Der Kultus

[147] Die Gottheiten sind die Herrscher ihres Machtbereichs so gut wie die irdischen Könige, nur weit mächtiger als diese. In den phoenikischen Weihinschriften werden sie ständig als »Herr« (adôn) und »Herrin« (rabbat) bezeichnet316, während die Untertanen sich, wie im irdischen Verkehr, ihre Knechte und Mägde und in den Eigennamen nicht selten auch ihre Beisassen (gêr) nennen. Im Judentum ist, als die Aussprache des Gottesnamens Jahwe verpönt wurde, »mein Herr« Adonai (Κύριος) ganz an dessen Stelle getreten. Häufig wird der Obergott auch als »König« oder »Königin«, Milk und Milkat, bezeichnet, vor allem in damit gebildeten Personennamen. So finden wir in der Amarnazeit einen Dynasten Milkil317, bei den Phoenikern häufig den Namen Milkijaton, ferner Milkiba'al und bei den Israeliten Malkijahu (»mein König ist Ba'al resp. Jahwe«). Die Bezeichnung Jahwes als »König« ist den Israeliten ganz geläufig und wurde ständig gebraucht, wenn ihm vor Jerusalem im Tale der Söhne Hinnoms die eigenen Söhne oder Töchter als Opfer verbrannt wurden318; daneben verehren die jüdischen Frauen die »Himmelskönigin« mit Kuchen, Trankspenden und Räucherwerk319. Indessen auch hier gibt es keine einzige phoenikische Inschrift, in der eine [148] Gottheit Milk oder Milkat vorkäme; somit sind beide Ausdrücke nur Titel für den Ba'al oder die Astarte, unter deren Schutz das Kind durch die Namengebung gestellt wird. In dieser Weise wird auch der mehrfach vorkommende Gottesname Milk'aštart zu deuten sein: es ist der als König verehrte Gott, der der Astarte als ihr Gatte zur Seite steht320.

Die Verbindung der Gemeinde mit der Gottheit wird gestaltet durch den Kultus. Erforderlich für diesen sind außer dem Altar, auf dem die Opfergaben, blutige und unblutige, dargebracht werden, ein aufgerichteter Steinblock, massebat oder chammân321, und ein hölzernes Brett oder Pfahl, ašerat322. In diesen Malen, »in Stein und Holz«, haust die Gottheit sinnlich greifbar, wie in dem zum Gedächtnis oder als Grabstele aufgestellten Steinblock die Seele des Stifters oder des Toten [149] (o. S. 135). Als Bindemittel zwischen Mensch und Gott dient das Blut des Opfertieres, das auf diese Kultobjekte geschmiert und auf die Gemeinde gesprengt wird323; denn das Blut gilt als Sitz des Lebens und der Seele und ist daher von magischer Wirkung und zwingender Kraft. Wie alle primitive Rechtsordnung der Gesellschaft ist auch die der Semiten ganz beherrscht von der Idee, daß jeder menschliche Verband beruht auf der durch die Abstammung geschaffenen Gemeinsamkeit des Bluts, die alle seine Glieder unlösbar verbindet und zu gemeinsamem Handeln sowie zur Blutrache verpflichtet, und daß diese Verbindung auch künstlich geschaffen werden kann durch Blutmischung324. Danach wird wie der Verkehr zwischen den Menschen so auch der mit den Göttern gestaltet; was Herodot von den Arabern der Sinaihalbinsel berichtet, daß beim Vertragsschluß oder Treuegelöbnis der Vermittler beiden Parteien den Daumen mit einem scharfen Stein ritzt, aus ihren Gewändern einen Faden zieht und in ihr Blut taucht und damit unter Anrufung der Götter Orotalt und Alilat (o. S. 145, 1) sieben Steine beschmiert, gilt, in den Einzelheiten mannigfach variiert, von allen Araberstämmen und ebenso z.B. von den Israeliten. Auch die Teilnahme am Mahle schafft wenigstens zeitweilig eine solche Verbindung; darauf beruht das Gastrecht und der Schutz des Fremden. Ganz von diesen Anschauungen beherrscht ist das Opfer: es ist ein gemeinsames Mahl der es darbringenden Menschen mit der Gottheit, die davon ihren Anteil erhält, und erneuert so immer wieder die Verbindung mit dieser325.

Diese feste Verbindung des einzelnen Menschen mit der Gottheit wird durchaus realistisch empfunden. Seit ältester Zeit326 [150] hat sie einen ganz konkreten Ausdruck erhalten in dem weit verbreiteten Brauch, dem Kinde einen Eigennamen zu geben, der seine physische Verwandtschaft mit dem Gotte ausspricht, unter dessen Schutz es gestellt wird. Bei den Aramaeern sind Namen wie Barhadad, Bar'attar, Bar'ate und Bat'ate, die den Träger als Sohn (oder Tochter) des Hadad, der 'Attar, des 'Ate bezeichnen, ganz geläufig327. Bei den Phoenikern und Israeliten finden sich derartige Namen nicht mehr, sondern das Verhältnis wird umgekehrt, die Gottheit, die man zum Schutzpatron erwählt, als Vater oder Mutter bezeichnet; so in Namen wie Abiba'al, Abi-el, Abimilk (Abimelech), Abijahu »(mein) Vater ist Ba'al, El, Milk, Jahwe«, oder bei Frauen Em'aštart »Mutter ist Astarte«328. Ganz gewöhnlich ist daneben die Bezeichnung als Bruder oder Schwester der Gottheit, also die Fiktion einer Blutsverbrüderung, vor allem bei Milk und Milkat; so Achimilk (Hlimiko) und Achimilkat, (A)chotmilk und (A)chotmilkat329, aber auch Acihijahu »Bruder Jahwes«. Solche Namen sind offenbar früh traditionell geworden und weiter gebildet, ohne daß man sich viel dabei dachte330; aber wenn noch Jeremia 2, 27 dem Volk, seinen Königen, Priestern und Propheten zum Vorwurf macht, daß sie »zum Holz sagen: du bist mein Vater, und zum Stein: du hast mich geboren«, also in der Ašera und Maṣṣeba ihre Erzeuger sehn, so zeigt das, wie lebendig diese Vorstellungen immer geblieben sind.

[151] Die in diesen Kultobjekten hausende Macht kann nun neben dem Gotte, dem die gesamte Kultstätte gehört, wieder zu einer besonderen Gottheit erwachsen. So vor allem der »Inhaber der Chammânstele« Ba'al chammân, der in Verbindung mit der Göttin Tut zum Hauptgott das populären Kultus im punischen Nordafrika geworden ist331. Einen lebendigen Einblick in sein Wesen und diesen ganzen Vorstellungskreis gewährt eine Inschrift aus dem in einem Bachtal südlich von Râs en Naqûra, dem Felsvorsprung der »Tyriertreppe«, gelegenen Orte Ma'ṣûb332. Hier hatte der oben erwähnte Gott Milki'aštart (»der König der Astarte«), von dem wir auch in Karthago einen Tempel kennen333, ein Heiligtum; neben ihm steht Ba'alchammân als »sein Knecht«, d.i. als der dem König zur Seite stehende Exekutivbeamte oder Vezir. Im Jahre 222 v. Chr. haben die beiden Götter – in Wirklichkeit offenbar Ba'al chammân durch ein im Auftrag seines Obergottes gegebenes Orakel – den Magistraten den Auftrag gegeben, im Nordosten eine Säulenhalle »für die Astarte in der Ašera des El chammân« zu erbauen. Letzteres ist, wie eine andere Inschrift bestätigt, der Titel des Milki'aštart, der so als »Gott des Malsteins« von seinem Diener, dem »Inhaber des Malsteins« geschieden wird. Wie also in dem Stein der Obergott nebst seinem Exekutivorgan, so sitzt im Kultpfahl [152] seine Gemahlin, die Astarte, nach der er benannt ist; und diese erhält hier einen speziell ihrem Dienst geweihten Bau am Tempel, in derselben Weise, wie z.B. in den ägyptischen Tempeln die Kultgenossen des Hauptgottes ihre besonderen Kapellen erhalten334.

Völlig gleichartig ist, daß in Karthago neben der Göttin Mutter (Amma) die »Ba'alat der Cella«, die in ihrem Kultraum wirkende göttliche Macht, steht335. In Tyros ist das »Gotteshaus« Bet-el eine besondere, schon in den Bruchstücken eines Vertrages Assarhaddons mit König Ba'al von Tyros erwähnte Gottheit336. Ebenso erhält der nach israelitischer Tradition von Jakob in Bet-el und in Sichem erbaute Altar mit Maṣṣeba den Namen »El von Bet-el« oder »El, Gott Israels«337, tritt also als wenigstens halbwegs selbständiges Numen neben Jahwe; in jüdischen Eigennamen wird Bet-el und ebenso Charam »Tempelbezirk« als Gottesname verwendet, und die Juden von Elephantine leisten ihre gerichtlichen Eide »beim Gott Gharam-bet'el« oder »beim Betraum338 und bei 'Anatjahu«, der im dortigen Tempeldienst mit Jahwe verbundenen Göttin 'Anat.

In jedem Stein kann eine solche Gottheit sitzen; so liegt in Nordsyrien im Gebirge westlich von Aleppo ein großer Altarstein, der als der Gott »Altar« Madbach, griechisch Ζεὺς Μάδβαχος oder Ζεὺς Βωμὸς μέγας ἐπήκοος – nicht etwa Ζεὺς Βώμιος [153] oder Be'el Madbachâ – verehrt wird339. In der phoenikischen Theologie ist βαιτύλια (»Gotteshäuser«) der Name beseelter wunderkräftiger Steine von geheimnisvollem Aussehn, die in der hellenistischen und römischen Zeit, als die Religionen immer mehr von Aberglauben und Zauberwesen überwuchert wurden, eingehend beschrieben und schließlich von den letzten, ganz in Mystizismus versunkenen Neuplatonikern als heilige Offenbarungen angestaunt und verehrt werden340.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 147-154.
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