Fortgang der Religion. Profane und religiöse Geschichtsschreibung. Die Elialegende

[347] Die Mordtat, durch die Jehuden Thron gewonnen hatte, hat im Volke unauslöschlich nachgewirkt. Das vergossene Blut schrie nach Rache; wenn die Gottheit zögerte, den Verbrecher selbst zu strafen, so mußte nach allgemeinem festgewurzelten Glauben ihre Strafe das schuldige Geschlecht in ihren Söhnen und Enkeln nur umso sicherer treffen. So konnte, im Gegensatz zu dem als Rächer eines gleichartigen Verbrechens auf den Thron gelangten Hause 'Omris, die Dynastie Jehus niemals wirklich legitim werden; noch ein Jahrhundert nachher hat Hosea dem Hause Jehus und mit ihm dem ganzen Volk das Strafgericht Jahwes für die Blutschuld von Jezre'el als unmittelbar bevorstehend angekündigt.

Daß Jahwe seinem Volk zürnte, zeigte er ununterbrochen durch die Preisgabe an die Feinde wie durch Dürre, Mißwachs [347] und Heuschreckenschwärme, durch Hungersnot und Pest772. Nur umso eifriger wurde der Kultus betrieben, die Feste und Opfer ausgestattet; in Scharen wallfahrtete man zu den großen Heiligtümern in Bet-el, Gilgal, Dan, ja nach Be'eršeba' im Süden des Königreichs Juda, der Heimat des Ahnherrn Isaak773. An den Kultformen, mit Gottesbild, Maṣṣeba und Ašera774, wurde natürlich nichts geändert, und bei den Opferschmäusen und Weingelagen ging es in herkömmlicher Weise hoch her, auch die sakrale Prostitution mit den geweihten Tempeldirnen, den Qadešen, war dabei in vollem Gange775. Auch zur Opferung des Erstgeborenen wird man in der Not gegriffen haben, wie Meša', der dadurch seine Rettung erwirkte, und wie um 735 König Achaz von Juda776. Schließlich mußte sich Jahwe doch erweichen lassen, der »Tag Jahwes« mußte kommen777; es war ja undenkbar, daß Jahwe, der Gott der Heerscharen, sein Volk wirklich auf die Dauer der Knechtung und Vernichtung durch die Fremden sollte preisgegeben haben. So fanden sich immer wieder Propheten, die dem Könige den Sieg verhießen, wie Jona ben Amittai dem Jerobeam II.; denn »das hatte Jahwe nicht gesagt, daß er den Namen Israels austilgen wollte unter dem Himmel, und so half er ihm durch Jerobeam, den Sohn des Joaš«778.

Diese Worte setzen den Fortbestand des Reichs voraus, entstammen also einer gleichzeitigen Schrift. Auch sonst zeigen [348] einzelne Äußerungen, so die über die Umnennung von Petra (o. S. 345 Anm. 3), daß diesen Notizen eine durchaus zuverlässige, sachlich gehaltene Geschichtsdarstellung zugrunde liegt, die in jedem der beiden Reiche bis an ihren Untergang fortgeführt worden ist. Unser Königsbuch selbst beweist das, indem es bei jeder Regierung auf die ausführliche Darstellung im »Buch der Annalen (wörtlich: der Tagebücher) der Könige von Israel« oder »von Juda« verweist. Benutzt sind dabei die Chroniken (Journale, ἐφημερίδες), die wie in den übrigen Kulturstaaten an den Königshöfen geführt wurden; aus diesen sind die, in unserer Überlieferung freilich vielfach entstellten, Daten über die Dauer der einzelnen Regierungen entnommen. Die Geschichtswerke dagegen tragen offiziellen Charakter hier so wenig wie in der Zeit Davids und Salomos; vielmehr erkennen wir eine durchaus selbständige Geschichtsschreibung derselben Art, wie sie sich später im byzantinischen Reich, in den islamischen Staaten, bei den Osmanen und im größten Stil in China gebildet hat.

Der ganz von den Ideen des Deuteronomiums beherrschte Redaktor unseres Königsbuchs hat daraus nur die Abschnitte aufgenommen, die ihn religiös interessierten, die Aramaeerkriege Achabs, den Justizmord an Nabot nebst der Strafandrohung des Elia, den Krieg gegen Meša', die Usurpation Jehus nebst dem Sturz der 'Atalja. Eine geschlossene Einheit bilden diese Erzählungen nicht, wie sie ja auch zu verschiedener Zeit geschrieben sind; wohl aber setzen sie alle ein umfassendes Geschichtswerk voraus, da sie niemals isoliert gestanden haben können779. Sie zeigen, daß die Fähigkeit zu objektiver, die Hauptmomente knapp und anschaulich vorführender Erzählung auch jetzt noch ganz lebendig war. Eine bestimmte religiöse Tendenz liegt ihnen ganz fern; daß in ihnen die Propheten stärker und individueller hervortreten als die Orakel Jahwes in den Geschichten [349] von Saul und David, liegt in den veränderten Zeitverhältnissen und entspricht durchaus den wirklichen Vorgängen.

Daneben aber stehn ganz andersartige Abschnitte, in denen die Religion die dominierende Rolle spielt. In ihnen werden die Gedanken gestaltet und weitergebildet, die zur Revolution Jehus geführt haben; daher stehn hier nicht mehr die Könige, sondern die Propheten im Zentrum der Geschichte. Hierher gehört vor allem die Geschichte des Elia, weniger eine Sage als eine freie Dichtung; in ihr scheint in der Tat eine selbständige Schrift, ein religiöses Volksbuch, erhalten zu sein780. Der Verfasser steigert den Konflikt der Orthodoxen mit Achab und seiner tyrischen Gemahlin, die auch hier als die Hauptschuldige erscheint, gegen alle Geschichte zu einem Kampf auf Leben und Tod. Aus der Erbauung des Ba'altempels in Samaria und der Opposition der Strenggläubigen wird eine Verfolgung Jahwes und seiner Propheten durch Izebel gemacht, die alle umgebracht werden bis auf Elia781. Dieser verkündet einen völligen Regenmangel, der drei Jahre lang anhält (vgl. o. S. 291); er selbst wird währenddessen zunächst an einem Bach des Jordantals, dann in Ṣarepta in Phoenikien durch Jahwe wunderbar ernährt. Dann aber tritt er auf Jahwes Geheiß urplötzlich dem Achab entgegen – dabei hat die Szene auf Nabots Grundstück als Vorbild gedient – und fordert ihn zum Gottesgericht heraus. Auf dem Gipfel des Karmel soll das ganze Volk sich versammeln, die vierhundertfünfzig [350] Propheten des Ba'al und ihnen gegenüber als einziger Elia sollen ein Stieropfer herrichten, ohne es anzuzünden, und jeder seinen Gott anrufen, Feuer vom Himmel zu senden; so wird sich entscheiden, ob der Ba'al Gott ist oder Jahwe. So geschah es. Mit Hohn wird geschildert, wie die Propheten des Ba'al sich den ganzen Tag über vergeblich abmühen und schließlich sich mit Schwertern verwunden und rasen, ohne daß ihr Gott sich regt. Elia dagegen läßt sein Opfer noch reichlich mit Wasser begießen; dann ruft er Jahwe an, und da fährt Feuer vom Himmel und verzehrt Opfer, Scheite und Wasser. Da ruft das gesamte Volk aus: Jahwe ist der Gott!, greift auf Elias Geheiß die Propheten des Ba'al, und Elia metzelt sie am Bach Qîšon nieder. Noch am selben Abend sendet Jahwe einen gewaltigen Regen; Achab besteigt seinen Wagen, »über Elia aber kam die Hand Jahwes, und er gürtete seine Lenden und lief vor Achab bis nach Jezre'el«.

Hier ist also die Abschlachtung der Priester des Ba'al durch Jehu auf Elia übertragen. Dann aber muß der Erzähler wieder in den wahren Verlauf der Geschichte einlenken. Izebel schwört dem Elia den Tod, und so bleibt diesem nichts, als in die Wüste zu fliehen782. Er wünscht sich den Tod; aber ein Engel ernährt und stärkt ihn für den Weg zum Gottesberge Choreb, vierzig Tage und vierzig Nächte weit. Hier, wo Jahwe selbst seinen Wohnsitz hat, erscheint er ihm und gibt ihm den Befehl, Chazael zum König von Aram, Jehu zum König von Israel, Elisa zum Propheten als seinen Nachfolger zu salben: »Wer dem Schwert Chazaels entrinnt, den soll Jehu, wer dem Schwert Jehus entrinnt, den soll Elisa töten; nur 7000 Mann will ich in Israel übrig lassen, alle, die ihr Knie nicht vor dem Ba'al gebeugt noch ihn geküßt haben«783. Hier ist also die Wirksamkeit Elisas auf seinen Meister übertragen und dahin erweitert, daß auch [351] die Verheerung Israels durch die Aramaeer als Strafgericht für den Kult des Ba'al betrachtet und von Elia im Auftrag Jahwes herbeigeführt wird; da ist die Erzählung benutzt und gründlich umgestaltet, daß Elisa schaut, daß Chazael König werden wird, und es diesem mitteilt, als Barhadad ihn zu Elisa geschickt hat um ein Orakel über seine Erkrankung zu holen; da bricht er aber in Tränen aus, weil er weiß, welches Elend Chazael über Israel bringen wird784.

Diese patriotische Empfindung, die in den Erzählungen von Elisa auch sonst oft hervortritt, fehlt der Eliageschichte vollständig; das Volkstum ist gänzlich in Religion umgesetzt, es mag zugrunde gehn bis auf einen geringen Rest standhafter Bekenner – denn der ist auch für diesen Vorstellungskreis unentbehrlich, damit der Name Jahwes nicht völlig aus der Menschenwelt verschwinde. Zugleich aber werden die fremden Völker, die sein eigenes Volk vernichten, damit unbewußt zu Werkzeugen seines Willens, die an Israel das Strafgericht vollziehn; die Gedanken bahnen sich an, durch die der Gott, der in weiter Ferne unnahbar auf seinem Berge haust, zum alleinigen Herrscher über Himmel und Erde geworden ist.

Die Erzählungen von Elia sind Schöpfungen der Phantasie, die mit dem geschichtlichen Hergang kaum noch etwas gemein haben. Aber nur umso größer ist ihre geschichtliche Wirkung. Sie verkörpern die treibenden Ideen, die in dem politisch dem Untergang geweihten Volk immer mehr die Führung gewinnen und seine Grundlage vollständig umwandeln, bis aus dem Rest des Volkes Israel schließlich die jüdische Kirchengemeinde geworden ist. Das grause Bild des religiösen Fanatismus, der kein anderes Ziel kennt als die rücksichtslose Vernichtung aller Andersdenkenden, ist hier in der Weltgeschichte zum ersten Male in typischer Gestalt gezeichnet. Auf dem Weg über das Judentum ist es, als heilige Überlieferung, vorbildlich geworden für alle von diesem abhängigen Religionen; in den Ketzerverfolgungen und Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts haben die Gestalten, die dritthalb Jahrtausende zuvor in Palaestina geschaffen[352] wurden, noch einmal die gesamte Kulturwelt des Abendlandes ergriffen und verwüstet.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 347-353.
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