Aufklärung

[166] Fliegendes Blatt in Preussen.


Was soll ich thun, was soll ich glauben?

Und was ist meine Zuversicht?

Will man mir meine Zuflucht rauben,

Die mir des Höchsten Wort verspricht?

So ist mein Leben Gram und Leid

In dieser aufgeklärten Zeit.


Ein jeder schnitzt sich nach Belieben

Jezt selber die Religion;

Der Teufel, heißt es, ist vertrieben,[166]

Und Christus ist nicht Gottessohn;

Und nichts gilt mehr Dreyeinigkeit,

In dieser aufgeklärten Zeit.


Die Taufe, das Kommunicieren,

Ist für die aufgeklärte Welt

Nur Thorheit wie das Kopulieren,

Und bringet nur den Priestern Geld,

Der Kluge nimmt ein Weib und freyt

Nach Art der aufgeklärten Zeit.


Der Ehebruch ist keine Sünde,

Noch weniger die Hurerey;

Und obs gleich in der Bibel stünde,

Steht doch der Galgen nicht dabey.

Drum ists galante Sittlichkeit

In dieser aufgeklärten Zeit.


Der Aufgeklärte folgt den Trieben,

Und diese sind ihm Glaubenslehr;

Was Gottes Wort ihm vorgeschrieben,

Das deucht ihm fabelhaft und schwer.

Dem Pöbel ist es nur geweiht

Und nicht der aufgeklärten Zeit.


Die Tugend sucht man zwar zu preisen,

Als die alleine selig macht;

Doch nur den Glauben zu verweisen,

Weil der uns unsre Laster sagt.

Und Laster suchet man nicht weit

In dieser aufgeklärten Zeit.


So liegt nun in dem Sündenschlafe

Das ganze aufgeklärte Land;[167]

Weil auch die ewge Höllenstrafe

Ist glücklich aus der Welt verbannt.

Denn jeder hofft Barmherzigkeit

In dieser und in jener Zeit.


So schreiben alle Antichristen,

Weil es dem Leichtsinn wohlgefällt;

Denn diese sind als Kanzelisten

Vom Satan selber angestellt:

Durch sie gewinnt der Teufel mehr,

Als wenn er selbst zugegen wär.


O laßt mich doch bei meiner Bibel,

Laßt mich in meiner Dunkelheit:

Denn ohne Hoffnung wird mir übel,

Bei dieser aufgeklärten Zeit;

Und ohne Hoffnung bin ich hier

Ein elend aufgeklärtes Thier.


Drum Thoren sprecht, ich mag nichts hören,

Verschonet mich mit eurem Gift;

Gesetzt, wenn es auch Fabeln wären,

Das, was ich lese in der Schrift;

So macht mich doch dies Fabelbuch

Zum Leben und zum Sterben klug.


Es spricht: Erwach vom Sündenschlafe,

Du thörigt aufgeklärtes Land;

Es naht die schwere Höllenstrafe,

Der böse Feind ist nicht verbannt;

Ich will euch lesen aus dem Buch

Im Unglück giebts mir Ruh genug.[168]


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 3, Stuttgart u.a. 1979, S. 166-169.
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