Die Eroberung Kretas durch die Achaeer

[235] Während das griechische Festland von der Kultur Kretas durchtränkt wird, ist sie auf der Insel selbst alsbald innerlich erschlafft. Die Lebensformen bleiben die gleichen, der Palast in Knossos wird im einzelnen mehrfach umgebaut – zu den jüngeren Räumen (»Spätminoisch II«) gehört z.B. der Thronsaal mit Sitzbänken und einem Königsthron von Alabaster und zwei großen im Schilf lagernden Greifen als Wandgemälde. [235] Aber das frische Leben der Kunst schwindet, der kecke Naturalismus entartet zur Manier, die die einmal geschaffenen Formen festzuhalten sucht, aber in der Ausführung immer mehr degeneriert – ein charakteristisches Beispiel dafür ist der Abstand der Gemälde des Sarkophags von Hagia Triada (o. S. 202) von den älteren Kunstwerken. In der Bemalung der großen, in ihrer Art vollendeten dreihenkligen Amphoren des sog. Palaststils ist die Nachbildung der Natur aufgegeben; die Pflanzen und Blüten, die Polypen, die Felsen und Korallen des Meeresgrundes werden streng schematisch stilisiert und der architektonischen Gliederung des Gefäßes untergeordnet so gut wie die Spiralen und Wellenlinien oder die der Architektur entlehnten Halbrosetten (Triglyphen). Der Farbenreichtum der älteren Zeit ist völlig geschwunden, man malt mit schwarzem Firnis auf hellem Tongrund. Auch neue Gefäßformen kommen auf, so die Bügelkannen, die dann für die Folgezeit charakteristisch werden. Äußerlich hat sich offenbar nicht viel geändert, und die Paläste stehn nach wie vor prächtig da; aber deutlich empfindet man, daß die Schöpfungskraft erlahmt ist und das innere Leben entweicht.

In dieser Epoche langsamen Niedergangs ist die Insel einer verheerenden Katastrophe erlegen, die der selbständigen Weiterentwicklung der kretischen Kultur ein jähes Ende bereitet hat. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es Stämme des griechischen Festlandes gewesen sind, die sie herbeigeführt haben. Die kretische Seemacht war offenbar nicht stark genug, die Scharen der Eindringlinge abzuwehren; zu Lande aber waren die Kreter bei ihrer unzureichenden militärischen Organisation den Fremden nicht gewachsen, und die unbefestigten Städte lagen ihnen schutzlos offen. So wurden alle Städte verwüstet, die Paläste von Knossos, Phaestos, Hagia Triada wurden niedergebrannt und liegen seitdem in Trümmern. Nur im Osten, in Praisos und Polichne, vermochte die alte Bevölkerung sich unabhängig zu erhalten460; [236] im Hauptteil der Insel aber, vor allem in Knossos, gebieten fortan nach der Sagenüberlieferung, die auch hier auf einer durchaus zutreffenden Tradition beruht, achaeische Fürsten461.

Diese Machthaber haben sich auch in den zerstörten Palästen angesiedelt und einen Teil der Räume wieder aufgebaut462. Auch von der älteren Bevölkerung sind nicht wenige [237] offenbar in den alten Wohnsitzen geblieben und haben sich, vielleicht als Hörige, der Fremdherrschaft gefügt. So setzen sich denn auch die Formen der alten Kultur, die ja auch den Eroberern nicht mehr fremd war, weiter fort. Aber die Schöpferkraft ist völlig geschwunden, die Bemalung der Gefäße und ebenso die der Tonsärge in Truhenform, die jetzt üblich werden (o. S. 201), zeigen geistig wie technisch den ständig fortschreitenden Verfall. Auch die rohen Idole einer weiblichen Gottheit, bei denen der Oberkörper mit plumpen Armen aus einem Zylinder herauswächst, gehören erst dieser Zeit an, ebenso die Mehrzahl der Mützenidole (S. 199). Im übrigen sind natürlich die alten Stätten und Formen des Kultus weiter bestehn geblieben und von den Griechen übernommen worden, so gut wie die Sagengestalt des Zeussohnes Minos, den das Epos zum Ahnen der achaeischen Könige macht463.

Für die Zeit der Katastrophe bietet einen Anhalt einerseits, daß nach Thutmosis III. in den ägyptischen Grabgemälden unter den Gesandtschaften aus der Fremde die Kafti nicht mehr erscheinen, obwohl die kulturellen Beziehungen zur ägaeischen Welt fortbestehn und der Import der von dort bezogenen Tongefäße eher noch wächst, und daß andrerseits die in großen Massen im Palast Amenophis' IV. in El Amarna erhaltenen Scherben solcher Gefäße (darunter zahlreiche Bügelkannen) durchweg bereits den völlig degenerierten Stil (Late Minoan III) zeigen, und ebenso schon manche aus der Zeit Amenophis' III.464. Demnach werden wir den Untergang des kretischen Reichs und die Festsetzung der Achaeer auf Kreta spätestens in den Anfang der Regierung Amenophis' III. rund um 1400 ansetzen dürfen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 235-238.
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