Ausbreitung der Aramaeer

[386] Längeren Bestand hat das von Tiglatpileser zusammengekittete Reich nicht gehabt. In seinen Nachfolgern scheint der kriegerische Geist, der in ihm lebte, auf Generationen hinaus erloschen zu sein. Der Verfasser der Inschrift des >Zerbrochenen Obelisken‹, der die Kriegstaten und Jagden Tiglatpilesers preist, erwähnt von sich selbst nur die Erbauung oder Wiederherstellung von alten Palästen (o. S. 381), der Festungsmauern, des Uferkais und des Kanals von Assur, und auch sonst kennen wir von seinen Söhnen nur ein paar Bauinschriften. Nach ihnen verstummen dann die Denkmäler über ein Jahrhundert lang so gut wie völlig, so daß hier die Königsliste nahezu unsere einzige Quelle wird.

Auf Tiglatpileser I. ist zunächst sein ältester Sohn, der nach dem Begründer der Dynastie den Namen Ninurtapalekur II. führt, mit 2 Jahren (1088-1087), dann dessen Bruder Assurbelkala mit 18 Jahren (1086-1069) gefolgt. Von ihm berichtet die synchronistische Geschichte, daß er mit Mardukšapikzermati von Karduniaš861 Frieden und Freundschaft hielt; als dieser aber [386] im Jahre 1083 von einem Aramaeer Adadbaliddin862 gestürzt wurde, ist Assurbelkala zu ihm übergetreten und hat dessen Tochter geheiratet, die ihm eine reiche Mitgift brachte. Nach Assurbelkalas Tode863 hat dann sein Bruder Samsiadad IV. von Babylonien aus, also offenbar von dorther unterstützt, dessen Sohn Eribaadad II. gestürzt und sich des Königtums von Assur bemächtigt (um 1067)864.

Der Usurpator Adadbaliddin (1083-1062) mag ein Offizier oder Beamter aramaeischer Herkunft gewesen sein, der sich für einen Sohn des vorletzten Königs von Babel ausgab und als solcher offiziell anerkannt zu sein scheint. Sein Auftreten zeigt aber, wie die Aramaeer auch hier immer stärker eindringen und die ältere Bevölkerung in derselben Weise zu absorbieren beginnen wie ehemals die Akkadier gegenüber den Sumerern und dann die Amoriter. Unter ihm ist das Land von Scharen nomadischer Schützen (Sutû) überschwemmt und ausgeplündert worden. Dabei wurde auch der Tempel des Sonnengottes von Sippara zerstört und sein Kultrelief zerschlagen und in den Euphrat geworfen; erst zwei Jahrhunderte später, im Jahre 855, hat König Nabubaliddin es hier aufgefunden und auf einer Tontafel kopieren und aufstellen lassen865.

[387] Über die weiteren Schicksale Babyloniens gibt fast nur die Königsliste Auskunft866. Adadbaliddins Nachfolger hat nur eineinhalb Jahre regiert, ist also vielleicht gewaltsam beseitigt worden. Dann folgen noch zwei Könige dieser Dynastie (1060 bis 1040), und darauf eine neue (die fünfte) »des Meerlandes«, deren Begründer Simaššipak, Sohn des Erbasin, als Nachkomme der Dynastie des Damiqilišu, des dritten Königs der sog. zweiten Dynastie (Bd. I § 453. 454 a), bezeichnet wird. Er hat den Kult des Šamaš in Sippara wiederhergestellt, ist aber nach einer Regierung von 17 oder 18 Jahren umgebracht worden. Darauf hat sich ein Usurpator Eamukinzer 3 oder 5 Monate, ein anderer Kaššunadinache – dem Namen nach vielleicht kossaeischen Ursprungs – 3 Jahre lang behauptet. Daß unter ihm alles in Verwirrung war und auch der Kult von Sippara wieder verfiel, ist begreiflich genug. Dann ist Eulmaššakinšum, der Sohn des Bazi, nach dem die neue (die sechste Dynastie) benannt wird, 18 Jahre lang König gewesen und hat auch den Priestern von Sippara auf ihr Drängen wieder einige Mittel für den Kult des Šamaš bewilligt. Auf ihn folgen wieder zwei ganz kurze Regierungen, und dann bemächtigt sich ein Elamit (siebente Dynastie) auf 6 Jahre der Herrschaft. Eine Dynastie von längerer Dauer, die achte, ist erst wieder von Nabumukinbal im Jahre 992 begründet worden867.

Unter diesen Wirren ist Babylonien, das Reich von Karduniaš, zu voller Ohnmacht herabgesunken. In Babel und einigen [388] anderen größeren Städten mag das Geschäftsleben des Alltags schlecht und recht weitergegangen sein. Den eigentlich herrschenden Stand bildeten offenbar die Großgrundbesitzer, deren Grundstücke durch die vom König in den Urkunden der Kudurrus verliehenen Bestätigungen, Regulierungen und Schenkungen immer wieder vermehrt wurden, so oft auch in den ununterbrochenen Unruhen der Bestand des Besitzes gestört und verschoben wurde. Daneben war immer wieder Spielraum für ehrgeizige Glücksritter verschiedener Nationalitäten, die sich auf kürzere oder längere Zeit der Herrschaft bemächtigten. Für ein starkes Königtum war kein Raum; auch nicht, als die achte Dynastie wenigstens wieder längere Regierungen und, wie es scheint, auch eine gesicherte Thronfolge brachte. Daneben gingen die Invasionen der Aramaeer immer weiter fort; so erfahren wir aus einem Chronikfragment, das sonst nur Omina verzeichnet868, daß gleich im [389] 7. Jahr Nabumukinbals (986) die Aramaeer einfielen, den Euphratübergang bei Karbelmatati besetzten und die Verbindung zwischen Babel und Borsippa sperrten, so daß die Prozession, in der Nebo den Bel in seinem Tempel Esagilla besuchte, nicht stattfinden konnte. Dieser Zustand hat sich dann von 974 an neun Jahre lang wiederholt. Bei dieser Lage hat sich der Verfall des Landes, vor allem im Süden, der schon in der Kossaeerzeit deutlich erkennbar ist, immer weiter fortgesetzt; weite Strecken sind völlig verödet, die alten Städte kaum noch bewohnt, die Kanäle nicht mehr im Stand, die Felder und Dattelpflanzungen in Sümpfe und Seen oder in Sandwüsten verwandelt. Da haben sich dann im Süden überall die aramaeischen Stämme, vor allem die Chaldaeer869, festgesetzt, nach Osten bis weit über den Tigris hinaus; an Stelle des einheitlichen Reichs treten zahlreiche kleine Stammfürstentümer, die ihre Macht immer weiter auszudehnen suchen. Wenn in der Inschrift über die Wiederherstellung des Sonnentempels von Sippara (o. S. 387) König Nabubaliddin (ca. 885-852) sich rühmt, die Sutû, die bösen Feinde, niedergeworfen und die Städte und Tempel von Akkad wieder aufgebaut zu haben, so wird das nicht unrichtig sein870; aber zu wirklicher Macht ist er umso weniger gelangt, da inzwischen die Assyrer wieder entscheidend einzugreifen begannen, und wie armselig es in Wirklichkeit um ihn bestellt war, zeigt gerade das Denkmal ganz anschaulich.

Auch aus Assyrien wissen wir, wie schon über Samsiadad IV., so über die nächsten sechs Könige871, die ihm der Reihe nach, durchweg der Sohn auf den Vater, gefolgt sind, kaum mehr als [390] die Namen872. Der Eindruck, den wir dadurch von ihrer Zeit gewinnen, würde sich schwerlich viel ä0ndern, wenn uns wie von ihren Nachfolgern so auch von ihnen Annalen und Inschriften erhalten wären, in denen sie von ihrer Macht, ihren glorreichen Kriegszügen und dem von ihnen angerichteten Gemetzel berichteten. Denn die Macht des Reichs ist immer mehr zurückgegangen, das ihnen untertänige Gebiet schrumpft auf das eigentliche Assyrien am rechten Tigrisufer und am linken die [391] Provinzen von Ninive und Arbela bis etwa zum unteren Zab und einige angrenzende Gebirgsbezirke zusammen. Seit Salmanassar II. (1028-1017), sagt König Assurdân II.873, hausten Stämme des Ostens mordend im assyrischen Gebiet und verkauften die Kinder gegen Geld. Gegen Muzri im Gebirge hinter Ninive und andere benachbarte Landschaften sind er und seine Nachfolger zu Felde gezogen, Kudmuch ist wieder ein selbständiges Königreich, von einer Herrschaft über die Nairilande ist vollends keine Rede mehr.

Am wichtigsten ist auch hier das Vordringen der Aramaeer. Unter König Assurrabi (1010-981)874 haben sie den Assyrern die von Tiglatpileser I. besiedelte Stadt und Landschaft Pitru (Petor) in Nordsyrien jenseits des Euphrat am Fluß Sagûr nebst Mutkînu am linken Euphratufer entrissen875; unter Tiglatpileser II. (965-933) besetzten sie die Festung Gidara, die sie Ratammat umnannten876. Das sind vereinzelte Angaben, die uns gemacht werden; aber wie die geschichtlichen Berichte wiedereinsetzen, ist ganz Mesopotamien in den Händen der Aramaeer, das Kašijargebiet mit Nisibis und allen ringsum liegenden Ortschaften, das Chaborastal, die Ufer des Euphrat und ebenso der Hauptteil Nordsyriens. Einzelne Städte des Kulturgebiets, wie Charrân – mit dem Kämpfe in dieser und der Folgezeit nie erwähnt werden –, mögen an der Oberhoheit Assyriens [392] festhalten; so wird es sich erklären, daß diese Stadt, wie wir aus den Inschriften Sargons erfahren, seit alters der Reichshauptstadt Assur gleichgestellt war und die Bewohner beider Städte das Privilegium der Steuerfreiheit besaßen. Im übrigen aber mußten die Könige, als sie seit Assurdân II. (932-912) wieder Erfolge errangen, aufs neue ganz von vorn anfangen. Der Unterschied gegen Babylonien ist der, daß sie eine geschulte Armee zur Verfügung hatten und daß sie die Zähigkeit besaßen, die nicht locker ließ, und zugleich eine Brutalität, die vor nichts zurückschreckte877.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 386-393.
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