Nationalität und Städte der Sidonier (Phoeniker)

[61] Der Niedergang der ägyptischen Macht hat den Handelsstädten der phoenikischen Küste die Möglichkeit freier Entwicklung gegeben. Der Sturm der Völkerwanderung hatte auch ihnen manche Not gebracht, ja die Inselstadt Arados ist, wenn wir dem Bericht Ramses' III. trauen dürfen106, in ihre Hände gefallen und verwüstet worden. Aber als sie sich in Phoenikien und dem Amoriterlande festzusetzen versucht hatten, sind sie hier von Ramses III. geschlagen worden, und die Scharen der Philister und Zakkari sind weiter nach Süden abgezogen und haben sich hier in den Städten der Küstenebene Palaestinas ihre Fürstentümer gegründet. Das Amoriterreich im Libanon, das durch den Anschluß an die Chetiter zeitweilig zu ansehnlicher Macht gelangt war, Byblos besetzt und sich über den Norden Palaestinas ausgedehnt hatte, hat diese Stellung in der Folgezeit im wesentlichen behauptet; nur Byblos ist wieder selbständig geworden. Im allgemeinen aber hatten die Phoenikerstädte den Rücken frei. Auch auf der See gab es keine größere Macht mehr; die Glanzzeit Kretas war vergangen, und wenn jetzt das ägaeische Meer ein griechisches Meer geworden war und griechische Ansiedler ins Ostbecken des Mittelmeers, nach Rhodos, Pamphylien und Cypern, vorgedrungen waren und auch begannen, nach der Westküste Kleinasiens hinüberzugehn, so war doch alles, was sich in der mykenischen Zeit von staatlicher Macht gebildet hatte, in den Stürmen der großen Bewegung, die wir hier als dorische Wanderung zu bezeichnen pflegen, zugrunde gegangen. Die zahllosen kleinen Gemeinden, die sich bei [61] ihnen gebildet hatten und immer weiter bildeten, lebten alle politisch isoliert und ohne irgend einen größeren Zusammenhang dahin. So konnten Schiffahrt und Seehandel der Phoeniker sich ungestört entwickeln; für die nächsten Jahrhunderte sind sie die führenden Seefahrer im Mittelmeer geworden107.

Im einzelnen freilich besitzen wir über die Geschichte der phoenikischen Städte und ebenso über die ihrer Kolonisation nur sehr dürftige Kunde. Annalen hat es allerdings in ihnen ebensogut gegeben wie in allen orientalischen Staaten dieser Zeit108; aber erhalten sind uns nur einige Bruchstücke der Annalen[62] von Tyros vom 10. Jahrhundert an, die nicht viel mehr als die Herrschernamen enthalten, aber chronologisch durchaus zuverlässig erscheinen. Erwähnungen in der Überlieferung anderer Völker sind natürlich immer nur sporadisch; und einheimische Denkmäler und Inschriften sind bisher nur ganz wenige gefunden worden. So müssen wir uns in den meisten Fällen auf den Versuch beschränken, wenigstens die Grundzüge der Entwicklung im Umriß zu erfassen.

Die Nationalität und die ältere Geschichte der Phoeniker ist früher schon berührt worden109. Sie sprechen einen kana'anaeischen, dem Hebraeischen trotz mancher Abweichungen in Einzelheiten sehr nahestehenden Dialekt. Auch der Name Kana'an für ihr Land ist ihnen geläufig geblieben110. Als Volk jedoch nennen sie sich, mindestens im südlichen Hauptteil ihres Gebiets, Sidonier. Denn diese Bedeutung, nicht etwa »Bewohner von Sidon«, hat der Name durchweg, sowohl im Alten Testament – so auch, wenn in der jahwistischen Völkertafel Gen. 10, 15 Kana'an zwei Söhne hat, Sidon und Chef111 – wie in dem [63] Titel »König der Sidonier«, den der König von Tyros erhält, als er seine Macht weiter über Phoenikien ausgedehnt hat112, und ebenso bei Homer, bei dem dann die griechische Benennung Phoeniker gleichbedeutend daneben tritt113. Der Name ist identisch mit dem der Stadt Sidon, die, inmitten der Küste an einem durch Anschwemmung mit ihr verbundenen, den Hafen beschirmenden Felsenriff gelegen, ursprünglich die führende Stellung eingenommen haben wird. Daß er aber, wie Trogus angibt, wirklich mit einem Wort für »Fisch« identisch ist114, die Stadt also etwa als Fischerstadt bezeichnet, ist sprachlich bedenklich; vielleicht hängt er eher mit einem Gottesnamen דצ (Ṣid?) zusammen.

Bereits in Bd. II 1, 98 ist darauf hingewiesen worden, daß die Lage der Städte Akko, Tyros, Sidon auf geschützten Vorsprüngen oder einem Felseiland vor der Küste den Eindruck erweckt, daß sich eine von Süden aus vordringende Bevölkerung an diesen leicht zu verteidigenden Plätzen festgesetzt und von hier aus das Kulturland am Fuß des Libanon in Abhängigkeit gebracht habe. Daran würde sich dann die Gründung von Berytos und Byblos und weiterer Orte bis zum Eleutherostal hin angeschlossen haben. In Byblos (Gubl) lehrt der Kult des in der Glut des Sommers hinsterbenden Vegetationsgottes (Adonis; vgl. Bd. I, § 357), daß wie in ganz Nordsyrien so auch [64] hier ursprünglich eine den Kleinasiaten verwandte Bevölkerung saß115. Zur Handelsstadt ist es dadurch geworden, daß die Ägypter es seit den Anfängen ihrer Geschichte aufgesucht haben, um von hier das für ihre Bauten unentbehrliche Holz des Libanon zu holen. Das mag dann bewirkt haben, daß die Phoeniker sich hier festsetzten; jedenfalls sind, als unter der fünften Dynastie König Saḥure' einen Heerzug gegen die phoenikische Küste unternahm116, die Bewohner Semiten gewesen, wie die Abbildungen der mitgeführten Gefangenen beweisen. Ein weit über das Kana'anaeergebiet hinaus vorgeschobener Posten ist dann Arados (Arwad), ganz ebenso wie Tyros auf einem Felsenriff vor der Küste gelegen; der Tradition nach soll es von Flüchtlingen aus Sidon gegründet sein117.

Auf das wenige, was wir von der älteren Geschichte Phoenikiens wissen118, und auf die Schicksale ihrer Städte in der Zeit [65] der ägyptischen Großmacht und beim Vordringen der Chetiter brauchen wir nicht nochmals einzugehn. In dieser Zeit treten uns die phoenikischen Städte als ansehnliche Handelsstädte mit lebhaftem Seeverkehr und reich entwickelter Industrie entgegen. Besonders begehrt sind wie später so schon damals die kunstvollen Metallarbeiten: Panzer und Kriegswagen, mit Silber und Gold ausgelegt, Prunkgefäße mit Blumenaufsätzen, dazu Krüge und Schalen aus Erz und Edelmetall, oft mit bildlichen Darstellungen geschmückt. Dazu kommen die Schmucksachen aus Edelsteinen, buntem Glasnuß, blauem und rotem Email, eine Technik, die sie von Ägypten übernommen und weitergebildet haben. Bunte Gewänder werden sie schon damals ebensogut vertrieben haben wie in der homerischen Zeit, und die Kunst, die Stoffe mit dem Saft der Purpurschnecke dunkelrot zu färben, der sie ihren griechischen Namen Phoeniker »die Roten« verdanken119, geht gewiß schon in diese Zeit zurück.

Im Laufe des 12. Jahrhunderts sind die Städte dann unabhängig geworden, und wo wir in der Folgezeit von ihnen Kunde haben, erscheinen Akko, Tyros, Sidon, Byblos und ebenso Arados immer als selbständige Gemeinden, unter einem König, neben dem wohl immer ein Rat der Ältesten oder Geschlechtshäupter steht. Nur Berytos wird in allen folgenden Jahrhunderten niemals erwähnt; es muß seine Selbständigkeit völlig verloren haben, wohl zweifellos an die Amoriter. Diesen gehört zur Zeit Tiglatpilesers I. auch Simyra und ebenso gewiß die übrigen Ortschaften des Eleutherostals, so z.B. 'Arqa. So ist Byblos rings von amoritischem Gebiet umschlossen. Zur Amarnazeit war es gleichfalls in deren Hände gefallen; jetzt aber hat es, als einzige Stadtgemeinde (abgesehn von der Insel Arados) in der Nordhälfte Phoenikiens, seine Selbständigkeit bewahrt. Wir haben gesehn, wie peinlich zur Zeit der letzten Ramessiden und ihrer Nachfolger seine Könige darüber gewacht [66] haben, trotz der altererbten Beziehungen120 jeden Schein der Abhängigkeit von Ägypten zu vermeiden. Als dann aber unter der zweiundzwanzigsten Dynastie das Pharaonenreich zeitweilig wieder erstarkte, hat sie das nicht gehindert, ihm durch Aufstellung von Statuen Šošenqs I. und Osorkons I. im Tempel der Ba'alat in vorsichtiger Weise zu huldigen. Ebenso hatten lange vorher die Aradier den Tiglatpileser I. bei seinem Zug nach Syrien in ihre Stadt aufgenommen, ihm das Vergnügen einer Seefahrt und der Jagd auf ein Meertier bereitet und die Amoriter sowie Byblos und Sidon ihm gehuldigt und Tribut gezahlt. Wie zur Ägypterzeit haben die phoenikischen Städte es auch später in der Regel vorgezogen, mit einer fremden Übermacht ein Abkommen zu treffen, so gut es gehn mochte, statt durch Widerstand wenn nicht ihre Existenz so doch ihre Handelsbeziehungen und ihren Wohlstand schwer zu schädigen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 61-67.
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