Sommerlied

[88] Geh aus, mein Herz, und suche Freud

In dieser lieben Sommerzeit,

An deines Gottes Gaben;

Schau an der schönen Gärten Zier,

Und siehe, wie sie mir und dir

Sich ausgeschmücket haben.


Die Bäume stehen voller Laub,

Das Erdreich decket seinen Staub

Mit einem grünen Kleide.

Narcissen und die Tulipan,

Die ziehen sich viel schöner an,

Als Salamonis Seide.


Die Lerche schwingt sich in die Luft,

Das Täubchen fleucht aus seiner Kluft,

Und macht sich in die Wälder.

Die hochgelobte Nachtigall

Ergötzt und füllt mit ihrem Schall

Berg, Hügel, Thal und Felder.


Die Glucke führt ihr Küchlein aus,

Der Storch baut und bewohnt sein Haus,

Das Schwälblein speißt die Jungen;

Der schnelle Hirsch, das leichte Reh

Ist froh, und kommt aus seiner Höh,

Ins tiefe Gras gesprungen.


Die Bächlein rauschen in dem Sand,

Und mahlen sich in ihrem Rand[88]

Mit schattenreichen Myrthen;

Die Wiesen liegen hart dabei,

Und klingen ganz von Lustgeschrey

Der Schaaf und ihrer Hirten.


Die unverdroßne Bienenschaar

Fleucht hin und her, sucht hier und dar

Ihr edle Honigspeise;

Des süßen Weinstocks starker Saft

Bringt täglich neue Stärk und Kraft

In seinem schwachen Reise.


Ich selber kann und mag nicht ruhn,

Des grossen Gottes grosses Thun

Erweckt mir alle Sinnen;

Ich singe mit, wenn alles singt,

Und lasse, was dem Höchsten klingt,

Aus meinem Herzen rinnen.


Ach, denk ich, bist du hier so schön,

Und lässest uns so lieblich gehn,

Auf dieser armen Erden;

Was will doch wohl nach dieser Welt

Dort in dem festen Himmelszelt

Und güldnem Schlosse werden.


O wär ich da! o stünd ich schon,

Ach süßer Gott vor deinem Thron,

Und trüge meine Palmen;

So wollt ich nach der Engel Weis

Erhöhen deines Namens Preis

Mit tausend schönen Psalmen.[89]


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 3, Stuttgart u.a. 1979, S. 88-90.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Knaben Wunderhorn
Ludwig Achim's von Arnim sämtliche Werke: Band XVII. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Band 3
Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe. Herausgegeben von Bettina von Arnim und Wilhelm Grimm. Band 06: Des Knaben Wunderhorn I und II. - Reprint der Ausgabe von 1857
Des Knaben Wunderhorn Band 2
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L.A.v. Arnim und Cl. Brentano. Neu bearbeitet von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius; ... in Holz geschnitten von C.G. Specht: Band. 1
Ludwig Achim's Von Arnim Sämmtliche Werke: Des Knaben Wunderhorn. T. 3 (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon