Shaftesbury [2]

[198] Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of, philosophischer Schriftsteller, geb. 1671 zu London, der Enkel des gleichnamigen engl. Staatsmannes, saß von 1693 an einigemal im Unterhause, wurde 1698 in Holland mit P. Bayle und dessen Gesinnungsgenossen vertraut, kam 1700 in das Oberhaus und gewann das Vertrauen des Königs Wilhelm so sehr, daß er hätte Staatssekretär werden können. Er schlug dies aus, lebte 1702–1704 wiederum in Holland u. st. 1713 zu Neapel. Sein Hauptwerk sind die »Characteristics of men, manners, opinions and times« (London 1711, 3 Bde., vielfach aufgelegt u. übersetzt). S. gehörte zu den Deisten der zahmeren Gattung, welche weder mit dem bestehenden Kirchenthum offen brechen wollten noch die letzten Folgerungen zogen, die sich aus ihren Ansichten ergeben. Dem Christenthum warf er vor, sein Grundton sei keineswegs die Liebe, sondern die Selbstsucht, die vom Jenseits alles hofft und alles fürchtet; er blieb aber selbst weit entfernt davon, eine Moral zu empfehlen, die den Menschen unglücklich macht, sondern führte den Satz: die Tugend sei vortheilhaft und beseligend, das Laster dagegen schädlich und unheilvoll für jedes Geschöpf, glänzend durch und suchte eine von der positiven Religion unabhängige Moral zu begründen. Er fand das Princip derselben in der Harmonie unserer Neigungen; die selbstischen u. unnatürlichen Neigungen sollen unterdrückt, die natürlichen, auf unser persönliches Wohlsein sich beziehenden, aber mit den sogen. sympathischen d.h. mit den auf das Gemeinwohl gerichteten, dagegen so in Einklang gebracht werden, daß unser eigenes Wohl nicht unter dem Gemeinwohl leidet. – Abgesehen davon, daß S. keine Mittel angibt, welche den Menschen befähigen, die Harmonie seiner Neigungen ins Leben zu setzen, ist der Kern seiner Moral offenbar nicht die Selbstliebe des Christen, der in und durch Gott sich selber liebt, sondern verfeinerte Selbstsucht, die im Grunde gar keines Gottes zu bedürfen glaubt, wie S. denn auch selbst aussprach, der Atheismus sei der wahren Sittlichkeit weder nützlich noch schädlich. Erst nach seinem Tode kamen Briefe heraus (1716), in welchen S. den [198] Sensualismus seines Freundes Locke angreift.

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Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 198-199.
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