Das Lied vom Stein

[166] 1814.


Wo zu des Rheines heil'gen Wogen

Die Lahn in bunten Ufern rauscht,

Da ist ein Adler aufgeflogen,

Der früh dem Sphärenklang gelauscht,

Der frühe in des Lichtes Wonne

Die junge Seele eingetaucht,

Den früh der goldne Reiz der Sonne

Mit stolzer Sehnsucht angehaucht.


Da saß er in dem Felsenneste,

Das seine Väter einst gebaut,

Da klang ihm auf der hohen Feste

Der grauen Vorzeit Wunderlaut:

Hei! Wie dem Jüngling von dem Klingen

Die Brust erschwoll im süßen Wahn!

Hei! Wie er oft geregt die Schwingen,

Als mäß' er schon die Sonnenbahn!


Drauf in das Leben ausgeflogen

Wie find't er alles anders gar!

Verfinstert hat den Himmelsbogen

Ein wüster Schwarm dem Sonnenaar,[166]

Die Krähen und die Dohlen haben

Verhüllt des Lichtes goldnen Schein,

Und Eulen wollen gar und Raben

Herolde und Propheten sein.


Doch mitten in den Truggestalten

Schirmt ihn des Herzens fromme Scheu,

Er bleibt den himmlischen Gewalten

Des Jugendwahnes redlich treu,

Er winkt hinauf zur höchsten Ferne,

Hinab zum tiefsten Geisterort

Und spricht: »Die Götter und die Sterne

Sie halten ewig fest ihr Wort.


Ist gleich der Sonnenpfad der Väter

Vom schwarzen Pöbelschwarm verhüllt,

So brennt mir doch vom lichten Äther

In tiefster Brust ein Flammenbild;

Laß ewige Nacht das All bedecken,

Den Himmel tun den Höllenfall,

Die Seele zittert keinen Schrecken,

Sie trägt das All, sie ist das All.«


Heil dir, du Sohn vom Felsenneste!

Heil dir, du mutig Sonnenkind!

Der hohe Walter ob der Feste,

Er hat gesandt den Sausewind:

Die schwachen Flügel sind zerbrochen,

Dem Adler sind die Lüfte rein,

Das Nichts ist in sein Nichts gekrochen,

Der Tugend soll das Zepter sein!


Heil, fester Stein von festem Steine!

Heil, stolzer, freier, deutscher Mann!

Der in des Ruhmes Sonnenscheine

Vor aller Welt nun leuchten kann!

Zerschmettert liegt die Pöbelrotte,

Zerflogen ist der Knechte Wahn,

Und mit dem alten deutschen Gotte

Geht Ehre auf der Ehrenbahn.


Heil, fester Stein von festem Steine!

Heil Freiheit, Vaterland und Recht!

Sieh lange noch am deutschen Rheine

In Freuden blühen Teuts Geschlecht![167]

Sieh lange noch vom Sitz der Ahnen

Im schönsten Lebensabendschein

Die freien Enkel der Germanen,

Das freie Land, den freien Rhein!

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 166-168.
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