Gott der Hirt

[85] 1811.


Es ist ein Schäfer fromm und gut,

Der treibet güldne Schafe aus,

Er hält sie wohl in sichrer Hut,

Und jedes kommt ihm froh zu Haus;

Blau ist die weite Himmelsweide,

Der Schäfer sitzt auf höchster Höh'

Und schaut die Weltenenden beide,

Daß seiner Schar kein Leid gescheh'.
[85]

So weidet sie in Ewigkeit,

Und jedes kennet seine Flur

Und weichet keinen Finger breit

Von seines Weges fester Spur;

Man sieht die einen um die andern

Gar lustig ohne Anstoß gehn,

Denn könnten sie in Irre wandern,

So müßte gleich die Welt vergehn.


Der Herde Fürstin Sonne heißt,

Ihr folgt ihr Sohn, der helle Tag,

Der Mond wird als ihr Fürst gepreist,

Daß sich die Nacht erfreuen mag;

Ihm folgen viele tausend Lichter

Als schnelle Diener hübsch und fein

Und ziehn die Menschenangesichter

Empor mit wunderbarem Schein.


Denn wie mit Gottes Augen blickt

Das ganze Firmament herab,

Und bis ins tiefste Herz entzückt

Verläßt der Mensch sein Erdengrab,

Er schwingt sich über Erdenqualen

Hin, wo der Seraph selig fliegt,

Wo aller Tand von Wort und Zahlen,

Wo der Gedanke selbst versiegt.


Du, der die güldnen Schafe treibt,

Du guter, treuer, frommer Gott,

Was in die Brust so tief sich schreibt,

Das ist kein Wahn, das ist kein Spott:

Ich werde mit der sel'gen Herde

Einst droben lustig weiden gehn

Und als ein dunkles Bild die Erde

Tief unter mir sich wälzen sehn.


Laß denn die güldnen Schafe aus,

O Schäfer, laß sie wieder ein,

Ich schaue immer froh hinaus

In deiner Auen hehren Schein;

Und wann der Mond mit seinen Sternen

So lieb auf mich herniederblinkt,

Dann fühl' ich, wie aus jenen Fernen

Dein Licht empor zur Wonne winkt.

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 85-86.
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