Zaunkönig

[284] 1852.


Zaunkönig, kleinstes Vögelein,

Wie fliegst du einsam und allein?

Was baust du vor dem Maienwest

Dein traurig kaltes Winternest,

In stillster Eck', im kahlen Strauch

Ganz wider jeden Vogelbrauch?


Das Vöglein spricht: »Leicht wird gefragt,

Doch Antwort oft mit Not gesagt;

Denn altes Leid und altes Glück[284]

Schaut hinter sich nicht gern zurück.

Wohl tausend Jahr' und noch viel mehr

Ist Antwort und Geschichte her –

Viel tausend Jahre – Wonnezeit!

Da trug Zaunkönig Königskleid,

Goldkronen goldner tausendmal,

Als feinstes Gold im Sonnenstrahl;

Im Fluge und Gesang voran

War er der Vögel Vordermann,

So klein, so golden doch und groß

Saß er dem Glück und Ruhm im Schoß.

Doch zu viel Glück tut selten gut

Und schwellt den grünen Übermut.

So ging es auch dem Vögelein:

Es wollte was Besondres sein;

Ein Ausderspur und ein Fürsich

Hielt's einen gar selbsteignen Strich

Und macht' in stolzer Phantasei

Von Gott und von Natur sich frei,

Wollt' gar im Winter Nester baun.


Als das die andern Vögel schaun,

Beginnt Verwundern, Schrein und Graun

Ob solchem unerhörten Stolz,

Und wie die Glut aus dürrem Holz

Schlägt aus dem Graun der Zorn herauf.

Drob rufet alles Volk zuhauf

Der Federträger ein Prophet

Und Seher, stark vom Geist durchweht –

Der Rabe führt und nimmt das Wort.

Er schreit: ›Fort mit dem Frevler! Fort!‹

Er ruft dreimal: ›Schafft ab! Schafft ab!

Was lockt des Himmels Fluch herab!

Fort mit dem kleinen Übermut,

Der sich Gott gleich gebärden tut,

Als hätt' er's Wetter in der Hand!

Er werd' aus unserm Volk verbannt,

Der eitle Geck, der Schneephantast,

Der seines Volkes Sitten haßt –

Man haue Acht und Aberacht

Dem, der vorm Lenz den Frühling macht!‹


So ward's. Ich armes Vögelein

Muß drum noch heute einsam sein,[285]

Im kalten Winter, wo andre ruhn,

Als hätt' ich vollen Frühling, tun,

Tragen Moos und Gras fürs öde Nest,

Wo mich der Nord mit Schnee umbläst;

Einsam allein bis diesen Tag

Verbüß' ich, was der Ahn verbrach.«


Was meinet diese Kindermär?

Sie schlägt und bohrt mit scharfem Speer

Und spricht: »Mach' dir nicht selbst was weis,

Halt hübsch das eingefahrne Gleis,

Hänge jeden überschwenglichen Traum

An den ersten besten Galgenbaum:

Denn stets jagt Acht und Aberacht

Den, der vorm Lenz den Frühling macht.«

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 284-286.
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