Bonn.

[124] Ich kam nicht wieder zum Spielen. Wir reisten den 12. Oktober alle ab und kamen den 15. in Bonn an. Herr Großmann war bei der Frankfurter und Mainzer Gesellschaft geblieben. Madame Großmann aber mit ihren Kindern war bei uns in Bonn. Ich mietete mir ein kleines Quartier, das wohfeilste, das beste. Denn 100 Gulden hatte mich meine Reise von Linz gekostet, 31 Wochen hatte ich keinen Heller eingenommen, in Frankfurt viele Ausgaben gehabt, also mußte ich sparen.

Es dauerte lange, bis wir zum Spielen kamen. Die Gesellschaft war nicht beisammen; man erwartete Madame Gensike als erste Liebhaberin und Herrn Dunst als ersten Liebhaber (auch, wenn mir recht ist, war der Kurfürst noch abwesend). Angefangen sollte werden mit der »Mutter«, einem[124] Stück von Herrn Gotter; ich hatte darin eine schöne Rolle, die Emilie, und freute mich darauf. Ein kalter Angstschweiß konnte mir auf die Stirn kommen, wenn ich dachte: Mußt du mit einer komischen alten Mutterrolle anfangen, so bist du verloren. Ich hatte so ein paar Geschöpfe zum Studieren. Mad. Paartl schwebte mir vor Augen, deren Körperbau und Natur, das Natürliche ihres Spiels in solcher Art Rollen – und bei mir alles Zwang, nie gespielt, Mißtrauen gegen mich selbst. O wenn die Gensike doch kommen wollte!

Sie kam nicht, und der Tag war festgesetzt, wo zum ersten Male gespielt werden mußte. Nun wurde gewählt, und was? »Doktor Guldenschmidt«! Das war ein Stück, womit sich eine neue Gesellschaft empfehlen sollte bei einem Publikum, das »Hamlet«, »Otto von Wittelsbach« und »Fiesco« gewohnt war, zu sehen. Herr Dengel wollte mir zwar sagen, meine Rolle, die Frau von Schernburg, wäre eine schöne Rolle. Ja, kaum für die, die sie spielen kann und die sich in solch ein Fach schon hineingearbeitet hat. Ich aber bin noch ganz Anfängerin und lerne die Art Rollen nie spielen. Wenn ich noch hätte wegstreichen dürfen! Ich hätte gestrichen!! Aber das durfte man nicht, weil Seine Kurfürstliche Gnaden alle Stücke in seiner Loge nachlasen. Da mußte man solche bis aufs »und« sagen. Auch das erfuhr ich zum voraus. Nun hieß es recht: »Friß Vogel oder stirb!« An der Rolle fraß ich mir noch nicht ganz den Tod. Es war nur die erste Anzeige von dem langsam tötenden Gift, »Aqua tofana«, das man für mich, lebend tot zu sein, zubereitet hatte. Ein junger Mensch, der zugereist kam, hatte nicht Lust, sich mit uns zu prostituieren, und war fortgereist, ohne Abschied zu nehmen. Er hätte sich doch wenigstens für die Gnade bedanken müssen, daß er zur Gastrolle kommen sollte. Einige nannten den Streich schlecht, ich aber klug, und wäre gern mitgereist.

Herr Beck der Aeltere mußte die zwei Brüder zusammen spielen. Der gute Mann machte uns allen noch Freude. Er sah gar zu hübsch in seinem neuen Nachtkäppchen und Fallhut aus. Ich hätte nicht gedacht, daß ich den Abend bei meinem Elend noch hätte lachen können. Aber wie ich ihn[125] füttern mußte, konnte ich vor Lachen kein Wort mehr sprechen.

Herrn Jüttner, einen guten Mann, der vielleicht Rollen gehabt hatte, wo er erträglich hatte sein können, traf das Unglück der Hauptrolle oder eigentlich der Rolle des Namens des Stücks. Der war also zum Doktor Guldenschmidt gemacht worden. Verstand kein Wort Latein! Mich jammerte der Mann, als er mich fragte: »Liebe Madame Kummerfeld, was ist denn aequinoctio? Hätte ich doch mehr Latein verstanden, um es ihm sagen zu können!« »Todesangst stehe ich mit der Rolle aus. Ich habe in meinem ganzen Leben keine solche gespielt.« »Ich auch nicht, lieber Herr Jüttner! Trösten Sie sich mit mir!«

Mit der Operette »Die Liebe ist sinnreich« wurde den 3. November angefangen. Die Oper gefiel nicht. Oh, seid heute ja zufrieden, spart eure Klagen auf übermorgen! Den 5. also erschienen wir mit unserm »Doktor Guldenschmidt«. Ueber des Doktors Angst vergaß ich meine eigene der Rolle wegen und war, wenn ich mit ihm spielte, mehr die teilnehmende Kummerfeld, wie eine Frau von Schernburg. Und leider hatte ich mit ihm die meisten Auftritte. Vom Deutschen brachte er das Hinterste vorn, wie sträflich muß es erst mit dem Latein ausgesehen haben, für die, die es verstehen konnten! Weinen hätte ich können; denn wenn so ein lateinischer Brocken kam, drückte er mir allemal krampfhaft die Hände, daß ich laut hätte schreien mögen: »Ach ja, ich weiß es ja, armer Herr Jüttner! Aber ich verstehe ja selbst kein Wort davon. Ich wollte ja herzlich gern Ihr Kreuz und Leib noch zu dem meinigen nehmen, wenn ich Ihnen nur helfen könnte.« »Ach, wäre alles nur aequinoctium!« Das sagte er allein mit ganzer Zuversicht.

Nein, so lange ich lebe, vergesse ich dies erste Stück von Hofschauspielern nicht. Herr Dengel rettete uns alle durch sein vortreffliches Spiel. Sonst wären wir oder das Stück, wie man's nehmen wollte, gewiß ausgepfiffen worden. Inzwischen wußte es Herr Dengel auch schon vorher, daß, wenn keiner von uns auf seinem Platze stand, er seinen sicher hatte. Und hätte er das nicht gewußt, es wäre gewiß nicht gegeben[126] worden. Er unterstützte Madame Großmann bei der Direktion. Traurig, wenn man bei einem Stück nur auf eine Rolle sieht. Gern hätten wir Neuen alle ihm und Madame Brand die Ehre überlassen, solches als ein Duo Drama comic allein zu spielen; denn auch sie konnte gut spielen.

Das zweite Stück, mit dem wir uns zu skandalisieren hatten, war »Der verschriebene Bräutigam«. Herr Brand, ein braver Sänger und Schauspieler, der auch in Bonn sehr beliebt und zu Hause war, spielte den verschriebenen Bräutigam, wie Herr Jüttner den Guldenschmidt. War keine Rolle für ihn. Und ich, als Madame Hertha, kam vom Regen in die Traufe. Ich war mir selbst zum Ekel und unausstehlich. Was muß ich nicht erst den Zuschauern gewesen sein! Vorher wurde die Oper gegeben »Die Reue vor der Tat«, die nicht gefiel. Hätte ich's doch dem ganzen Publikum inspirieren können, daß ich auch Reue vor der Tat fühlte. Wahrlich, sie hätten mich der harten Geburt entlassen, eine Frau Hertha zu gebären. – Mit der dritten Rolle konnte ich wohl nicht ersetzen, was ich mit den zwei ersten hatte verlieren müssen: es war in der »Schönen Rosette« die Madame Freymuth.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 124-127.
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