Das phoenikische Alphabet

[67] In diese Zeit fällt nun auch eine Erfindung von größter weltgeschichtlicher Bedeutung, die im Laufe der Zeit nahezu die gesamte Menschenwelt erobert hat und deren Einwirkung wir alle tagtäglich unmittelbar empfinden: die Erfindung des Alphabets und der reinen Buchstabenschrift.

Die Entdeckung, daß alle artikulierte Rede und damit der gesamte Wortschatz jeder Sprache sich in Kombinationen einer verhältnismäßig beschränkten Zahl einfacher Laute auflösen läßt, hat sich den Ägyptern sogleich bei der Ausbildung ihrer Schrift ergeben; und gerade in der ältesten Zeit hat man von ihr reichlich Gebrauch gemacht und vielfach Wörter rein phonetisch geschrieben, denen man später, um die Schrift verständlicher [67] und leichter lesbar zu machen, Silbenzeichen und Determinative hinzufügte, die den Gegenstand oder die Handlung sinnlich veranschaulichen. Freilich tritt dabei eine Einschränkung hinzu, die teils auf dem grammatischen Bau der Sprache, teils auf dem Wesen der Bilderschrift beruht. Die Absicht des Schreibers ist, im Bewußtsein des Lesers den sprachlichen Ausdruck eines Gegenstandes, einer Handlung, eines Begriffs zu erwecken; in welchem syntaktischen Zusammenhang dieses Wort in jedem einzelnen Falle steht und in welcher grammatischen Form es daher jedesmal gesprochen werden muß, ergibt sich beim Lesen von selbst und bedarf keiner Bezeichnung in der Schrift. Diese grammatischen Formen werden nun im Ägyptischen, ebenso wie in den semitischen Sprachen, in der Regel lediglich durch inneren Vokalwechsel oder vokalische Endungen ausgedrückt; daher erscheinen dem Bewußtsein lediglich die Konsonanten als Träger der Bedeutung, und so erklärt sich, daß die Schrift ausschließlich Konsonantenschrift ist121.

Denselben Charakter trägt nun auch die phoenikische Schrift: auch sie hat Schriftzeichen lediglich für die Konsonanten. Da ist die Einwirkung des ägyptischen Vorbildes ganz unverkennbar122. Denn daß an sich auch auf semitischem Gebiet eine ganz andere Gestaltung möglich gewesen wäre, zeigt die Entwicklung der aus den sumerischen Wortzeichen hervorgegangenen Keilschrift, die alle Wörter lautlich zutreffend durch einfache, aus [68] einem Vokal und einem Konsonanten bestehende Silbenzeichen wiedergeben kann, aber eben darum zu dem abstrakten Begriff eines Konsonanten überhaupt nicht gelangt ist. Für den Erfinder der phoenikischen Schrift dagegen war dieser Begriff gegeben, und daher ist er gerade umgekehrt garnicht auf den Gedanken gekommen, auch die Vokale und damit die grammatische Form in der Schrift zu bezeichnen.

Eine überraschende Parallele haben jetzt die Ausgrabungen in Râs Šamra bei Latakie in Nordsyrien ergeben. Die hier an der Küste angesiedelte Bevölkerung, die kulturell mit der Welt des ägaeischen Meeres in enger Verbindung steht, hat sich etwa zu Ende des 2. Jahrtausends aus den einfachsten Elementen der Keilschrift ein Alphabet von 26 Zeichen gebildet, das deutlich nur Konsonanten enthält: die Wortgruppen bestehn immer nur aus zwei oder drei Zeichen und sind durchweg durch Striche voneinander getrennt123. Man sieht, wie der Trieb zur Schaffung eines Konsonantenalphabets in Syrien etwa gleichzeitig an verschiedenen Stellen aufgetaucht ist und Verwirklichung gefunden hat.

Im Jahre 1905 ist auf der Sinaihalbinsel bei den von den Ägyptern betriebenen Minen auf in die Felswände eingehauenen Tafeln und auf drei rohen ägyptischen Skulpturen eine Anzahl von Inschriften gefunden worden, die nicht ägyptisch und auch nicht von Ägyptern verfaßt sind124. Die Schriftzeichen, im ganzen einige dreißig, sind eine sukzessive Weiterbildung und Vereinfachung ägyptischer Hieroglyphen (nicht etwa der hieratischen Formen) und stellen wahrscheinlich eine einfache Konsonantenschrift dar. Somit haben die hier ansässigen Semiten, angeregt durch die Votivinschriften, welche die Ägypter überall anbrachten, sich ein Alphabet für ihre Sprache zurechtgemacht, etwa [69] in derselben Weise, wie in weit späterer Zeit die Kušiten im Reich von Meroe und wie so manche intelligente Asiaten, Neger und Indianer in der Neuzeit, und sie benutzt, um ihre Namen in den Stein zu ritzen, mitunter vielleicht verbunden mit einer Anrufung der Gottheit. Man hat Versuche gemacht, die Schrift zu entziffern; aber der einzige Vorschlag, der annehmbar erscheinen konnte, die Lesung einer häufig vorkommenden Gruppe von vier Zeichen als תלעב Ba'alat125, hat nicht weiter geführt, ganz abgesehn davon, daß es völlig ohne Beispiel sein würde und der Bedeutung des Wortes widerspricht, daß in einer semitischen Inschrift ein Gott oder eine Göttin schlechthin Ba'al oder Ba'alat genannt würde, ohne daß der Ort oder der Kultus, dessen »Inhaber (Herren)« sie sind, im Genitiv hinzugefügt wäre126. Alle zum Teil ganz phantastischen Versuche, weiter zu kommen, sind resultatlos geblieben; und ebensowenig besitzen die Gleichsetzungen der einzelnen Zeichen einerseits mit ägyptischen Figuren, andrerseits mit den Buchstaben des phoenikischen (oder gar des südsemitischen) Alphabets irgendwelche Überzeugungskraft127. Bei dem armseligen Charakter der überdies großenteils nur ganz fragmentarisch erhaltenen Inschriften ist es auch kein Wunder, daß sie aller solcher Versuche spotten.

Die Inschriften, und daher wahrscheinlich auch die Erfindung dieser Schrift, scheinen etwa dem 14. Jahrhundert, gegen [70] Ende der achtzehnten Dynastie, anzugehören128. Vielfach hat man angenommen, damit sei zugleich der Ursprung der semitischen Schrift gefunden; das Konsonantenalphabet sei hier aus den entsprechenden ägyptischen Zeichen entwickelt und habe sich dann weiter verbreitet und sei so auch nach Phoenikien gekommen, wo es dann seine definitive Gestalt erhalten habe. Indessen gegen diese Annahme spricht nicht nur, daß die aufgestellten Gleichsetzungen der Zeichen kaum je überzeugend wirken, vielmehr meist äußerst gezwungen erscheinen129 und daß die Zahl der Zeichen größer ist als die 22 des phoenikischen Alphabets, sondern es widerspricht auch aller Wahrscheinlichkeit, daß eine in diesem abgelegenen Gebiet von unkultivierten Nomaden gemachte Erfindung ein paar Jahrhunderte später von den Handelsstädten der Küste übernommen worden sei. Die Schrifterfindung in der Sinaiwüste wird vielmehr eben so ephemer und ohne Nachwirkung geblieben sein, wie etwa die Verwendung von Drucktypen auf dem Diskus von Phaestos, und die Erfindung derjenigen Schrift, die die Weltherrschaft gewonnen hat, bleibt nach wie vor eine Schöpfung der Phoeniker.

Die bei den Griechen erhaltene Überlieferung, daß die Schrift von den Phoenikern erfunden ist – sie lassen sie durch Kadmos von Theben, der in der Systematisierung der Sagengeschichte der Repräsentant der Phoeniker geworden ist, nach Griechenland gebracht werden und nennen daher die alten Schriftformen, die mit den phoenikischen noch nahezu identisch sind, Φοινίκεια oder Καδμεῖα γράμματα130 –, wird durchaus bestätigt durch die Eigennamen der Buchstaben, die rein phoenikisch sind131, und durch die Tatsache, daß die Schrift sich im [71] 9. Jahrhundert über Syrien in ihrer phoenikischen Gestalt (und im Amanosgebiet zunächst auch mit Übernahme der phoenikischen Sprache) in derselben Weise verbreitet hat wie in der griechischen Welt; die Abweichungen in den Formen, die sich dann bei den Aramaeern und ebenso in Südarabien und bei den Griechen herausgebildet haben, sind durchweg sekundär. Bis vor kurzem reichten die erhaltenen Denkmäler über diese Zeit nicht hinaus; das älteste war die Inschrift des Königs Meša' von Moab um 850 v. Chr. In dieser stimmen die Schriftzeichen mit der Gestalt, in der die Griechen das Alphabet übernommen haben, nahezu vollständig überein132; die Rezeption ist mithin um 900 v. Chr. erfolgt, und man durfte annehmen, daß um diese Zeit in den phoenikischen Städten so geschrieben wurde, wie es sich in dem abgelegenen Moab um 850 erhalten hat.

Das ist jetzt bestätigt durch die Weihinschriften der Könige Abiba'al und Eliba'al von Byblos auf den Statuen des Šošenq I. und Osorkon I. aus der Zeit um 930-920 (o. S. 48). Ihre Schriftzeichen stimmen im allgemeinen völlig mit denen Meša's überein; nur vier Buchstaben (Aleph, Chet, Kaph, Mem) zeigen etwas ältere Formen. Dieselben Formen finden sich nun auch in der Inschrift auf dem Sarkophag eines Königs Achiram von Byblos, die sein Sohn König Itoba'al für ihn verfaßt hat133. In der Grabkammer [72] hat sich auch ein Gefäß Ramses' II. gefunden, und man hat daher diesen Sarg und damit auch den Gebrauch des Alphabets bis in dessen Zeit, also ins 13. Jahrhundert, hinaufrücken wollen. Aber mit Recht ist dagegen eingewendet worden134, daß ein solches Gefäß schon lange im Besitz des Königshauses gewesen sein kann, ehe es dem Toten beigegeben wurde, ganz abgesehn davon, daß es garnicht sicher ist, ob es wirklich zum ursprünglichen Inventar des Grabes gehört. Es ist undenkbar und widerspricht allem, was wir sonst überall von der Geschichte einer Schrift wissen, daß sich hier die Schrift vier Jahrhunderte lang unverändert erhalten haben sollte. Vielmehr kann König Achiram nur kurze Zeit vor Abiba'al angesetzt werden, also um 1000 v. Chr. Damals war mithin die phoenikische Schrift bereits in Gebrauch. Die Möglichkeit, daß sie schon früher erfunden ist und einmal noch ältere Inschriften auftauchen, bleibt natürlich bestehn. Aber viel weiter wird man angesichts der Gestalt, in der sie sowohl in Syrien wie von den Griechen übernommen ist, schwerlich hinaufgehn dürfen135.

Dieses Schriftsystem ist ein Werk aus einem Guß: es muß von einer intelligenten Einzelpersönlichkeit geschaffen sein. Bezeichnend ist, daß keineswegs alle konsonantischen Laute, welche [73] die Sprache besaß, besondere Zeichen erhalten haben, sondern mehrfach für zwei sich nahestehende Laute dasselbe Zeichen dienen muß136. Man wird daraus schließen müssen, daß der Erfinder aus einem Orte stammte, in dem die scharfe Artikulation, die für das ältere Semitisch charakteristisch ist und sich bei den Wüstenstämmen dauernd erhalten hat, sich bereits in derselben Weise verschliffen hatte, wie es überall eingetreten ist, wo die Semiten zur Seßhaftigkeit und reicher entwickeltem Kulturleben übergegangen sind, so seit alters in Babylonien, dann bei den Westsemiten, vor allem, stetig fortschreitend, bei den Aramaeern, schließlich bei den in den Kulturländern angesiedelten arabischen Stämmen137. Wie manche Spuren zeigen, hat sich auch in Phoenikien die stärker differenzierte Aussprache trotz der Schrift noch längere Zeit erhalten.

Als Schriftzeichen dienen beliebige Kombinationen von [74] Strichen, über deren eventuelle Ableitung aus wirklichen Hieroglyphen wir nichts weiter ermitteln können; und ebenso erhalten sie willkürlich gewählte Eigennamen, teils Wörter, die mit diesem Laut beginnen, teils für diesen Zweck frei erfundene Wörter wie he, pe, chêt, ṭet. Allerdings hat man oft genug versucht, in den Zeichen wenigstens zum Teil Bilder dieser Worte zu finden, und ebenso für die unverständlichen Namen doch irgend eine sinnliche Bedeutung zu konstruieren; aber es gehört eine sich über alle Anschauung hinwegsetzende Phantasie dazu, in Das phoenikische Alphabet ('alf) einen Stierkopf, in Das phoenikische Alphabet (bêt) ein Haus, in Das phoenikische Alphabet (gaml) ein Kamel, in dem Dreieck Das phoenikische Alphabet (delt) eine Tür, inDas phoenikische Alphabet (mêm) eine Wasserlinie, in Das phoenikische Alphabet (nûn) einen Fisch, inDas phoenikische Alphabet (rôš) einen Kopf, in Das phoenikische Alphabet (šin) einen Zahn zu erkennen138.

Eben so willkürlich ist die Reihenfolge, in die das Alphabet gebracht worden ist; aber sie ist eben so unverbrüchlich, wie Gestalt, Lesewert und Name. Alle diese Elemente gehören untrennbar zusammen, und von der Erfindung an bis zum Aufkommen moderner Methoden im Laufe des 19. Jahrhunderts ist das Schreiben so gelehrt worden, auch bei den Fremden, die es übernahmen, daß der Schreiber zunächst das Alphabet als Ganzes auswendig lernte139. Verbreitet ist es vor allem im Geschäftsverkehr der Kaufleute, für den es eine gewaltige Erleichterung brachte. Den für uns so lästigen Mangel, daß die Vokale nicht bezeichnet wurden, hat man in den Kauf genommen und offenbar [75] lauge Zeit garnicht empfunden; man wußte ja, wovon die Rede war, und fand, wie noch jetzt beim Lesen der arabischen Schrift, die richtige grammatische Form und damit die Aussprache aus dem Zusammenhang140, während uns die dürftige Kenntnis der Sprache das Verständnis und die Lesung bei schwierigeren Texten nur zu oft ganz unsicher, ja unmöglich macht141.

Die weitere Entwicklung und allmähliche Umgestaltung der Schriftformen in den einzelnen Gebieten der semitischen Welt gehört nicht hierher. Maßgebend dafür war die Gestalt, welche die einzelnen Buchstaben beim Schreiben mit der Feder annahmen, die dann auch bei Inschriften auf Stein übernommen wurde. Bei den Aramaeern hat man früh angefangen, bei den Buchstaben, die runde oder eckige Köpfe haben, diese aus Bequemlichkeit oben nicht mehr zu schließen; dazu kamen dann in den einzelnen Gebieten zahlreiche weitere Änderungen, Verkürzungen, Ligaturen u.ä. Bei der führenden Stellung, welche die Aramaeer schon seit der Assyrerzeit im Handelsverkehr gewannen, haben sich ihre Schriftformen alsbald über die ganze nordsemitische Welt und darüber hinaus ins Perserreich verbreitet; auch die Juden haben sie in den letzten Jahrhunderten v. Chr. angenommen, während sie die ältere Schrift nur noch auf Münzen u.ä. als Archaismus verwendeten. Gegenwärtig ist die phoenikische Schrift nur noch bei den Samaritanern erhalten; die arabische Schrift ist dagegen eine Variation der aramaeischen. Vorher hat sich in den Kulturgebieten Südarabiens [76] ein anderer Schrifttypus entwickelt, vor allem dadurch, daß man, in derselben Weise wie im ionischen Alphabet der Griechen und danach im Lateinischen und wie im Devanagari der Inder, alle Buchstaben senkrecht stellte und nach Möglichkeit gleich hoch machte, mehrfach auch sie an einen senkrechten Strich anschloß (so z.B. das Dreieck des d)142. Außerdem hat man, da hier der Lautbestand des Ursemitischen noch voll erhalten war, weitere sieben Zeichen für diejenigen Konsonanten hinzugefügt, die im Phoenikischen mit ähnlichen Lauten zusammengefallen waren, so daß die Zahl der Buchstaben auf 29 anwuchs. Das Bedürfnis, auch die Vokale zu bezeichnen oder wenigstens anzudeuten, hat man dagegen auch hier nicht empfunden; diesen Schritt haben erst die Äthiopen von Chabeš getan, die an die Buchstaben des südsemitischen Alphabets, in derselben Weise wie die Inder, Haken und Striche als Bezeichnung der Vokale anfügten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 67-77.
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