Puppenspiele

[814] Puppenspiele, d.h. dramatische Spiele mit künstlich hergestellten Figuren, kennt man in Deutschland seit dem 12. Jahrhundert; der Name für die aus Holz, Lappen oder Wachs verfertigten Puppen ist tocke, auch kobolt, wichtel und taterman, daher man auf Zusammenhang dieser Spiele mit dem heidnischen Götterdienste geschlossen hat. Der Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg enthält ein Bild, das zwei junge Leute darstellt, welche über einen Tisch hin zwei geharnischte Gliederpuppen mit Schnüren bewegen und miteinander fechten lassen. Nähere Nachrichten hat man über diese Spiele nicht.

Zu weiterer Ausbildung gelangten die Puppenspiele in den Ländern romanischer Zunge, namentlich in Italien und Frankreich. In Italien scheinen sich Spiele mit automatischen Puppen von der Römerzeit her erhalten zu haben; im 16. Jahrhundert waren sie allgemein beliebt, und es gab stehende Puppentheater sowohl als wandernde Buden mit Marionetten, buxattini. Entweder wurden kleinere Puppen mit der Hand dirigiert und dazu rezitiert, oder lebensgrosse Puppen wurden durch Fäden, Drähte oder Federn in Bewegung gesetzt. Aus Italien sollen diese Spiele ihren Weg nach Frankreich gefunden haben, wo auch der Name Marionetten aufkam; man deutet ihn als Diminutiv von Maria, wobei man erwähnt, dass auch zu religiösen Zwecken in den französischen Kirchen des Mittelalters ähnliche bewegliche Puppen, namentlich am Feste Mariä Himmelfahrt, Anwendung fanden, als Ersatz für die früher von lebenden Personen gespielten Mysterien oder geistlichen Spiele. In dem Sinne eines Volkstheaters erscheint der Ausdruck marionettes zuerst um 1600. Ihre stehenden Charaktere empfing diese Puppenkomödie vom wirklichen Volkstheater, namentlich um das Jahr 1630 den französischen Hanswurst. Der berühmteste französische Marionettenspieler war Jean Brîoché, seines Berufes Zahnbrecher und Puppenspieler.

Nach Deutschland brachten herumziehende fremde Marionettenspieler aus England, Frankreich, Holland,[814] Italien und Spanien zur Zeit des dreissigjährigen Krieges diese Volksbelustigung; im Jahre 1675 findet man sie in Frankfurt a/M,; in Wien etablierte sich 1667 ein vierzig Jahre lang bestehendes italienisches Puppentheater; auch in Hamburg sind solche Spiele seit derselben Zeit nachgewiesen; sie stellten hier u.a. als Komödie Maria Stuart, Königin der Franzosen und Schotten, dar, wobei der Hanswurst sich als lustiger Franzmann zeigte; dänische privilegierte Hofacteurs gaben ebenfalls in Hamburg das geistliche Stück »die öffentliche Enthauptung des Fräulein Dorothea«, das ursprünglich ein ludus gewesen war (siehe Drama); ein Haupteffekt darin war der, dass, wenn die Dorothea enthauptet worden war und die Zuschauer da Capo schrieen, der Direktor der Puppe den abgehauenen Kopf nochmals aufsetzte und ihr dann denselben zum zweiten Mal abhauen liess. Auch Opern und Singspiele wurden durch automatische Puppen dargestellt. Das Hauptstück der deutschen Puppentheater war der Dr. Faust; andere Stücke waren: Der Raubritter, Der schwarze Ritter, Medea, Alceste, Judith und Holofernes, j Haman und Esther, Der verlorene Sohn, Genoveva, Fräulein Antonie, Marianna oder der weibliche Strassenräuber, Don Juan, Trajanus und Domitianus, die Mordnacht in Äthiopien, Fanny und Durmann; der Hanswurst, der dabei seine stehende Rolle hatte, hiess seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Kasperle. Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen, neu bearbeitet von Fr. W. Ebeling, Leipzig 1862. – Grässe, Zur Geschichte des Puppenspiels und der Automaten, 1856. – Deutsche Puppenkomödien, herausgegeben von Karl Engel. Oldenburg, 1875.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 814-815.
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