Griechenland unter dem Einfluß der kretischen Kultur. Die Schachtgräber von Mykene

[221] Auf dem griechischen Festland und den vorliegenden Inseln, wie z.B. Ägina, ist die Einwirkung Kretas schon in der Kamareszeit durch das Auftauchen kretischer Tongefäße und vor allem durch Nachahmung ihres von dem einheimischen ganz verschiedenen Dekorationsstils zwischen den Scherben und Geräten einer primitiven bronzezeitlichen Kultur430 erkennbar. Mit dem Aufkommen der neuen Kultur dringt diese alsbald, etwa seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, immer mächtiger auf das Festland ein und verschmilzt [221] mit den einheimischen Lebensformen und Kulturansätzen zu einer der kretischen parallellaufenden Entwicklung, die, so sehr sie formell von dieser abhängig ist, doch neben ihr ein eigenes, in vielem selbständiges Sonderleben führt.

Von den Zuständen der griechischen Welt läßt sich einigermaßen ein Bild gewinnen. Dem zerrissenen Charakter der Landschaft entsprechend ist die Bevölkerung in zahlreiche kleine Fürstentümer zersplittert. Zum Sitz wählen die Herrschergeschlechter nicht hochragende, nach allen Seiten isolierte Bergkuppen, wie etwa die Larisa von Argos, die Ithome in Messenien, Akrokorinth, auf denen später die beherrschenden Akropolen der an ihrem Fuß liegenden Städte erbaut wurden, sondern niedrigere, womöglich nach allen Seiten abfallende Höhen431, die mit Mauern aus gewaltigen, rohbehauenen Steinblöcken umschlossen wurden. In dieser Festung liegt der Herrenhof (Megaron), der zu einem Palast ausgebaut werden kann. Hier hausen die Fürsten inmitten ihres Gaus in enger Verbindung mit dem Kriegeradel, dessen Wohnhäuser das ihre umgeben; am Fuß der Festung liegen die dorfartigen Siedlungen der abhängigen Bevölkerung, über deren Frondienste sie zur Erbauung von Burgmauer und Palast verfügen432.

Die in der ältesten Zeit weitverbreiteten, aus Hütten von Schilf und Lehm entstandenen Rundhäuser und Ovalbauten433 sind verdrängt durch das im Innern Europas schon [222] seit der neolithischen Zeit herrschende und von den Griechen wohl bei der Einwanderung aus dem Norden mitgebrachte rechteckige Haus, das von Holz und Lehm auf Fundamenten von Bruchsteinen erbaut wird. Es ist nach einem festen Typus angelegt, der schon in der sog. zweiten Stadt von Troja befolgt ist (Bd. I, 493): ein rechteckiger Saal, mit einer offenen Vorhalle, deren Deckbalken von zwei auf Steinblöcken ruhenden Baumstämmen getragen wird. In mitten dieses Saales, an dessen Wänden die Sitzbänke des Hausherrn oder des Fürsten und seiner Umgebung stehn, liegt unter freiem Himmel der runde Herd mit dem heiligen Herdfeuer (Griechenland unter dem Einfluß der kretischen Kultur. Die Schachtgräber von Mykeneιστία, ἑστία), das den Hausfrieden schirmt und auch dem Fremden und dem Flüchtling, der ihm naht, den Schutz des Gastrechts gewährt; das gemeinsame Mahl, an dem auch die Götter ihren Anteil erhalten, mit der vorhergehenden Handwaschung (χέρνιψ) bekräftigt die Unverbrüchlichkeit der so geschaffenen Verbindung. Rückwärts und seitwärts können weitere Zimmer hinzutreten; die Geschlossenheit und Einheitlichkeit des Zentralbaus, des Megaron, wird dadurch nicht gestört. Vor ihm liegt ein großer eingefriedeter Hof mit dem Altar des Himmelsgottes, der den Zaun beschirmt (Zeus herkeios).

Die führende Stellung in der griechischen Welt nimmt die Landschaft Argos ein. Argos ist eine für griechische Verhältnisse ziemlich ausgedehnte Ebene, rings von Bergen und im Süden vom Meer umschlossen; dem vollständigen Fehlen fließender Gewässer – denn die Rinnsale der zahlreichen Gießbäche, auch des Inachos, füllen sich nur nach Regengüssen im Gebirge vorübergehend mit Wasser – ist [223] seit alters durch zahlreiche gegrabene Brunnen abgeholfen und dadurch ein ertragreiches Acker- und Weideland geschaffen434. Der sich weit nach Südosten öffnende Golf schafft eine bequeme Verbindung mit Kreta und den Kykladen. Im griechischen Epos trägt der hier ansässige, zu den Achaeern gehörende Volksstamm den Namen Danaer. Wahrscheinlich dürfen wir diesen Namen in den ägyptischen Quellen, trotz der abweichenden Endung, in den Danuna wiederfinden, von denen der König von Tyros um 1400 dem Pharao unter anderen Neuigkeiten »aus Kana'an«435 berichtet, daß der König von Danuna gestorben und sein Bruder ihm gefolgt ist, ohne daß es zu Unruhen gekommen wäre (»sein Land ist ruhig«). Unter Ramses III. erscheinen die Danuna unter den Seevölkern »aus den Inseln«, die an der Invasion Syriens teilnehmen.

Auf den Höhen und Bergkuppen am Rande der Ebene und im gebirgigen Hinterlande, bis zu dem im Südosten des Golfes steil ins Meer vorspringenden Felsen des Palamidi [224] von Nauplia und dem unweit davon in der Ebene isoliert liegenden Hügel von Tiryns, liegen zahlreiche Ortschaften, deren Überreste bis in alte Zeit hinaufragen. Aber sie alle treten etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ganz zurück hinter der Königsburg Mykene436. Sie liegt »im innersten Winkel von Argos« (μυχῷ Ἄργεος ἱπποβότοιο, γ 263), 18 Kilometer vom Meer entfernt, zwischen zwei hohen Bergen auf einem etwa 50 Meter über das Vorland aufragenden, zu beiden Seiten durch tiefe Schluchten eingeschlossenen Felsrücken; weiter oberhalb in der Schlucht entspringt die Quelle Perseia, auf dem nach der Ebene zu sich rechtwinklig anschließenden Hügel liegen die Wohnstätten der abhängigen Bevölkerung. Diese Lage zeigt deutlich, daß Mykene seine Entstehung nicht einer spontanen Entwicklung verdankt437, sondern dem Willensakt eines Fürsten, der diese Stätte als günstig gelegen für die Beherrschung der ganzen Landschaft erkannte; es überschaut die ganze Ebene und beherrscht zugleich den Ausgang der Gebirgsstraßen nach Norden und nach dem Isthmus.

In Mykene tritt uns das Eindringen der kretischen Kulturerzeugnisse auf das Festland und die dadurch geschaffene Umbildung und Steigerung der Lebensformen anschaulich entgegen. Vor der älteren Burgmauer, erst später in sie einbezogen, liegen sechs Schachtgräber, in denen im ganzen [225] neunzehn Leichen beigesetzt sind, neun Männer, acht Frauen und zwei Kinder438. Alle diese Gräber sind geradezu überfüllt mit den kostbarsten Beigaben: Diademe, Ketten und Gehänge, Goldblech in Gestalt von Blättern und Blüten, Schmetterlingen, Tintenfischen, Sphinxen, Seepferden u.ä., die wahrscheinlich zum Teil auf Frauengewänder aufgenäht waren, dicke ornamentierte Platten von Kästen, goldene und silberne Becher, Ochsenköpfe u.s.w. An verarbeitetem Gold hat Schliemann im dritten Grabe, in dem drei Frauen und zwei Kinder bestattet sind, nicht weniger als 870 Objekte gezählt, abgesehn von den Massen goldener Perlen und kleinerer Fragmente; und nicht weniger reich sind die übrigen Gräber. Dazu kommen Schwerter und Dolche mit eingelegter Arbeit, prächtige Siegelringe von Gold oder edlen Steinen, Elfenbein, Perlen von Glas sowie von nordischem Bernstein, eine prachtvolle Alabastervase, ferner natürlich Tongefäße, welche die den Toten mitgegebenen Lebensmittel enthielten. Den Männern sind außer goldenen Brustplatten Goldmasken aufs Gesicht gelegt, die ihre Porträtzüge wiedergeben; sieben sind ganz oder teilweise erhalten. Das vierte Grab, mit drei Männern und zwei Frauen, ist nach Ausweis der in ihm liegenden, mit Gold und Kristallblättern eingefaßten Szepter sicher ein Königsgrab. Auf ihm war ein runder Brunnenschacht aufgemauert, durch den das Opferblut hinabfließen konnte. Auch das fünfte Grab ist offenbar ein Königsgrab, und wohl auch das zweite und sechste (die beiden ältesten). [226] Alle mit Ausnahme des zweiten sind mehrfach zu Beisetzungen benutzt worden, so daß uns hier wahrscheinlich eine Folge von neun Herrschern einer Dynastie erhalten ist. In der Aufschüttung über den Gräbern liegen die Leichen geopferter Diener (oder Feinde) und Tiere, dazu zahlreiche Gefäßscherben, die die Fortdauer des Totendienstes beweisen. Weiter oben stehn die Grabstelen, bei den Frauengräbern einfache Steintafeln ohne Skulptur oder mit laufenden Spiralbändern geschmückt; bei den Männern steht auf der von Spiralornamenten umrahmten Hauptfläche die Gestalt des Toten auf seinem Streitwagen. Neun dieser Stelen, genau entsprechend der Zahl der männlichen Leichen, sind vollständig oder wenigstens in einzelnen Bruchstücken erhalten439. Später ist dieser ganze Grabbezirk weiter aufgeschüttet und mit einem Ring von großen Steinplatten eingefriedet440 und dann in die erweiterte Burgmauer einbezogen worden.

So tritt uns hier ein hochentwickelter Totenkult entgegen, dessen Anforderungen weit über alles hinausgehn, was wir in Kreta kennen. Er trägt dieselbe Gestalt, die wir überall bei naturwüchsigen Völkern wiederfinden, die zu einer höheren materiellen Kultur gelangt sind und dadurch über reichere Mittel verfügen, so in Europa bei den Skythen, den Slawen, den Skandinaviern; auch der ägyptische Totenkult hat ursprünglich dieselbe Gestalt gehabt, und im homerischen Epos lebt er in Resten noch fort. Dem König und seiner Familie wird nicht nur die Nahrung und Kleidung mitgegeben und von den Nachkommen bei den Totenfesten immer von neuem zugeführt, deren er für eine erträgliche Existenz im Totenreich bedarf, sondern auch alles, was sein Leben verschönert hat und woran sein Herz hängt, und dazu eine Dienerschaft, die ihm in den Tod folgt, sei es freiwillig unter der zwingenden [227] Gewalt der Sitte, sei es dazu aufgegriffen und hingeschlachtet. In Mykene ist er zu gewaltigen Dimensionen entwickelt; im Verhältnis zum Machtbereich seiner Herrscher, mögen wir ihn auch noch so weit ausdehnen, ist hier dafür mindestens ebensoviel aufgewendet worden, wie zur selben Zeit im Weltreich der Pharaonen.

Zugleich legt diese Ausstattung der Gräber Zeugnis ab für die mächtige Stellung der Könige Mykenes. Eine Fremdherrschaft der kretischen Fürsten über die argivische Landschaft, wie man gelegentlich vermutet hat, erscheint vollkommen ausgeschlossen. Umso reicher und eigenartiger sind die Aufschlüsse, die sich aus den Grabfunden über die kulturellen und damit zugleich auch über die ethnographischen Verhältnisse gewinnen lassen441.

Ganz dominierend tritt der Einfluß Kretas hervor; von den schönsten Werken der Glyptik stammen nicht wenige aus den mykenischen Schachtgräbern. Dadurch und ebenso durch die Tongefäße ist zugleich ihre Zeit festgesetzt auf die Blütezeit der neukretischen Kunst (Middle Minoan III und Anfang von Late Minoan I), also die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sie, eben zu voller Entfaltung gelangend, noch die frische Schöpferkraft der Jugend besaß; von dem späteren, in Manier verfallenden Stil findet sich hier noch nichts. Dazu stimmt, daß sich Objekte mit den Namen Amenophis' III. und der Teje in den jüngeren Schichten von Mykene mehrfach gefunden haben442; die wesentlich älteren Schachtgräber stammen somit aus der Zeit der ersten Könige des Neuen Reichs. – Aber neben diesem aus der Fremde eingedrungenen Gut steht unvermittelt [228] das heimische Erbe. So liegen neben den mit glänzenden Firnisfarben bemalten Gefäßen kretischen Stils die überall in Griechenland produzierten der sog. Mattmalerei von ganz abweichender Form mit linearen Ornamenten, Dreiecken, Kreisen u.ä., auch Spiralen, außerdem monochrome mit dunklem Ton, gelegentlich mit eingeritzten Linearmustern (sog. Orchomenosware). Dazu kommen Hunderte von ganz primitiven kleinen weiblichen Idolen und Kühen von Ton, die in derselben Weise linear bemalt sind. Die zahlreichen Bernsteinketten zeigen die Fortdauer der Verbindung mit dem Norden und der von dort mitgebrachten Tradition. Pferd und Streitwagen, die auf Kreta fehlen, sind hier allgemein verbreitet. Auch Tracht und Waffen zeigen Abweichungen. Ferner gehört der Steinbau hierher, der sich alsbald zu gewaltigen Schöpfungen entwickelt. Ganz anschaulich tritt der Gegensatz in den Reliefs der Grabstelen hervor: der Streitwagen mit dem darauf stehenden Krieger – einmal hat er ein riesiges Schwert am Gürtel –, das galoppierende Pferd, der voranschreitende Diener mit einem Schwert in der Hand, das alles ist so primitiv und unbeholfen gezeichnet, daß man selbst die ältesten sumerischen Reliefs oder die vom südlichen Stadttor von Sendjirli kaum damit in Parallele setzen kann. Deutlich liegen hier Arbeiten einheimischer Steinmetzen vor, denen die Aufgabe, lebende Wesen auch nur in Umrissen wiederzugeben, noch völlig fremd war443. Umso stärker ist der Kontrast nicht nur gegen die feinen Arbeiten der Glyptik, sondern auch gegen die Goldmasken auf den Leichen, die, seitdem sie wieder in ihre ursprüngliche Fassung gebracht und von der Entstellung durch den darauf lastenden Druck befreit sind, die Züge der Toten ganz naturgetreu und lebendig wiedergeben; diese Aufgabe wird also einem kretischen Metallarbeiter übertragen worden sein. Den Fortschritt des kretischen [229] Einflusses zeigt dann eine Grabstele, deutlich die jüngste von allen, die neben zwei älteren auf dem fünften Grabe stand: hier ist der Krieger auf dem Wagen wesentlich korrekter gezeichnet, das Pferd, das über einem auf seinem Schilde liegenden Mann dahinsprengt, hat vier Beine, nicht nur zwei, wie dort, und darunter ist ein Löwe gezeichnet, der in gestrecktem Galopp, doch ohne die für den kretischen Stil charakteristische übernatürliche Verlängerung, einem allerdings gänzlich verzeichneten Wilde nachjagt.

Im übrigen besteht zwischen diesen Männergestalten und den Goldmasken ein höchst überraschender Unterschied. Die Goldmasken haben einen sorgfältig gepflegten Schnurrbart mit nach oben gekrümmten Spitzen und vollem Backen- und Kinnbart, nur das Kinn selbst ist, wie beim »Matrosenbart«, ausrasiert; die Gestalten der Grabstelen dagegen tragen deutlich keinen Bart; auch das Haupthaar scheint hier kurz geschoren. Daß das nicht etwa aus Unbeholfenheit der Steinmetzen zu erklären ist, ergibt sich daraus, daß in der Folgezeit auch die sicher einheimische Gestalten darstellenden Reliefs und Statuetten vielfach bartlos sind wie die Kreter, und jedenfalls immer den Schnurrbart abrasieren, eine Sitte, die sich dann in der griechischen Welt das ganze Mittelalter hindurch und in dem konservativen Sparta allezeit erhalten hat; der Schnurrbart ist hier ebenso verpönt wie bei den semitischen Nomaden.

Somit sind die über den Gräbern errichteten Grabstelen jünger als die Bestattungen. Ein Bevölkerungswechsel ist schon dadurch ausgeschlossen, daß der Totenkult sich fortsetzt und die Gräber als heilig durch den Plattenring eingeschlossen werden. Wohl aber hat die Sitte sich geändert. Das wird dadurch bestätigt, daß sich unter den Beigaben der Schachtgräber keine Rasiermesser finden – so wenig wie Metallspiegel und wie die für die spätere griechische Tracht unentbehrlichen Spangen (Fibeln) –, während sie in den jüngeren Gräbern der mykenischen Epoche ganz gewöhnlich sind. Auch für die Mode wird der kretische Einfluß bestimmend: [230] man schämt sich der heimischen Barttracht und rasiert mindestens den Schnurrbart ab, während der Backen- und Kinnbart vielfach beibehalten wird und sich in der Folgezeit wieder völlig durchgesetzt hat. Ebenso läßt wenigstens die vornehme Welt das Haupthaar nach kretischem Vorbild lang herabfallen; im Epos ist diese Haartracht das charakteristische Abzeichen der Achaeer (κάρη κομόωντες Ἀχαιοί).

Von den kretischen Arbeiten mögen manche durch Handel oder Seeraub in den Besitz der Fürsten Mykenes gelangt sein. Bei nicht wenigen dagegen lehren die dargestellten Szenen, daß sie an ihrem Hofe selbst gearbeitet sind, daß die Fürsten also kretische Goldarbeiter und Steinschneider in ihren Diensten gehabt haben. Das gilt vor allem von den beiden Goldringen aus dem vierten Schachtgrabe444. Die Gravierungen sind im besten kretischen Stil gearbeitet, aber der eine Goldring zeigt den Fürsten auf der Jagd, wie er auf dem Streitwagen, den Wagenlenker zur Seite, den Bogen auf einen flüchtigen Hirsch anlegt, der andere im Kampf gegen zwei auf ihn einstürmende Feinde445: den ersten von diesen, der, schon auf die Knie geworfen, das Schwert auf ihn zückt, hat er an der Schulter gepackt und wird ihn mit dem Dolchmesser durchbohren, der zweite, im Eberhelm mit fliegendem Federbusch wie der Sieger, also gleichfalls ein Fürst, sucht, gedeckt durch einen mächtigen Ovalschild, weit ausholend mit der Lanze das Haupt des Gegners zu treffen, aber vergeblich: der Stoß geht an dessen Helm vorbei. Das sind die Siegelringe der in diesem Grabe bestatteten Fürsten, die ihre Taten verherrlichen446. Dem entspricht es, daß auf Kreta solche Szenen [231] kaum je dargestellt werden447, daß der Streitwagen hier keine Rolle spielt und auch der Bogen in den Händen vornehmer Krieger nicht erscheint.

Noch weiter führen die Reliefs von zwei nur in Bruchstücken erhaltenen Silbergefäßen aus demselben Grabe. Auf dem einen448 waren Kampfszenen dargestellt; die Krieger führen die Lanze und den großen kretischen Schild und tragen den mit Eberzähnen besetzten Helm mit großem Busch, aber bekleidet sind sie mit einem kurzärmligen Leibrock, der hosenartig bis zur Mitte des Oberschenkels reicht, eine Tracht, die sich ebenso auf mehreren Gemmen aus Mykene, bei einer Bronzestatuette aus Tiryns, und bei den Jägern auf einem der eingelegten Dolche aus dem gleichen Grabe findet – das ist also die bei den Festlandsgriechen dieser Zeit übliche Tracht449. Das andere Gefäß450 stellt eine auf einem Hügel gelegene Festung dar, die offenbar von einem plötzlichen Überfall durch Feinde überrascht wird. Auf dem Bergabhang sammeln sich die Krieger zur Abwehr, Schleuderer und Schützen, alle nackt, dazu zwei Männer mit Lanzen in einem [232] seltsamen steifen Mantel (?); auf den Zinnen der Burg begleiten die Frauen den Kampf mit angstvollem Zuruf, auch Männer erscheinen über der Mauer. Weiter unten ist der Oberkörper eines Mannes in kurzarmigem Leibrock und mit Eberzahnhelm erhalten, der eine lange Stange gegen den Boden stößt; man glaubt in ihm einen Krieger zu erkennen, der ein Boot vom Lande abstößt. Jedenfalls gehört er zu den Angreifern, von denen weitere Überreste nicht erhalten sind451, und seine Tracht zeigt, daß diese nicht etwa Kreter, sondern Mykenaeer sind. Die Festung dagegen liegt weder auf Kreta, wo es befestigte Städte überhaupt nicht gibt, noch in Griechenland, wo sie ganz anders aussehn, sondern stimmt in der Gesamtanlage, der Vormauer und dem hoch darüber aufragenden Hauptbau mit Türmen und großem Tor, und der aus regelmäßigen Schichten rechteckiger Ziegel erbauten Mauer durchaus zu den Festungen Asiens452. Auch die nackten Männer mit kurzem struppigem Haar weisen in die gleiche Richtung. Die Darstellung bezeugt also den Kriegszug eines mykenischen Fürsten nach den Küsten Kleinasiens453.

Auch der Dolch aus dem fünften Schachtgrab, in den Szenen aus der Nillandschaft eingelegt sind (o. S. 56), wird nicht aus Kreta importiert, sondern in Mykene selbst von einem kretischen Künstler gearbeitet sein, so gut wie der Dolch mit der Löwenjagd aus dem vierten Grabe.

So erscheint Mykene schon im 16. Jahrhundert geradezu als ein zweiter Sitz der neukretischen Kunst, die hier in der Auswahl der dargestellten Szenen sowie in Tracht und Bewaffnung454 [233] sich den einheimischen Forderungen anpaßt455. An eine Herrschaft der Kreter über das Festland ist nicht zu denken; vielmehr tritt gerade in diesen Szenen der kriegerische Charakter der Griechen im Gegensatz zu der weichlichen Art Kretas deutlich hervor. Weit eher mögen die Griechen schon damals Raubzüge nach der Insel unternommen haben, so gut wie nach den Kykladen und den kleinasiatischen Küsten. Die kretischen Künstler jedoch werden ebenso wie die Mehrzahl der importierten Gefäße – so die großen Trinkhörner (Rhyta) in Form eines silbernen Stierkopfes mit goldenen Hörnern und eines goldenen Löwenkopfes456 – durch den regen Verkehr nach Mykene gekommen sein.

Daneben stehn nicht wenige einheimische Arbeiten in Gold, die den fremden Stil nachzuahmen versuchen, ohne ihn wirklich innerlich zu erfassen, darunter zahlreiche als Schmuckstücke angeheftete Tierfiguren (Sphinxe, Greifen, Polypen, Schmetterlinge, Hirsche, Katzen, Vögel, zum Teil antithetisch [234] gruppiert) und Goldbleche von Kästen mit getriebenen Reliefs von Tierkämpfen, die nahezu eben so unbeholfen ausgefallen sind wie die Grabstelen457. Dazu gehören auch die kleinen, gleichfalls als Schmuckstücke verwendeten Figuren einer nackten Göttin, die von Tauben umflattert wird, aus dem Frauengrabe (III). Daneben haben sich in diesem sowie in dem Königsgrabe (IV) mehrere Nachbildungen des kretischen Kultbaus dieser Göttin gefunden458. Dieselbe Göttin, die Aphrodite der Griechen, haben wir auch auf Kreta selbst getroffen. Auch hier zeigt sich, wie beim Baumkult, bei der Jagdgöttin (Artemis) und bei der Schildgottheit (Palladion), daß eine Scheidung zwischen Kreta und dem Festlande auf dem Gebiet der Religion mit unserem Material nicht durchführbar ist459, und daß, mag auch die ursprüngliche Konzeption der Gottheiten sehr verschieden gewesen sein, die Griechen ihre Gestaltung im Phantasiebilde und in weitem Umfang auch ihre Attribute und die Formen des Kultus aus der fortgeschrittenen kretischen Kultur übernommen haben, so gut wie die Gestalten und Mythen der Dämonenwelt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 221-235.
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