Volksbewaffnung

[640] Volksbewaffnung pflegt man die jenige Militäreinrichtung zu nennen, durch welche jeder Waffenfähige zum Waffendienst verpflichtet ist. In den alten Republiken so wie in den mittelalterlichen deutschen u. italienischen war dies allgemein der Fall, jedoch immer mit der Rücksicht, daß nicht das Proletariat, sondern die besitzenden Bürger die Hauptstärke bildeten; auch die Heerbannpflicht traf nach altgermanischer Einrichtung nur die Grundbesitzer. In den meisten deutschen Staaten wurde bis zum dreißigjährigen Kriege von dem Landesherrn zur Zeit der Noth die wehrbare Mannschaft aufgeboten und erst nach diesem Krieg tritt der eigentliche Solddienst allgemein auf. Die franz. Revolution erfand eine neue V., die Nationalgarde, die als mobile gegen den Feind marschiren sollte, aber wenig taugte, u. die nicht mobile, die nur in der Heimat verwendet werden durfte; der Zweck der Nationalgarde war überhaupt weniger die Vertheidigung des Vaterlands als die Aufstellung einer bewaffneten Macht gegenüber der Regierung, u. dies ist in der Regel noch überall der Fall gewesen, wo man die franz. Einrichtung nachgeahmt hat (1848 die Bürgerwehren in Deutschland). Die nordamerikan. Milizen sind die Carricatur einer Heeresmacht und haben bei aller Uebermacht 1813 jedesmal gegen geregelte Truppen schnell das Feld räumen müssen. Die schweizer. Milizen sind besser organisirt, haben jedoch noch keine Feuerprobe bestanden. Von der V. kann man überhaupt nur etwas erwarten, wenn es sich um die Vertheidigung des eigenen Landes handelt, und auch so nur, wenn sie von einem Kern regulärer Truppen unterstützt wird, wie der span. Unabhängigkeitskrieg von 1808–13 hinlänglich bewiesen hat. Es mangelt nämlich der V. die Disciplin, und diese ist fast unmöglich bei ihr einzuführen, ferner die taktische Ausbildung, so wie die nöthige Anzahl brauchbarer Offiziere; daher bildet sich bei einem eigentlichen länger dauernden Volkskriege immer ein reguläres Heer aus der Masse der anfänglich Bewaffneten heraus. Die Conscription ist im Grunde auch eine V., indem durch dieselbe so viel Mannschaft aufgeboten wird, als der Kriegsdienst eines Staats erfordert, u. ohnedem liegt ihr das Recht zu Grunde, daß die Staatsgewalt nöthigen Falls jeden Waffenfähigen requiriren kann. Eine eigenthümliche Ausbildung der Conscription ist das preuß. Landwehrsystem, s. darüber Preußen.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 640.
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