentumsmarken werden auf den Siegeln seit alters die verschiedensten Figuren verwendet, Blätter und Zweige, Tiere, Geräte, Kombinationen von Strichen, die in bunter Mannigfaltigkeit nebeneinander gestellt sind. Jetzt werden vor allem Bilder von, meist geflügelten, Fabelwesen üblich, und daneben ganz phantastische Verkoppelungen von menschlichen und tierischen Gliedmaßen, Rümpfen und Köpfen, Beinen und Schmetterlingsflügeln u.ä., nicht selten auch in Verbindung mit pflanzlichen Ornamenten. Sehr beliebt ist ein symmetrischer Aufbau, so daß die Gestalten gegeneinander aufgerichtet sind, oft zu beiden Seiten einer Säule aufspringend oder mit Stricken an sie gebunden, so Sphinxe, Löwen, Wildziegen, Hirsche; gelegentlich sind auch die Köpfe der beiden Tiere zu einem einzigen verschmolzen. Manche dieser Ungeheuer, so die aus dem Orient und Ägypten übernommenen Greifen und Sphinxe – letztere immer, wie in Syrien und Kleinasien, in weibliche Wesen umgewandelt –, sind wirklich Darstellungen der bizarren Gestalten, in denen man sich, wie in Babylonien und Kleinasien, die Dämonen verkörpert dachte und mit denen man daher auch die Tierwelt bevölkerte; meist jedoch sind es deutlich freie Schöpfungen des Steinschneiders oder des Bestellers, der das Siegel möglichst individuell und von allen anderen unterscheidbar zu gestalten sucht.

Aus den Abzeichen der Siegel scheint die sog. piktographische Bilderschrift (nebst ihrer Abkürzung in einer Kursive) hervorgegangen zu sein, von der sich in den Palästen der Kamareszeit manche Überreste auf Scherben und Tontäfelchen erhalten haben. Wie weit sie sich an die ägyptische Schrift anlehnt, mit deren Hieroglyphen sich nicht wenige Zeichen berühren, läßt sich mit irgendwelcher Sicherheit nicht entscheiden; daß die Kenntnis der ausgebildeten Schreibkunst des Pharaonenreichs und des vorderen Orients die Anregung [172] und das Vorbild gegeben hat, wird sich nicht bezweifeln lassen. Diese ältere Schrift ist dann weiter zu einer voll ausgebildeten linearen Kursive fortentwickelt, deren Zeichen mit spitzem Griffel in den Ton und die Gefäße eingeritzt oder auch mit Tinte aufgemalt werden; sie ist weithin über die Insel verbreitet und liegt in zahlreichen Inventarverzeichnissen aus den Magazinen, Listen von Personen und Lieferungen u.ä. sowie in der Inschrift einer Libationstafel in der Grotte des Lasithigebirges (Psychro, Bd. I, 521) vor. In Knossos ist sie dann im einzelnen noch wieder umgestaltet und namentlich auch kalligraphisch verbessert worden; doch ist diese Schriftgattung (Klasse B) auf Knossos beschränkt geblieben. Nach der Zahl der eigentlichen Schriftzeichen (gegen 80) wird es wohl eine einfache Silbenschrift gewesen sein, derselben Art, wie wir sie dann auf Cypern finden; diese cyprische Schrift ist, wie die Übereinstimmung der Zeichen zeigt, deutlich aus der kretischen abgeleitet. Daneben stehn aber, wie in Ägypten, nicht wenige Deutezeichen (Ideogramme); auch lineare Nachbildungen der durch die Lautschrift bezeichneten Gegenstände – Gefäße, Dreifüße, Waffen, Wagen u.s.w., vereinzelt auch Pferde, ferner Gewichte in Form von Stierköpfen – werden in den Inventaren regelmäßig hinzugefügt. Rechtliche oder geschichtliche Urkunden scheinen nicht erhalten zu sein, und ebensowenig etwa Briefe. Ob es einmal gelingt, durch eine glückliche Kombination diese Schrift zu entziffern, steht dahin, und ist umso problematischer, da wir von der zugrunde liegenden Sprache und selbst von den Namen garnichts wissen, abgesehn etwa von dürftigen Brocken des Eteokretischen, die uns in mit griechischen Buchstaben geschriebenen Inschriften erhalten sind (Bd. I, 505)321. Sicher deutbar sind bis jetzt außer [173] den ideographischen Bildern nur die Zahlzeichen, die in einem einfachen dekadischen System geschrieben sind.

In der Dekoration und Ornamentik hat der Kamaresstil noch längere Zeit nachgewirkt, vor allem, langsam verkümmernd, auf den Gefäßen der Inseln und des Festlandes; auf Kreta selbst wird er alsbald durch den neuen, ihm diametral entgegengesetzten Stil vollständig verdrängt. Die Ornamentik entnimmt ihre Motive, abgesehn von der Verwendung von religiösen Symbolen wie der Doppelaxt und dem Stierkopf auf Kultgefäßen, vorwiegend der Vegetation und der Meereswelt mit ihren seltsamen Tiergestalten. Besonders charakteristisch sind die Polypen, die zwischen Korallen und Seegras schwimmend mit ihren Fangarmen den Bauch des Gefäßes umschließen, teils aufgemalt, teils plastisch auf Steingefäßen oder auf einem großen Steingewicht; dazu Nautili, Seesterne, Muscheln, auch Delphine. Nicht minder reich ist die Pflanzenwelt des Festlandes vertreten, Gräser und Sträucher, Efeu, Papyrus, Palmen, unter den Blumen vor allem Lilien und Krokus. Durchweg herrscht auch hier die lebendigste Bewegung; nicht sowohl das Objekt selbst in seiner dauernden Erscheinungsform, als vielmehr den ununterbrochenen Fluß dieses Naturlebens zu erfassen und wiederzugeben ist auch hier das Streben der neuen Kunst. So entstehn die reizvollsten Schöpfungen, Gefäße, auf denen, sich der Gestalt des Kruges harmonisch anpassend, Lilien oder Farnen aus dem Boden aufsprießen, Papyrusschilf in farbigem[174] Relief das Gefäß umschließt, ein Rosenzweig sich auf den Rand einer Fayencevase lagert. Dazu kommen dann rein ornamentale Elemente wie Rosetten und Spiralen, die ebenso, als fortlaufende Friese, die Einfassung der Wände und den Deckenschmuck oder auch die Umrahmung eines prächtigen, mit Elfenbein und Gold ausgelegten Spielbretts aus dem Palast von Knossos bilden. Nicht selten sind zwischen derartige Streifen in langen Reihen Gemälde der großen, mit Rindshaut überzogenen kretischen Schilde eingesetzt. In anderen Fällen werden die Zwickel zwischen den Spiralen mit stilisierten Blüten ausgefüllt, eine Gestaltung, die uns am glänzendsten in der skulpierten Decke der Grabkammer im Kuppelgrabe von Orchomenos, und daneben in zahlreichen Bruchstücken der Wandgemälde von Tiryns vorliegt322.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 162-175.
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