Opfer und Priester. Blutige Kulte. Opferung des Erstgeborenen

[169] So stark diese kleinasiatischen Kulte auf die Syrer und Phoeniker eingewirkt haben, so empfindet man doch, daß sie [169] an sich in einer semitischen Religion Fremdkörper sind. Orgiasmus und Mystizismus liegen dem Wesen der Semiten fern; auch auf religiösem Gebiet denken sie nüchtern und rationell. Von den Göttern erhofft man, wie das in den zahlreichen Personennamen ausgesprochen wird, daß sie wie dem Gesamtverbande des Stammes oder der staatlichen Gemeinde so auch jedem einzelnen beistehn, ihn in der Not erretten, ihn schirmen und behüten, ihm Gnade und Segen erweisen, seine Bitten erhören, ihn in seinen Unternehmungen fördern und belohnen. Dafür erhält der Gott, ganz wie der weltliche Herrscher, die zeremonielle Verehrung im Kultus und die Opfergaben, von denen er lebt. Von allem, was der Mensch seiner Gnade verdankt, vom Ertrag der Ernte, des Viehs, des Gewerbes und Handels, erhält er seinen Anteil, das Erste und Beste (re'ešît, ἀπαρχή)392. Ebenso nimmt er teil an jeder Mahlzeit; jede Schlachtung von Vieh – die ja immer nur bei besonderen Anlässen stattfinden kann und eine große Zahl von Teilnehmern am Schmause erfordert – ist ganz wie bei den Griechen zugleich ein Opfer und ein Fest. Derart ist auch das Passachfest, das die Israeliten aus der Zeit bewahrt haben, da sie noch als nomadisierende Viehzüchter in Steppe und Wüste lebten; da werden im Frühjahr, wenn die Schafe geworfen haben, die jungen Lämmer gemeinsam geschlachtet und verzehrt. Als sie dann zu seßhaften Bauern geworden waren, sind drei landwirtschaftliche Feste hinzugetreten: der Erntebeginn, bei dem man auf dem Felde aus den Gerstenkörnern Fladen (massôt, Mazzen) bäckt, das Erntefest am Schluß und das Fest der Weinlese. Als ihren Anteil erhält die Gottheit, wie schon erwähnt, das Blut und den Dampf des Fettes beim Kochen und Braten; daß man ihr auch ein Stück des Fleisches oder gar das ganze Tier verbrannte, wird ursprünglich nur in Ausnahmefällen vorgekommen sein. Mit Steigerung der Kultur mehren sich dann die Anforderungen und das Ritual, zumal wo zu den alten Kultsteinen und Kultpfählen noch das Gottesbild und das Gotteshaus, [170] der Tempel, hinzugekommen sind. Da unterscheidet man dann, bei den Phoenikern so gut wie bei den Israeliten, verschiedene Arten der Opfer393, und ebenso wird die Hinzuziehung eines der von Gott geforderten Formen kundigen Priesters unentbehrlich.

Diese Priester werden von der Gemeinde oder dem König angestellt und ihre Gebühren staatlich geregelt; in den phoenikischen Städten haben sie und ihr Geschlecht eine führende, dem Königtum selbständig gegenüberstehende Stellung gewonnen, ebenso wie in Jerusalem. Hervorgegangen sind sie, wie ihr Name kôhen bei Phoenikern und Israeliten394 zeigt, aus den gewerbsmäßigen Wahrsagern – diese Bedeutung hat kâhin im Arabischen bewahrt –, den Zauberern und Medizinmännern der Urzeit. Solche irreguläre Wahrsager gibt es natürlich überall und zu allen Zeiten395; dazu kommen dann bei den Kana'anaeern Leute, die der Geist ergreift und zu Worten und Handlungen treibt, die, eben weil sie widersinnig und oft ganz unbewußt sind, umso mehr als göttliche Offenbarungen aufgefaßt und gedeutet werden396. Vielfach sind sie wirklich Geisteskranke und Besessene, wie noch jetzt im Orient. In der Regel treten diese nebî'îm, »Propheten«, in Scharen auf, ähnlich den Derwischen des Islâms; israelitische Erzählungen zeigen, daß man trotz[171] ihrer Heiligkeit das Gefühl hat, daß der vornehme Mann in ihren Kreis nicht hineingehört und sich etwas vergibt, wenn er dies Treiben mitmacht397.

Natürlich gibt auch die Gottheit selbst Vorzeichen und Weisungen für die Zukunft398, und zugleich wacht sie über der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnungen und des geltenden Rechts, das, wie überall auf Erden, als von ihr den Menschen auferlegt gilt. Die Priester verstehn die Kunst, ihr Orakel zu entlocken, so bei den Israeliten durch das Loswerfen der Urîm und Tummîm vor dem Gottesbild, vor allem bei Rechtsstreitigkeiten zur Ermittlung verborgener Tatsachen und Hergänge. In den Wüstengebieten haben dadurch die Kultstätten an Quellen nicht selten weitreichende Bedeutung gewonnen: da herrscht bei den Festen der Gottesfriede, der allgemein anerkannt wird wie bei den großen griechischen Festen, und die benachbarten Stämme strömen oft von weither zum Jahrmarkt zusammen und holen sich zugleich von der Priesterschaft Rechtsbelehrung. Von einer solchen Kultstätte bei einem Palmenhain (Phoinikôn) im Gebiet der Maraniten (später durch die Garindaeer verdrängt) auf der Sinaihalbinsel am Golf von Suez ist uns aus Agatharchides eine sehr anschauliche Schilderung bewahrt399. Auf derartigen Zuständen beruht sowohl die Rolle der Quelle von Qadeš und die Entwicklung der Lewiten und ihres Rechts bei den Israeliten als auch später die Stellung, die Mekka und das Fest an der Ka'ba in Arabien gewonnen haben.

Wenn die Götter auch im allgemeinen den Menschen wohlgesinnt sind, so sind sie doch, wie der Lauf der Natur und der Geschicke fortwährend zeigt, launisch und unberechenbar wie [172] nur je ein Herrscher. So bleiben sie unheimliche Mächte, denen man nur in Furcht naht; jederzeit kann ihr Grimm losbrechen, nicht nur wenn sie verletzt sind, sondern oft genug auch ohne äußeren Anlaß, wie das z.B. in manchen Erzählungen von Jahwe berichtet wird400. Vor allem aber sind sie gierig nach Blut; denn das Blut der Opfertiere ist ihre Nahrung. In diesem Blutdurst der Götter verkörpert sich der brutale Charakter, der mit Ausnahme der Araber aller semitischen Kriegsführung anhaftet, der der Israeliten, der Moabiter, der Karthager, der Assyrer. Wie sein Volk hat auch der Gott »seine Augenweide« an der Abschlachtung der Feinde; wenn sie durch ein Gelübde »geweiht« sind (charam), werden alle Gefangenen mitsamt dem Vieh für ihn niedergemetzelt401. Den Zorn der Gottheit zu besänftigen bedarf es gesteigerter Opfer, unter denen auch Menschenopfer nicht fehlen (die mehrfach auch bei den Arabern vorkommen). Mit der Steigerung der materiellen Kultur wachsen wie immer auch die Anforderungen der Religion und damit oft genug die Barbarei; da kommt der Glaube auf, daß, wenn die Not immerge waltiger wird und der Zorn der Gottheit sich anders nicht beschwichtigen läßt, nur die Opferung des eigenen Sohnes Rettung bringen kann402. Bei den Israeliten wird das damit begründet, daß die Forderung, alle Erstgeburt gehöre der Gottheit, auch auf die menschliche Erstgeburt ausgedehnt werden müsse, die man sonst durch ein stellvertretendes Opfer ablöste; eine gleichartige Motivierung werden gewiß auch die Phoeniker gegeben haben403. Sanchunjaton erzählt, daß der Gott El so [173] in Kriegsnöten den einzigen Sohn (Ἰεοὺδ, μονογενής, hebräisch jachîd), den ihm eine Nymphe Anobret geboren hatte, seinem Vater dem Himmelsgott (Uranos) in vollem Königsschmuck geopfert habe404. »Die phoenikische Geschichte«, sagt Porphyrios unter Berufung auf Philos Bearbeitung des Sanchunjaton, »ist voll von solchen Opfern bei großen Unglücksfällen, Kriegen, Epidemien oder Dürre«405. In Karthago ist dies Opfer bei der Bedrängnis durch Agathokles im Jahre 310 von der Bürgerschaft noch einmal in grauenvollen Dimensionen gebracht worden406. In Moab bringt um 850 König Meša' seinen ältesten Sohn und Thronfolger auf der Stadtmauer als Brandopfer dar407. Bei den Juden sind seit dem 8. Jahrhundert diese Opfer von Söhnen und Töchtern an den »König« Jahwe (o. S. 148) auf der Brandstätte im Tale der Bne Hinnôm (Gehenna) von Jerusalem ganz gewöhnlich geworden, und auch die Könige Achaz und Manasse haben dort einen Sohn in die Flammen geworfen. Aber die Anschauung ist weit älter; in der Abrahamsage fordert Jahwe von ihm das Opfer des einzigen Sohnes, löst ihn dann aber, da Abraham sich so gehorsam erwiesen hat, durch einen Widder. Damit wird das Opfer an sich so wenig als unsittlich verworfen oder abgeschafft wie etwa in der gleichartigen griechischen Erzählung vom Opfer der Iphigenia an Artemis; vielmehr bleibt die Forderung an sich als durchaus berechtigt [174] bestehn408. Erst Jeremia und seine Genossen haben sie im Gegensatz gegen die populäre Anschauung als ihrer vertieften religiösen Auffassung widersprechend bekämpft (Jerem. 7, 31f. = 19, 6f.), während sein Zeitgenosse Ezechiel (20, 25f.) das Gebot als wirklich von Jahwe zur Bestrafung des Volkes erlassen ansieht.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 169-175.
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