Zwölfter Brief

[53] Paris, den 3. November 1830


Ich habe bis jetzt noch sehr wenige Bekanntschaften gemacht, und wahrscheinlich werde ich es darin nicht weiter bringen als das vorige Mal auch. Man mag sich anstellen, wie man will, man fällt immer in sein Temperament zurück. Zu Menschenkennerei hatte ich immer die größte Unlust; meine sinnliche und mehr noch meine philosophische Trägheit hält mich davon zurück. Was die einzelnen Menschen der nämlichen Gattung voneinander unterscheidet, ist so fein, daß mich die Beobachtung[53] anstrengt; es ist mir, als sollte ich einen kleinen Druck lesen. Und wird man bezahlt für seine Mühe? Selten. Darum halte ich mich lieber an Menschenmassen und an Bücher. Da kann ich fortgehen, die kann ich weglegen, wenn sie mir nicht gefallen, oder wenn ich müde bin. In Gesellschaften muß ich hören, was ich nicht Lust habe zu hören, muß sprechen, wenn ich nicht Lust habe zu sprechen, und muß schweigen, wenn ich reden möchte. Sie ist eine wahre Krämerei, die sogenannte gesellschaftliche Unterhaltung. Was man in Zentnern eingekauft, setzt man lotweise ab. Wie selten trifft man einen Menschen, mit dem man en gros sprechen kann! Wem, wie mir, seine Meinungen zugleich Gesinnungen sind, wem der Kopf nur die Pairskammer ist, das Herz aber die volkstümlichere Deputiertenkammer, der kann sich nicht in Gesellschaften behaglich fühlen, wo der aristokratische Geist allein Gesetze gibt. Drei, höchstens fünf Freunde, oder dann Markt oder ein Buch – so liebe ich es. Das ist die Philosophie meiner Trägheit. Dazu kömmt noch, daß ich, wie gewöhnlich auf meinen Reisen, ohne alle Empfehlungsbriefe hierhergekommen. Zwar braucht man sie in Paris weniger als an andern Orten, hier wird man leicht von einem Bekannten zu einem Unbekannten geführt, und so geht es schnell fort; aber sich vorstellen zu lassen, mit anhören zu müssen, wer und was man ist, sich unverdient, und was noch schlimmer, sich verdient loben zu hören – das tut einem doch gar zu kurios!

– Was sagen Sie zu Antwerpen? Ist es nicht ein Jammer, daß einem das Herz blutet? Ist je so eine Schändlichkeit begangen worden? ... Das ist nicht der und der Fürst, der es getan, das ist nicht der König der Niederlande, der nicht der schlimmste Fürst ist; das ist die Fürstennatur, die sich hier gezeigt, die wahnsinnige Ruchlosigkeit, die meint, ihrem persönlichen Vorteile[54] dürfe man das Wohl eines ganzen Volkes aufopfern. Es ist nicht mehr zu ertragen, und ich fange an und werde ein Republikaner, wovon ich bis jetzt so weit entfernt war. Sie sollten heute nur (im Messager) de Potters Glaubensbekenntnis lesen und wie er sagt, der beste Fürst tauge nichts, und er wäre für eine Republik. Nie hat einer so klar und wahr gesprochen.

– Was sagt man denn in Frankfurt von der Pest (Cholera morbus), die jetzt in Moskau herrscht? Die Krankheit hat sich von Asien dorthin gezogen. Es ist eine Geschichte gar nicht zum Lachen. In der gestrigen Zeitung steht, der englische Gesandte in Petersburg habe seiner Regierung berichtet, diese fürchterliche Krankheit werde sich wahrscheinlich auch über Deutschland und weiter verbreiten. Das ist wieder Gottes nackte Hand! Die Fürsten werden gehindert sein, große Heere zusammenzuziehen, und tun sie es doch ... Es ahndet mir – nein ich weiß es, die Pest wird vermögen, was nichts bis jetzt vermochte: sie wird das trägste und furchtsamste Volk der Erde antreiben und ermutigen. Pest und Freiheit! Nie hat eine häßlichere Mutter eine schönere Tochter gehabt. Was kann der kommende Frühling nicht noch für Jammer über die Welt bringen! Tränen werden nicht ausreichen; man wird vor lauter Not lachen müssen. Und das alles um des monarchischen Prinzips, und das alles um eines Dutzends armseliger Menschen willen! Es ist gar zu komisch.

– Die Revue, welche verflossenen Sonntag auf dem Marsfelde über die Nationalgarde gehalten wurde, gewährte einen unbeschreiblich schönen Anblick. Hunderttausend Mann Soldaten, und wenigstens ebensoviel Zuschauer, alle auf einem Platze, den man auf den angrenzenden Höhen so bequem übersieht. Was mich besonders freute, war, daß hinter manchem Bataillon auch ein kleiner Trupp uniformierter Kinder zum Spaße mitzog.[55]

Die Offiziere hatten, wie ich bemerkte, oft ihre Not zu kommandieren, die Buben kamen ihnen immer zwischen die Beine. Dann zogen auch die Blessierten vom Juli an dem Könige vorüber, und darunter auch zwei Weiber mit Flinten, die damals mitgefochten. Der König wurde mit großem Jubel empfangen. Der Kronprinz (Herzog von Orléans) dient als gemeiner Kanonier bei der Nationalgarde und stand den ganzen Tag bei seiner Kanone und legte die Hände an wie die übrigen. Den fremden Gesandten, die alle bei der Revue waren, mußte die ganze königliche Pöbelwirtschaft doch wunderlich vorkommen. An den deutschen Höfen wird jeder Prinz, sobald er auf die Welt kömmt, gleich in ein Regiment eingeschrieben, um von unten auf zu dienen, und so, während er ins Bett pißt, avanciert er immerfort, ist im siebenten Jahre Lieutenant, im zehnten Obrist und im achtzehnten General. Die Revue dauerte von morgens bis abends; ich hatte natürlich nicht so lange Geduld. Wie es nur die Leute aushalten, so lange auf den Beinen zu sein. Um acht Uhr morgens zogen sie aus, und es war acht Uhr abends, als die letzten Legionen noch über die Boulevards zogen. Viele Nationalgarden, um sich nicht zu ermüden, sind zur Revue hingefahren, und die vielen Cabriolets und Omnibus, aus welchen auf beiden Seiten Flinten hervorsahen, gewährten einen seltsamen Anblick.

Heute ist das Ministerium geändert, wie Sie aus den Zeitungen erfahren werden. Thiers, der Verfasser einer Geschichte der Französischen Revolution, wird Unterstaatssekretär der Finanzen, also ohngefähr soviel als Minister. Ich kannte ihn früher. Er ist kaum dreißig Jahre alt, kam zur Zeit, als wir in Paris waren, mit seinem Landsmann Mignet hierher, ganz fremd und unbeholfen. Ein Deutscher meiner Bekannten nahm sich der jungen Leute an und wies sie zurecht, und jetzt ist[56] der eine Staatsrat, der andere Minister! Was man hier sein Glück macht! Möchte man nicht vor Ärger ein geheimer Hofrat werden! Es ist geradeso, als wäre der Heine Minister geworden oder der Menzel oder ich. Und was sind wir?


Freitag, den 5. November


Mittwoch abend war ich bei Gérard, dem berühmten Maler, dessen Salon schon seit dreißig Jahren besteht und wo sich die ausgezeichnetsten Personen versammeln. Es ist eine eigentliche Nachtgesellschaft; denn sie fängt erst um zehn Uhr an, und man darf noch nach Mitternacht dahin kommen. Gérard ist ein sehr artiger und feiner Mann; aber er hat viel Aristokratisches. (Ich mußte darüber lachen, daß ich unwillkürlich aber schrieb.) Er sieht mir nicht aus, als hätte er je das mindeste von unserm deutschen Kunst-Katzenjammer gefühlt. Ich möchte ihm einmal die Phantasien eines kunstliebenden Klosterbruders oder so ein anderes schluchzendes Buch zum Lesen geben – was er wohl dazu sagte! Ich fand dort die Dichterin Delphine Gay; den dramatischen Dichter Ancelot; Humboldt; Meyerbeer; den Bildhauer David, der im vorigen Sommer in Weimar war, um Goethes Büste aufzunehmen; unsern Landsmann, den jungen Hiller, der hier als Komponist und Klavierspieler in großer Achtung steht; Vitet; den Schriftsteller, der unter dem Namen Stendhal schreibt, und noch viele andere Gelehrte und Künstler. Ein armer deutscher Gelehrter wird gelb vor Ärger und Neid, wenn er sieht, wie es den französischen Schriftstellern so gut geht. Außer dem vielen Gelde, das sie durch ihre Werke verdienen, werden sie noch obendrein von der Regierung angestellt. Stendhal ist eben im Begriff, nach Triest abzureisen, wo er eine Stelle als Konsul erhalten. Vitet schreibt sogenannte historische Romane, die sehr[57] schön sind: Henri III, Les barricades, Les états de Blois. Der hat jetzt eine Anstellung bekommen, um die ich ihn beneide. Er ist Conservateur des Monuments d'antiquité de la France. Diese Stelle bestand früher gar nicht, und der Minister Guizot, der Vitet protegierte, hat sie erst für ihn geschaffen. Sein Geschäft besteht darin, daß er jährlich ein paarmal durch Frankreich reist und die alten Bauwerke aus der römischen Zeit und aus dem Mittelalter, Tempel, Wasserleitungen, Amphitheater, Kirchen besichtigt und darauf sieht, daß sie nicht verfallen. Dafür hat er einen jährlichen Gehalt von funfzehntausend Franken, und die Reisekosten werden besonders bezahlt. Gäbe es eine angenehmere Stelle als diese für einen Menschen wie ich bin, der faul ist und gern reist? Möchte man sich nicht den Kopf an die Wand stoßen, daß man ein Deutscher ist, der aus seiner Armut und Niedrigkeit gar nicht herauskommen kann? In Deutschland geschieht wohl manches für Kunst und Wissenschaft, aber für Künstler und Schriftsteller gar nichts. Hier verteilt die Regierung jährliche Preise für die besten Werke der Malerei, der Bildhauerkunst, Lithographie, Musik und so für alle. Der erste Preis besteht darin, daß der Gewinnende auf fünf Jahre lang jährlich 8000 Franken erhält, und dafür muß er diese Zeit in Rom zu seiner Ausbildung zubringen. Einem Deutschen würde dieses Müssen in Rom leben komisch klingen; denn er ist lieber in Rom als in Berlin, Karlsruhe. Aber Franzosen erscheint dieses oft als Zwang; denn sie verlassen Paris nicht gern. So hat die vorige Woche ein junger Mensch namens Berlioz den ersten Preis der musikalischen Komposition erhalten. Ich kenne ihn, er gefällt mir, er sieht aus wie ein Genie. Geschieht je so etwas bei uns? Denken Sie an Beethoven. O! ich habe eine Wut! Schicken Sie mir doch einmal eine Schachtel voll deutscher Erde, daß ich sie hinunterschlucke.[58]

Das ist ohnedies gut gegen Magensäure, und so kann ich das verfluchte Land doch wenigstens symbolisch vernichten und verschlingen. Neukomm, ein deutscher Komponist (ich glaube, er macht Kirchenmusik), lebt in Talleyrands Hause; aber nicht als Musiker, sondern als Attaché! Er begleitet Talleyrand überallhin und ist ihm auch jetzt nach England gefolgt. Es mag recht angenehm sein, in Talleyrands Nähe zu wohnen. Bei uns gelangt man gar nicht zu so etwas. Gérard sagte mir, daß er die Deutschen sehr liebe, und hielt ihnen eine große Lobrede. Es war Mitternacht, als man erst den Tee auftrug. Welche Lebensart! Ich muß Ihnen doch die statistische Merkwürdigkeit mitteilen, daß man hier zum Tee keine Serviette auflegt, sondern die Tassen, und was dazu gehört, auf den nackten Tisch stellt. Gefällt Ihnen das? Aber dem Liberalismus ist nichts heilig.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 3, Düsseldorf 1964, S. 53-59.
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