Die ethnographischen Probleme. Eteokreter und Kafti. Lykier, Tyrsener und Philister

[794] 520. Mehrfach ist die Ansicht aufgestellt, daß mit dem Ende der Kamareszeit oder etwas später griechische Stämme, die Achaeer Homers, nach Kreta gekommen und daß sie die Bauherren der neuen Paläste und die eigentlichen Träger der [794] großen kretischen Kultur gewesen seien. Aber die Kultur des griechischen Festlandes ist auf ganz primitiver Stufe stehen geblieben (§ 509. 525) und hat mit der Entwicklung Kretas gar keinen Zusammenhang, bis etwa im sechzehnten Jahrhundert die kretische Kultur auch hier übermächtig eindringt, aber durchaus als etwas aus der Fremde Importiertes: auf wie tiefer Stufe damals noch die einheimische Kunst stand, zeigen die Grabstelen von Mykene im Gegensatz zu den aus Kreta stammenden Goldbechern, Goldringen und Vasen. Auch in der weiteren Entwicklung bleibt der Unterschied bestehen: die Anlage der Paläste ist auf Kreta eine ganz andere als auf dem Festland; die Städte sind hier von gewaltigen Mauerringen umzogen, dort fehlt jede Befestigung; dem Festland ist die Schrift unbekannt geblieben-denn daß hier sich ganz vereinzelt ein paar Scherben mit Schriftzeichen gefunden haben, kommt gegenüber der Masse von Schriftendenkmä lern auf Kreta gar nicht in Betracht –; die festländische Tracht ist eine andere als die der Kreter. Sehr beachtenswert ist auch, daß das Pferd und der Streitwagen auf Kreta nur spät und vereinzelt erscheinen und offenbar hier keine größere Verbreitung gefunden haben, während sie auf dem Festlande von Anfang an-schon auf den mykenischen Grabstelen und dann im Stierkampf-von ganz entscheidender Bedeutung gewesen sind. Die Griechen haben eben das Pferd aus ihrer indogermanischen Heimat mitgebracht, während es nach Kreta im Zusammenhang mit seinem Aufkommen im orientalisch-aegyptischen Kulturkreise gelegentlich einmal importiert worden ist. Wenn die Religion und die Traditionen Kretas deutlich nach Kleinasien weisen, so bestätigen alle diese Momente, daß die Träger der kretischen Kultur keine Griechen gewesen sein können, und stimmen daher mit der Auffassung, welche Herodot von Minos hat (§ 505), vollkommen überein; erst mit ihrem Untergang kurz vor 1400 sind die Griechen nach Kreta gekommen.


Daß die Achaeer die Erbauer der neuen Paläste seien, ist die Ansicht DÖRPFELDS, MAI. XXX. XXXII (vgl. § 514 A.). Ähnlich KRETSCHMER, [795] Glotta I 21. – Über die Unterschiede der Festlandsbevölkerung von den Kretern hat vor allem RODENWALDT in seiner Bearbeitung der Fresken des Palastes von Tiryns gehandelt, Tiryns Bd. II, 1912, s. die Zusammenstellung S. 203, wo auch die Belagerungsscene auf dem Silberbecher von Mykene richtig analysiert ist. – Pferd und Wagen kommt in Kreta nur auf einigen Schrifttafeln aus Knossos (Scripta Minoa I 42ff.; ebenso in Tylissos bei Knossos: Chatzidakis Εφ. αρχ. 1913, 215), auf dem Sarkophag von Hagia Triada, und auf dem Siegelabdruck mit dem Bilde des sog. trojanischen Pferdes vor. [In einem kretischen Prismasiegel von Steatit in Berlin (FURTWÄNGLER, Katalog no. 63 = EVANS, J. Hell. Stud. XIV 344. Scripta Minoa I 11 no. 5 b 1) glaubt BAUR, Centaurs in Ancient Art p. 1, einen Kentauren zu erkennen, den er mit den ganz andersartigen und weit jüngeren Kentauren in Babylonien (Sternbild des Schützen, § 427) kombiniert. Es ist aber, wie Herr Prof. ZAHN mir am Original gezeigt hat, ein Tier mit spitzer Schnauze, über der der Rand lädiert ist; das hat BAUR für einen Menschenkopf gehalten. Kentauren kommen, wie seine Zusammenstellung beweist, vor der geometrischen Kunst der nachmykenischen Zeit nicht vor, und das Pferd ist auf Kreta vor der Epoche des Palaststils nicht nachweisbar.]-Ich bemerke gleich hier, als Nachtrag zu den früheren Angaben über das Aufkommen von Pferd und Wagen (§ 455), daß beim Kriegswagen Thutmosis IV. in Florenz (NUOFFER, Rennwagen im Altertum S. 12. 14f. SCHUCHHARDT, Praehist. Z. II, 327) nach den von SCHUCHHARDT, Praehist. Z. IV 447 gegebenen Mitteilungen die Deichsel aus Ulmen-, die Räder aus Eschenholz bestehen; die Nabe ist mit den Speichen durch Birkenbast verbunden, das vordere Deichselende damit umwickelt. Er ist also aus dem Norden importiert (der zugehörige Schießbogen ist dagegen wahrscheinlich helles Ebenholz), und zwar, da die Birke nur im Südosten Europas und am Kaukasus vorkommt, offenbar über Kleinasien (oder Armenien) und Syrien, also doch wohl durch die Chetiter. Im östlichen Kleinasien waren Pferd und Wagen nach Ausweis der kappadokischen Tafeln jedenfalls schon im dritten Jahrtausend bekannt, s. § 435 A.


521. Die Stätten, denen wir unsere Kenntnis der Entwicklung Kretas verdanken, liegen durchweg teils auf dem zerklüfteten östlichen Ausläufer der Insel, bei den heutigen Orten Zakro und Palaekastro an der östlichen, Sitia und Muliana an der nördlichen Küste, und weiter am Golf von Mirabello (Gurnia, Vasiliki, Mochlos und Pseira), teils in der östlichen Hälfte des Zentrums, wo in der nördlichen Küstenebene Knossos, im Süden auf den Höhen über der fruchtbaren Ebene des Lethaios die Stadt Phaestos dominierend hervortritt, [796] beide zwar etwa eine Stunde von der See entfernt, aber den Zugang zu dieser beherrschend. Die westliche Hälfte der Insel hat dagegen Funde aus älterer Zeit, auch noch aus dem ganzen zweiten Jahrtausend, bisher kaum irgendwo gebracht. Wenn das nun auch zunächst darauf beruht, daß hier Ausgrabungen noch nicht ausgeführt sind, so ist es doch schwerlich lediglich ein Zufall, daß hier eben noch keine Stätte zu einer Grabung gelockt hat und an der Oberfläche liegende Funde nicht gemacht sind. Denn auch den sakralen Mittelpunkt der Insel bildet in der ganzen älteren Zeit, bis weit ins erste Jahrtausend hinein, nicht das zentrale, fast 2500 Meter aufragende Idagebirge, sondern das Hauptgebirge der Osthälfte, das nur etwa 2000 Meter hohe Lasithigebirge. Hier liegt im »Ziegenberge« (Aigaion) die heilige Höhle, in der der Himmelsgott (Zeus) von der großen Berggöttin zur Welt gebracht und vor seinem Vater geborgen wurde (§ 485); und in dieser haben sich außer einem aufgemauerten Altar und den Resten der Opfer zahlreiche Weihgaben-darunter mehrere Opfertische, von denen einer eine Inschrift in kretischer Kursive trägt-und Scherben gefunden, von denen die älteren, in der tiefsten Schicht, dem Kamaresstil, die jüngeren der späteren Kultur angehören und bis an den Beginn des geometrischen Stils hinabreichen. Somit ist diese Stätte das ganze zweite Jahrtausend hindurch eifrig verehrt worden; erst etwa vom zehnten Jahrhundert an wird sie vernachlässigt und durch eine Höhle am Ida ersetzt, die reiche Weihgaben der folgenden Epoche erhalten hat.


Ein Kuppelgrab bei Maleme, 21/2 Stunden westlich von Kanea an der Küste, im Westen der Insel, ist von H. PRINZ untersucht worden (MAI. 35, 150); es gehört dem Anfang der neuen Kulturepoche an, die also auch hier eingewirkt hat. – Funde der Höhle von Psychro im Lasithigebirge: HOGARTH, Annual VI 94ff. Der Opfertisch mit Inschrift: EVANS, J. Hell. Stud. 17, 355 [Scripta Minoa I 14f.]. Bekanntlich ist die Höhle bei Hesiod [theog. 475ff., das Αἰγαῖον ὂρος bei Lyktos] die Geburtsstätte des Zeus, während die Späteren zunächst eine Höhle der Dikte, dann die idaeische Grotte an ihre Stelle setzen und häufig beide zusammenwerfen. Daß die Dikte nicht mit dem Lasithigebirge identisch ist, wie man allgemein angenommen hat, sondern nach Strabo [797] X 4, 6. 10 ganz im Osten der Insel bei Praisos und Itanos liegt (womit die urkundlichen Angaben über den Kult des diktaeischen Zeus übereinstimmen), hat W. ALY, Der kretische Apollokult, 1908, 47 und weiter BELOCH, Klio XI 433f., erwiesen.


522. Unter den fünf Völkern, welche die Odyssee auf Kreta kennt (§ 505), sind zwei, die wir als alteinheimisch betrachten müssen: im Osten die Eteokreter, im Westen die Kydonen; es liegt sehr nahe, diese beiden Völker mit der archäologischen Zweiteilung der Insel im Zusammenhang zu bringen. Von den Kydonen wissen wir weiter gar nichts, außer daß Beziehungen zum Westen des Peloponnes (Elis) vorhanden zu sein schienen. Die Träger der kretischen Kulturentwicklung werden also die Eteokreter gewesen sein. Indessen Eteokreter ist kein Volksname, sondern die Bezeichnung, welche die Griechen, als sie nach der Insel kamen, dem von ihnen an die Ostspitze zurückgedrängten Volk gegeben haben, das vor ihnen Kreta beherrschte. Sie müssen identisch sein mit den Kafti, welche die Aegypter im sechzehnten und fünfzehnten Jahrhundert als ein mächtiges Seevolk und als Träger einer hochentwickelten Kultur kennen, die mit der damaligen Kultur Kretas identisch ist; in den Abbildungen der aegyptischen Denkmäler sehen diese Kafti ebenso aus, wie die Kreter in den einheimischen Skulpturen und Malereien. Der Name Kafti ist wahrscheinlich identisch einerseits mit Kaptôr, dem bei den Israeliten erhaltenen Namen Kretas, andrerseits mit dem verschollenen Volksnamen Japet, von dem die hebraeische Sage als von einem weit ausgebreiteten Volk, das auch nach Palaestina gekommen ist, eine dunkle Kunde bewahrt hat. Bei den Griechen hat sich lediglich der Name Iapetos erhalten, als der eines uralten Dämonen (Titanen) und Gegeners des Zeus, von dem man weiter keine Kunde mehr besaß. – Aber die Gestalten der Kafti und der kretischen Denkmäler der Blütezeit der Kultur sehen gar nicht kleinasiatisch aus, und auch die von ihnen erhaltenen Schädel scheinen einen ganz anderen, dolichokephalen Typus zu zeigen; und ob die eteokretische Sprache kleinasiatisch gewesen ist, kann nach den dürftigen, von ihr erhaltenen [798] Überresten recht fraglich erscheinen. Es kommt hinzu, daß die Kafti und das Herrenvolk, das die großen Paläste gebaut hat, langes Haupthaar trugen, das in langen Strähnen über die Schulter fiel, wie bei der κάρη κωμῶντες Ἀχαιοί, mit charakteristischen Haarflechten über der Stirn; die Votivfiguren von Petsofa (§ 513) dagegen haben das Haar kurz geschoren, und ebenso fehlt es bei Kriegern u.a. aus Knossos nicht selten namentlich auf Siegeln, so daß wir es hier vielleicht mit zwei verschiedenen Bevölkerungen zu tun haben, einer herrschenden und einer unterworfenen. Weiter haben sich unter den Siegelabdrücken der älteren Zeit im Palaste von Knossos, verbunden mit hieroglyphischen Zeichen, die Abdrücke von zwei Porträtköpfen gefunden, die einen von den späteren völlig abweichenden, dagegen dem kleinasiatisch-chetitischen gleichartigen Typus zeigen; der eine hat gelocktes Haar, aber ohne die langen Strähnen, bei dem anderen ist das Haupthaar kurz geschoren. So wird man vielleicht vermuten dürfen, daß am Ende der Kamareszeit ein fremdes Volk, eben die Kafti oder Eteokreter, nach der Insel gekommen ist und in der Osthälfte der Insel die ältere Bevölkerung unterworfen, dabei aber ihre Kulte übernommen und zugleich den Anstoß zu der neuen, mächtig aufsteigenden Kulturentwicklung gegeben hat. Diese ältere, den Kleinasiaten verwandte Bevölkerung könnte sich dann in der Westhälfte der Insel in den Kydonen erhalten haben. Wo freilich die Heimat dieser Einwanderer zu suchen ist, würde völlig dunkel bleiben; und überhaupt wird sich eine sichere Entscheidung über diese Fragen aus dem bisher vorliegenden Material kaum je gewinnen lassen; nur wenn es gelingen sollte, die kretische Schrift zu entziffern, dürfen wir vielleicht hoffen, eine feste Grundlage zu gewinnen.


Die Kydonen erscheinen außer Od. τ 176 auch Od. γ 292, wo sie in der Westhälfte der Insel Ἰαρδάνου ἀμφὶ ῥέεϑρα sitzen; zur Erläuterung bieten die Späteren gar nichts. Der Flußname Iardanos (§ 476 A.) kehrt Il. H 135 in Elis wieder (vgl. Strabo VIII 3, 12. 20. 21, mit dem τάφος Ἰαρδάνου), und bei Phrixa in der Pisatis liegt ein Tempel der Athena Kydonia (Pausan. VI 21, 6); das ist schwerlich Zufall. – Daß der Westen [799] Kretas in allem weniger entwickelt war als der Osten, spricht sich auch darin aus, daß dort echt griechische Ortsnamen viel häufiger sind als im Osten. Den Kydonen würde unter anderem der Ortsname Pergamos bei Kydonia (vgl. § 491 A.) und wohl auch der des Ida angehören, was auf Zusammenhänge mit Kleinasien und speziell Troas weist. – Im Dekret von Kanopos wird Φοινίκη durch Kaft übersetzt, und das hat uns früher irre geführt. Daß die Kafti mit den Phoenikern nichts zu tun haben, hat W. M. MÜLLER, Asien und Europa nach aegyptischen Denkmälern 1893 erwiesen, der das aegyptische Material über sie zusammenstellt. Er setzte sie nach Kilikien; jetzt ist allgemein anerkannt, daß sie mit den Kretern identisch sind, s.z.B. HALL, Keftiu and the peoples of the sea, Annual of the Br. School VIII 157ff. und dazu X 154. XVI. 254. Das hebräische Kaphtor findet sich als Kptar in einer späten Inschrift des Tempels von Ombos, natürlich einer verschollenen alten Völkerliste entnommen, s.W. M. MÜLLER, Studien zur Vorderas. Gesch. II S. 5 (Mitt. Vorderas. Ges. 1900). Über die Japhetsage Gen. 9, 27 s.m. Israeliten und ihre Nachbarstämme 219ff. Von Japhet kann der ganz isolierte Name des Titanen Ἰάπετος nicht getrennt werden; er begegnet auch in einer kilikischen Götterliste bei Steph. Byz. Ἄδανα. – Über die Schädel von Zakro (an der Ostküste der Insel): DAWKINS, Annual VII 150ff.; von Palaekastro: DUCKWORTH, Annual IX 344, vgl. HAWES, ib. XI 296f.; die Langschädel überwiegen hier, in sicher eteokretischem Gebiet, durchaus, wenngleich auch Breitschädel nicht selten vorkommen; gegenwärtig überwiegen auf Kreta die letzteren. – Die Köpfe auf den Siegeln von Knossos: EVANS, Scripta Minoa I 272, vgl. H. PRINZ, MAI XXXV 152, 2, der ebenso wie die Engländer, FIMMEN, REISINGER u.a. die Annahme eines Bevölkerungswechsels bestreitet; aber für solche Fragen beweist m.E. der überall zu führende Nachweis einer Kontinuität der Kulturentwicklung so wenig etwas, wie umgekehrt ein Wechsel der Kultur. Weiter kommen lassen wird sich mit einer eindringenden Untersuchung der verschiedenen Bevölkerungstypen und Haartrachten der kretischen wie der festländischen Denkmäler, für die RODENWALDT, Tiryns II, S. 6, 3 sehr wertvolle Zusammenstellungen gemacht hat. Daß die Tracht der späteren Denkmäler eine andere ist als die der Figuren von Petsofa u.ä., beweist allerdings nicht zu viel; hier kann Fortentwicklung vorliegen.


523. Ein weiteres Moment ist das Aufkommen einer neuen, auf Knossos beschränkten Schrift mit dem Umbau des dortigen Palastes (§ 516). Ein sicheres Argument ist freilich auch daraus nicht zu entnehmen, da wir die Schrift nicht lesen können; und ebensowenig kann das Fortbestehen der früheren [800] Schrift in den übrigen Teilen der Insel und die Entwicklung der beiden Kursiven aus der ursprünglichen Hieroglyphenschrift die Identität der Bevölkerung erweisen; wenn wir z.B. die Keilschrift nicht lesen könnten, würden wir die Bevölkerung Sinears und seine Nachbargebiete für homogen halten und nicht ahnen, wie viele total verschiedene Sprachen mit ganz denselben Schriftzeichen geschrieben werden, während andrerseits die sehr verschiedene Schrift von Babel und Assur dieselbe Sprache darstellt. Aber naheliegend ist die Vermutung doch, daß die abweichende Schrift einem neuen (wenn auch vielleicht den andern nahe verwandten) Volksstamm angehört, der sich etwa um 1600, nach Chian und der Hyksoszeit, der Stadt Knossos bemächtigt hat, aber die einheimische Kultur ebenso übernimmt und fortsetzt, wie z.B. die Amoriter und die Kossaeer in Babylonien. – Noch weiter kompliziert werden diese Fragen durch die zweifellos richtige Überlieferung, daß die Lykier ursprünglich auf Kreta gesessen haben und von hier aus in ihre späteren Wohnsitze am Rande des südlichsten Vorsprungs Kleinasiens eingewandert sind (§ 505; zu ihrer Tracht vgl. § 524 A.). Zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts erscheinen sie in den Amarnatafeln und später in den aegyptischen Denkmälern unter dem Namen Lukki (aeg. geschrieben Ruka) als ein Piratenvolk. Nach Herodot müßten sie von den Eteokretern abstammen; nach ihrer Sprache sind sie den Kleinasiaten zuzurechnen (§ 476). Es wäre jedoch nicht unmöglich, daß sie ihre aus den Inschriften bekannte Sprache erst in den neuen Wohnsitzen angenommen und vorher eine ganz andere Sprache gesprochen haben.

524. Daß wir es in der Tat in der Welt des Aegaeischen Meers mit zahlreichen verschiedenen Völkerschaften zu tun haben, die wir nur in Ausnahmefällen etwas näher greifen können, zeigen die Angaben der aegyptischen Inschriften des dreizehnten und zwölften Jahrhunderts über die Angriffe der Seevölker auf Libyen und Aegypten, die neben den Danaern und Achaeern und den Lykiern noch eine ganze Reihe an derer Namen nennen. Darunter finden sich die Turša, ohne Zweifel [801] dasselbe Volk wie die späteren Tyrsener (Etrusker) auf Lemnos und in Italien; aber woher sie stammen und mit welchen anderen Völkern sie ethnographisch in Zusammenhang stehen mögen, ist auch jetzt noch völlig dunkel. Etwas bestimmter faßbar sind zwei andere Stämme, die Philister (aeg. geschrieben Persta) und Zakkari, die sich später, zu Anfang des zwölften Jahrhunderts, an der Küste Palaestinas festgesetzt haben. Sie sind in den aegyptischen Darstellungen durch eine Kappe mit Nackenschirm charakterisiert, die auf einem Reifen eine Federkrone trägt; die Köpfe sind bartlos, und das Haupthaar ist kurz geschoren oder abrasiert. Dieselben Gestalten finden sich lange vorher auf einem ganz eigenartigen Monument, das in einem Raum des älteren Palastes von Phaestos zusammen mit zahlreichen Scherben aus dem Anfang der neuen Kultur (Middle Minoan III) gefunden ist, also etwa dem siebzehnten Jahrhundert angehört. Es ist eine tönerne Scheibe, die auf beiden Seiten mit Schriftzeichen bedeckt ist; und zwar sind diese Zeichen mit einem, vermutlich hölzernen, Stempel eingepreßt-ein Vorläufer der Buchdruckerkunst, der hier absolut isoliert und völlig überraschend auftaucht. Die Schrift läuft spiralförmig von rechts nach links und von außen nach innen; Worttrennung ist überall durchgeführt, und am Ende einer Wortgruppe ist vielfach mit einem Griffel (mit dem auch die Trennungslinien zwischen den Zeilen und den einzelnen Wörtern eingeritzt sind) ein schräger Strich angefügt, wahrscheinlich als Zeichen der Vokallosigkeit. Daß wir es mit einer Silbenschrift, ähnlich etwa der babylonischen, zu tun haben, ist evident. Die Hieroglyphen sind von den kretischen völlig verschieden, wenn sie auch unter deren Einfluß entstanden sein werden, wie der Ton, die eingeritzten Linien, die Worttrennung zeigen; auch einzelne Zeichen berühren sich, so die Pflanze, die Rosette u.a. Daneben stehen sorgfältig ausgeführte Bilder von Pflanzen und Blüten, Vögeln, Tierköpfen, eines Schiffes, eines Kruges, einer Axt, die der kretischen entspricht, ebenso wie der doppeltgekrümmte Bogen und der Pfeil, eines Rundschildes mit Buckeln, eines tragbaren Kastens, wie er zur [802] Aufbewahrung von Weihgeschenken dienen mochte, eines Hemdes u.a., und weiter Figuren und Köpfe von Männern und Frauen, darunter auch ein nackter Gefangener mit auf dem Rücken zusammengebundenen Armen. Das Denkmal und seine Schrift gehören also in weiterem Sinne dem Bereich der kretischen Kultur an, zeigen aber eine selbständige Gestaltung und ein neues, von den sonst auf Kreta vertretenen durchaus verschiedenes Volkstum. Denn die Männer sind durchweg kahlköpfig und bartlos, zum Teil vielleicht mit Tätowierungen auf der Backe; die Frau hat langes Haar, aber eine von der kretischen abweichende Tracht. Zu Anfang zahlreicher Gruppen-offenbar Eigennamen-steht nun ein Kopf (oft mit einem Schild dahinter, was also vielleicht Krieger oder Häuptlinge bezeichnet); und dieser trägt zwar kein Haar, aber eine Kopfbedeckung von Federn. Mithin gehört das Dokument den Philistern oder Zakkari an. Nach israelitischer Überlieferung sind die Philister von der Insel Kaptor, d.i. Kreta (§ 522), gekommen. Ob sie aber im siebzehnten Jahrhundert, aus dem dieses Dokument stammt, auf der Insel und nicht vielmehr an irgend einer anderen Stelle des Aegaeischen Meeres gesessen haben, ist nicht zu ermitteln; denn offenbar ist der Diskus entweder als Geschenk, etwa zusammen mit Tributen, oder als Beutestück nach Phaestos gekommen. Man darf vielleicht vermuten, daß sie im westlichen Kleinasien und den vorliegenden Inseln gesessen haben; aber irgendwelche weitere Spur dieses Volks und seiner Kultur hat sich bis jetzt nirgends gefunden. So stehen wir hier überall vor Fragen, die eine auch nur einigermaßen sichere Beantwortung noch nicht zulassen. Nur so viel ist klar, daß die von den Archäologen meist angenommene Homogenität der Bevölkerung Kretas durch alle Stadien der Entwicklung der Insel äußerst problematisch ist; vielmehr erhalten wir einen Einblick in das Geschiebe und die Kreuzung der Völker in den älteren Epochen der Geschichte des Aegaeischen Meers, Vorgänge, die die historische Betrachtung ohnehin postulieren muß, die aber auch durch die Monumente bezeugt werden.


[803] Nach aegyptischen Nachrichten haben sich die Zakkari bei der Völkerwanderung unter Ramses III. in Dor nördlich von den Philistern angesiedelt. Daß die Philister damals die jüngsten Ausläufer der kretisch-mykenischen Keramik mitgebracht und in Palaestina weiter entwickelt haben, hat H. THIERSCH, Jahrb. d. archäol. Inst. XXIII Anz. 378ff. gezeigt. – Zu dem Federschmuck der Philister und Zakkari hat W. M. MÜLLER mit Recht die Angabe Herodots VII 92 herangezogen, daß die Lykier εἶχον ... περὶ τῇσι κεφαλῇσι πίλους πτεροῖσι περιεστεφανωμένους. – Der Diskus von Phaestos ist von L. PERNIER entdeckt und in der Ausonia III 255ff. publiziert und analysiert, sodann von EVANS, Scripta Minoa I, dessen Deutungsversuche schwerlich Zustimmung finden werden. Vgl. meinen Aufsatz Ber. Berl. Akad. 1909, 1022ff., sowie A. DELLA SETA, il disco di Phaistos, Rendic. della R. Ac. dei Lincei XVIII 1909 und A. J. REINACH, le disque de Phaistos et les peuples de la mer, Rev. arch. 1910, 1, die gleichfalls die von PERNIER und EVANS seltsamerweise verkannte Richtung der Schrift von rechts nach links richtig erkannt haben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 794-804.
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