22. Kapitel

Die Überlegenheit der sozialistischen Produktivität

[182] Wir hatten verabredet, mit den Damen in der Speisehalle zum Mittagessen zusammenzutreffen. Da die beiden zu tun hatten, verließen sie uns nach Tisch, während Doktor Leete und ich uns noch bei Wein und Zigarren über gar mancherlei Fragen unterhielten.

»Herr Doktor«, bemerkte ich im Laufe unserer Plauderei, »vom moralischen Standpunkt aus ist Ihre Gesellschaftsordnung so vollkommen, daß ich von Sinnen sein müßte, wollte ich sie nicht aufrichtig bewundern. Sie ist jeder gesellschaftlichen Organisation überlegen, die früher in der Welt bestanden hat, ganz besonders aber der meines unglückseligen Jahrhunderts. Sollte ich heute abend wieder in einen hundertjährigen Starrkrampf verfallen, sollte die Zeit unterdessen rückwärts, statt vorwärts[182] gehen, so daß ich wieder im neunzehnten Jahrhundert erwachte, so dürften Sie eines versichert sein: jeder meiner Freunde, dem ich meine Erlebnisse erzählte, würde sicherlich zugeben, daß Ihre Welt ein Paradies der Ordnung, der Gerechtigkeit und des Glückes sei. Aber meine Zeitgenossen waren ein sehr praktisches Volk. Nachdem sie ihrer Bewunderung für die moralische Schönheit und den materiellen Glanz Ihrer Gesellschaftsordnung Ausdruck verliehen hätten, würden sie sofort zu rechnen beginnen und fragen, woher Sie die Mittel nehmen, um jedermann so glücklich zu machen. Denn wahrlich, um die gesamte Nation in einem Wohlleben, ja sogar in einem Luxus zu erhalten, wie ich ihn hier um mich sehe, dazu bedarf es eines bei weitem größeren Reichtums, als ihn die Nation zu meiner Zeit erzeugte. Wohl könnte ich meinen Freunden im übrigen so ziemlich die wesentlichsten Züge Ihrer sozialen Ordnung schildern, allein ich wäre außerstande, ihnen diese Frage zu beantworten. Und da sie, wie gesagt, sehr genaue Rechner waren, so würden sie mir entgegnen, ich hätte geträumt, und mir überhaupt nichts mehr glauben. Wenn man zu meiner Zeit in den Vereinigten Staaten den Gesamtertrag der nationalen Jahresproduktion vollkommen gleichmäßig unter allen verteilt hätte, so würden auf den Kopf nicht mehr als drei- bis vierhundert Dollar entfallen sein. Das heißt also nicht sehr viel mehr, als gerade erforderlich ist, um die notwendigsten Lebensbedürfnisse zu bestreiten und darüber hinaus vielleicht noch einige wenige bescheidene Annehmlichkeiten zu genießen, wenn es überhaupt dazu reicht. Wie kommt es, daß Ihr Reichtum so viel größer ist?«

»Diese Frage ist sehr berechtigt, Herr West«, antwortete Doktor Leete. »Ich würde Ihre Freunde keineswegs tadeln, wenn sie Ihre Erzählung für ein Phantasiegebilde erklärten, weil Sie ihnen darauf keine befriedigende Antwort geben könnten. Es ist eine Frage, die ich Ihnen unmöglich auf einmal erschöpfend beantworten kann, und was die genauen statistischen Nachweise für meine allgemeinen Angaben anbelangt, so muß ich Sie auf Bücher in meiner Bibliothek verweisen. Da es jedoch bedauerlich wäre, wenn Sie in dem angegebenen Fall von Ihren alten Bekannten in Verlegenheit gesetzt würden, so kann ich nicht umhin, Ihnen einige Andeutungen zu machen.[183]

Beginnen wir mit einigen kleinen Posten, bei denen wir, verglichen mit den Verhältnissen Ihrer Zeit, Ersparnisse erzielten. Wir haben keine Reichs-, Staats-, Provinzial- oder Gemeindeschulden, deren Zinsen wir zahlen müßten. Wir haben keine Ausgaben für Ausrüstung und Unterhalt eines Kriegsheeres und einer Kriegsflotte, da wir keinerlei militärische Einrichtungen besitzen. Wir zahlen keine Steuern, und somit ist die ganze Beamtenschar überflüssig geworden, die mit ihrer Einziehung und Verwaltung betraut war. Was den Stab unserer Richter, Polizisten, Exekutivbeamten und Gefängniswärter anbelangt, so unterhielt davon zu Ihrer Zeit Massachusetts allein weit mehr als die ganze Nation. Es existiert nicht mehr wie bei Ihnen eine Verbrecherklasse, die vom Raube des Nationalvermögens lebt. Zu Ihrer Zeit hatten die Gesunden eine schwere Last zu tragen durch die Fürsorge für die körperlich Gebrechlichen, für Kranke, Schwache und Krüppel, kurz für alle, die zur werktätigen Arbeit ganz oder teilweise untauglich waren. Dank der nun gleich gesunden und angenehmen Lebensbedingungen für alle ist die Zahl dieser Bedauernswerten gegenwärtig auf einen kaum nennenswerten Bruchteil der Bevölkerung gesunken und geht mit jeder Generation immer mehr zurück.

Ferner sparen wir durch die Abschaffung des Geldes, die tausenderlei Beschäftigungen wegfallen ließ, die mit den Finanzoperationen jeder Art verbunden waren und früher ein Heer von Menschen nützlicher Arbeit entzogen. Erwähnt sei auch, daß es bei uns keinen übermäßigen persönlichen Luxus von Reichen gibt wie zu Ihrer Zeit; es war dies eine Quelle der Verschwendung, deren Bedeutung man allerdings nicht überschätzen darf. Vor allem aber vergessen Sie nicht, daß jetzt keine Müßiggänger mehr vorhanden sind, weder reiche noch arme – keine Drohnen.

Eine sehr gewichtige Ursache der früheren Armut war die riesige Vergeudung an Arbeit und Material, die daraus erwuchs, daß der einzelne zahllose Arbeiten für sich allein verrichtete, die bei uns Sache des genossenschaftlichen Betriebs geworden sind. Dazu gehört auch das Kochen und Waschen, das bei Ihnen im einzelnen Haushalt geschah.

Größer als alle bisher aufgezählten Ersparnisse, ja größer als alle zusammengenommen ist jedoch die Ersparnis, die wir dank der Organisation[184] unserer Güterverteilung erzielen. Eine Unsumme von Zeit und Kraft wurde zu Ihrer Zeit mit überflüssigem, endlosem Hin- und Herschicken der Waren vergeudet. Ein Heer von Kauf- und Geschäftsleuten, Spekulanten, Groß- und Kleinhändlern, Maklern, Agenten, Reisenden und tausenderlei Mittelspersonen war dabei beschäftigt. Bei uns wird die Arbeit der Güterverteilung von dem zehnten Teil der Leute besorgt, ohne daß sich dabei auch nur ein Rad unnötig umdrehte. Sie haben schon einigen Einblick erlangt, wie unsere Güterverteilung geregelt ist. Unsere Statistiker haben berechnet, daß ein Achtzigstel unserer Arbeiter ausreicht, um den gesamten Verteilungsprozeß zu besorgen; zu Ihrer Zeit nahm er ein Achtel der ganzen Bevölkerung in Anspruch und entzog mithin so viele der produktiven Arbeit.«

»Mir dämmert die Erkenntnis, wie Sie zu Ihrem größeren Reichtum kommen«, sagte ich.

»Entschuldigen Sie«, versetzte Doktor Leete, »aber noch können Sie das schwerlich ganz verstehen. Die von mir bis jetzt aufgezählten Ersparnisse an Arbeit und Material mögen vielleicht zusammengenommen einer Steigerung Ihrer jährlichen Gesamtproduktion um die Hälfte gleichkommen. Allein sie verdienen kaum Erwähnung im Vergleich zu der bei uns vermiedenen ungeheuren Verschwendung, die unvermeidlich war, solange die nationale Gütererzeugung den Händen von Privatunternehmern überlassen blieb. Hätten Ihre Zeitgenossen ihren Verbrauch auch noch so stark eingeschränkt, wären die Fortschritte der mechanischen Erfindungen noch so wunderbare gewesen: nie würde sich die Gesellschaft aus dem Sumpf der Armut emporgearbeitet haben, solange sie an der Ordnung der privaten Gütererzeugung festhielt.

Man hätte gar keine größere Verschwendung in der Nutzbarmachung menschlicher Arbeitskraft ersinnen können als diese Ordnung. Zur Ehre des menschlichen Verstandes darf nicht vergessen werden, daß sie überhaupt nicht erdacht worden ist, sondern lediglich ein Überbleibsel aus jenen kulturarmen Zeiten war, in denen der Mangel einer einheitlichen gesellschaftlichen Organisation jede Art des genossenschaftlichen Zusammenwirkens unmöglich machte.«[185]

»Ich will gern zugestehen, daß unsere Wirtschaftsordnung ethisch betrachtet herzlich schlecht war«, sagte ich. »Allein von ihrem moralischen Wert abgesehen erschien sie uns ganz bewunderungswürdig als bloße Maschine zur Erzeugung von Reichtümern.«

»Wie bereits bemerkt«, antwortete der Doktor, »können wir diese umfassende Frage jetzt nicht eingehend erörtern. Wenn es Sie jedoch wirklich interessiert, unsere wichtigsten Einwände gegen Ihre Wirtschaftsordnung kennenzulernen, so kann ich einige davon kurz andeuten. Vier Arten großer Verluste vor allem hatten ihre Wurzel darin, daß die Produktion unverantwortlichen Privatunternehmern überlassen blieb, von denen jeder auf eigene Faust ohne jede Verständigung mit den anderen handelte. Erstens die Verluste bei verfehlten Unternehmungen. Zweitens die Verluste infolge der Konkurrenz und der gegenseitigen Feindschaft aller Gewerbe- und Handeltreibenden. Drittens die Verluste durch periodische Überproduktion und Krisen mit ihren unvermeidlichen Folgeerscheinungen: Stockungen von Handel und Wandel. Viertens die Verluste dadurch, daß jederzeit Kapital und Arbeitskraft brach liegen blieb. Das Vorhandensein eines dieser vier großen Löcher in der gesellschaftlichen Wirtschaft würde hinreichen, eine Nation zur Armut zu verurteilen, auch wenn die drei übrigen Löcher gar nicht vorhanden gewesen wären.

Beginnen wir mit den Verlusten infolge verfehlter Unternehmungen. Da zu Ihrer Zeit Produktion und Konsumtion einer einheitlichen Regelung ermangelten, so konnte man unmöglich feststellen, wie groß für einen bestimmten Artikel das Angebot und wie groß die Nachfrage war. Daher war bei jedem Unternehmen eines Privatkapitalisten der Erfolg immer ein zweifelhafter. Es fehlte dem Manne der Überblick über die gesamte Produktion und Konsumtion, wie ihn unsere Verwaltung heute hat. Er konnte daher nie genau wissen, welches die Bedürfnisse der Konsumenten waren, und was andere Kapitalisten unternommen hatten, um sie zu befriedigen. Angesichts dieser Lage der Dinge darf es uns durchaus nicht verwundern, daß bei jedem Geschäftsunternehmen die Möglichkeiten eines Mißerfolgs viel größer waren als die Aussichten auf Erfolg. Leute, denen schließlich das Glück lächelte, hatten gewöhnlich[186] vorher zu wiederholten Malen unglücklich spekuliert. Ein Schuhmacher, der immer erst beim Zuschneiden das Leder für vier oder fünf Paar Schuhe verdirbt, ehe er ein Paar fertig bringt, hätte – von der verlorenen Arbeitszeit abgesehen – ungefähr die gleiche Aussicht, reich zu werden, wie Ihre Zeitgenossen sie hatten. Bei ihrer privatkapitalistischen Produktionsordnung kam auf vier bis fünf fehlgeschlagene Unternehmungen durchschnittlich nur je eine erfolgreiche.

Der Konkurrenzkampf verursachte weitere höchst beträchtliche Verluste. Das Wirtschaftsleben Ihrer Zeit glich einem Schlachtfelde, das sich über die ganze Welt hin ausdehnte. Hier vergeudeten die Arbeiter im Kampfe der Konkurrenten untereinander Kräfte, die bei einem einheitlichen, planmäßigen Zusammenwirken wie heutzutage hinreichend gewesen wären, Reichtum für alle zu schaffen. Von Gnade und Schonung war in diesem Kriege keine Rede. Wenn ein Kapitalist nach einem wohlerwogenen Plan in ein Geschäftsgebiet eindrang und die Unternehmen aller zugrunde richtete, die es bisher beherrscht hatten, um auf den Trümmern sein eigenes Unternehmen aufzubauen, so ward sein Erfolg unfehlbar und allgemein als große Tat bewundert. Bedenkt man die Seelenpein und die körperlichen Leiden, die dieses Ringen im Gefolge hatte, das Elend, dem die besiegten Unternehmer nebst den von ihnen Abhängigen preisgegeben waren: so erscheint ein Vergleich zwischen dem Konkurrenzkampf und dem wirklichen Kriege durchaus nicht gesucht und übertrieben. Nichts in Ihrem Zeitalter ist uns Neueren im ersten Augenblick unbegreiflicher als die Tatsache, daß Menschen, die in ein und demselben Wirtschaftsgebiet tätig waren, sich nicht brüderlich als Kameraden und Mitarbeiter an einem gemeinsamen Werk die Hand reichten, sondern einander als Feinde und Nebenbuhler betrachteten, die sich gegenseitig erwürgen und vernichten mußten. Das dünkt uns der reinste Wahnsinn, ein Leben wie im Tollhaus! Allein bei näherer Beobachtung stellt es sich als etwas ganz anderes heraus. Ihre Zeitgenossen wußten recht gut, was sie taten, wenn sie einander den Hals abschnitten. Die Unternehmer des neunzehnten Jahrhunderts arbeiteten nicht wie die Produzenten des zwanzigsten Jahrhunderts gemeinschaftlich für den Unterhalt der Gesamtheit, sondern jeder von ihnen arbeitete allein für sich[187] und für seinen eigenen Unterhalt auf Kosten der Gesamtheit. Es war der bloße Zufall, wenn der einzelne, der auf dieses Ziel lossteuerte, gleichzeitig auch den Nationalreichtum vermehrte. Ebenso leicht und häufig ereignete es sich, daß der einzelne sein Vermögen durch Praktiken vergrößerte, die das Gemeinwohl schädigten. Die schlimmsten Feinde jemandes waren notwendigerweise alle, die das nämliche Gewerbe betrieben wie er. Denn da Ihre Wirtschaftsordnung den Privatvorteil zur Triebfeder der Gütererzeugung machte, so wünschte jeder einzelne Unternehmer, daß der von ihm hergestellte Artikel so selten wie möglich sei. In seinem Interesse lag es, daß nicht mehr davon produziert werde, als er selbst erzeugen konnte. Sein beständiges Streben war darauf gerichtet, soweit die Verhältnisse es gestatteten, dieses Ziel zu erreichen, indem er seine Konkurrenten niederschlug oder ihnen den Mut benahm, in dem Erwerbszweig weiterhin tätig zu sein. Hatte er alle Nebenbuhler, die er vernichten konnte, aus dem Felde geschlagen, so bestand seine Politik darin, sich mit denen zu verbinden, die er nicht zu besiegen vermochte; ihr Kampf gegeneinander verwandelte sich dann in einen gemeinsamen Kampf gegen die Verbraucher. Die früheren Konkurrenten bildeten zu diesem Zwecke einen Ring, wie man es wohl nannte, der die Preise so hoch emporschraubte, als die Käufer sie nur irgendwie erschwingen konnten, ehe sie ganz auf die Ware verzichteten. Der Herzenswunsch eines Kapitalisten des neunzehnten Jahrhunderts ging dahin, die Herstellung eines unentbehrlichen Artikels allein in der Hand zu haben, so daß er die Verbraucher an der Grenze des Mangels halten und für seine Waren Teuerungspreise erzielen konnte. Dies nannte man im neunzehnten Jahrhundert eine Produktionsordnung! Herr West, entscheiden Sie selbst, ob es nicht in vieler Beziehung eine Produktionsunordnung war, eine Hemmung der Produktion. Wenn wir einmal viel freie Zeit haben, werde ich Sie ersuchen, mir etwas zu erklären, was ich trotz allen Nachdenkens und Studierens nie zu begreifen vermochte: Ihre Zeitgenossen waren doch offenbar in vieler Hinsicht schlaue Leute; wie konnten sie sich da einfallen lassen, die Sorge für den Unterhalt der Gesamtheit einer Klasse anzuvertrauen, die alles Interesse daran hatte, daß die Gesamtheit Mangel litt, ja buchstäblich ausgehungert wurde? Ich versichere Sie, wir wundern uns[188] keineswegs darüber, daß die Gesellschaft bei einer derartigen Produktionsordnung nicht reich wurde, sondern nur, daß sie dabei nicht an Entbehrungen zugrunde ging. Unsere Verwunderung wächst noch, wenn wir einige weitere Arten riesiger Verschwendung betrachten, die der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eigentümlich waren.

Abgesehen von der Arbeits- und Kapitalvergeudung durch fehlgeschlagene Unternehmen und den beständigen Blutverlust im Konkurrenzkrieg war Ihre Produktionsordnung periodischen Erschütterungen unterworfen, die die Klugen wie die Törichten, die erfolgreichen Halsabschneider wie auch ihre Opfer niederwarfen. Ich meine die Krisen, die in Zwischenräumen von fünf bis zehn Jahren wiederkehrten und die nationale Wirtschaft schwer schädigten. Sie warfen alle schwachen Unternehmungen zu Boden, lähmten die Stärksten und wurden von langen, oft mehrere Jahre dauernden Perioden sogenannter Depression gefolgt, während deren die Kapitalisten langsam die vergeudeten Kräfte wiedergewannen und die Arbeiter hungerten und revoltierten. Dann kam wohl wieder eine kurze Zeit des geschäftlichen Aufschwungs, bis abermals eine Krise einsetzte, begleitet von einigen Jahren vollständiger Erschöpfung. Als der Handel sich entwickelte und die Nationen voneinander abhängig machte, ergriffen diese Krisen die ganze Welt. Bei dem Fehlen regelnder, ausgleichender Zentralstellen nahm die Dauer des auf Krisen folgenden geschäftlichen Niederganges mit der Größe der betroffenen Gebiete zu. Je weiter sich die Weltwirtschaft ausdehnte, je verwickelter sie ward und je größer das in ihr angelegte Kapital, um so häufiger traten die Krisen ein. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kamen schließlich zwei schlechte Jahre auf ein gutes, und die ganze gewaltige Produktion schien in Gefahr, unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Nach endlosen Erörterungen scheinen die Nationalökonomen jener Zeit zu dem verzweifelten Schlusse gelangt zu sein, daß diese Krisen ebensowenig verhindert oder eingeschränkt werden könnten wie eine Dürre oder ein Orkan. Man müßte sie als unvermeidliches Übel ertragen, und wenn sie vorüber wären, das zertrümmerte Gebäude der Wirtschaft von neuem aufbauen, wie die Bewohner eines von Erdbeben heimgesuchten Landes ihre Städte immer wieder auf derselben Stelle errichteten.[189]

Ihre Zeitgenossen hatten sicherlich insofern recht, als sie die Ursachen dieser Störungen in ihrer Wirtschaftsordnung selbst suchten. Sie wurzelten in der Tat in dem tiefsten Wesen dieser Ordnung und mußten um so verderblicher werden, je größer und verwickelter das Wirtschaftsleben wurde. Eine dieser Ursachen war, daß es den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft an jeglicher gemeinsamen Leitung fehlte und damit auch an einer geordneten und regelmäßig fortschreitenden Entwicklung. Als unvermeidliche Folge davon hielten sie nie gleichen Schritt miteinander und verloren die Fühlung mit den vorhandenen Bedürfnissen des Marktes.

Für diese Bedürfnisse gab es keinen sicheren Anhaltspunkt, wie ihn unsere Regelung der Güterverteilung besitzt. Die ersten Anzeichen dafür, daß in einem Erwerbszweig die Produktion den Bedarf überschritten hatte, waren das Fallen der Preise, die Bankrotte der Unternehmer, die Stockung oder Einstellung der Produktion, die Herabdrückung der Löhne und die Entlassung der Arbeiter. Dieser Prozeß vollzog sich in vielen Industrien sogar in den sogenannten guten Zeiten fortwährend; aber eine Krise trat nur dann ein, wenn er sehr umfangreiche Gebiete des Wirtschaftslebens ergriff. Die Märkte waren dann mit Waren überschwemmt, von denen niemand über Bedarf kaufen wollte, mochten sie auch noch so billig sein. Da die Löhne und Profite der Produzenten jener überflüssigen Waren sanken oder ganz aufhörten, so versiegte für sie die Möglichkeit, andere Waren zu kaufen und zu verbrauchen. Als Folge davon trat eine Überflutung des Marktes auch mit solchen Gütern ein, an denen keine Überproduktion stattgefunden hatte. Das Ende vom Liede war hier ebenfalls das Fallen der Preise, Arbeits- und Brotlosigkeit für die in Betracht kommenden Erwerbstätigen. Waren die Dinge so weit gediehen, so kam die Krise erst recht ordentlich in Gang; nichts vermochte ihrem Wüten Einhalt zu tun, bis der Reichtum einer Nation gründliche Einbuße erlitten hatte.

In Ihrer Wirtschaftsordnung lag noch eine andere Ursache fest verankert, die häufig Krisen herbeiführte und stets sehr verschlimmerte. Ich meine Ihr Geld- und Kreditwesen. Solange die Gütererzeugung vielen Privatleuten überlassen blieb und die Bedürfnisse der einzelnen nur durch Kauf und Verkauf befriedigt werden konnten, war auch das Geld unumgänglich[190] notwendig. Gegen den Gebrauch des Geldes konnte offenbar eingewendet werden, daß es für Nahrungsmittel, Kleider und andere Gebrauchsgegenstände einen Stellvertreter setzte, dessen Wert lediglich auf Übereinkommen beruhte.5 Dadurch ward eine Begriffsverwirrung zwischen den Gegenständen und ihrem bloßen Stellvertreter begünstigt, die zu Ihrem Kreditwesen und seinem ungeheuren Truge führten. Einmal daran gewöhnt, Geld für Waren anzunehmen, nahm man dann Versprechungen für Geld an und hörte ganz auf, hinter dem Stellvertreter den vertretenen Gegenstand zu suchen. Geld war ein Zeichen für wirkliche Waren, der Kredit war aber bloß ein Zeichen für ein Zeichen. Für Gold und Silber, das heißt für das wirkliche Geld, gab es eine natürliche Grenze, für den Kredit dagegen nicht. Die Folge davon war, daß der Kredit einen Umfang annahm, der nicht mehr in irgendeinem bestimmt festzustellenden Verhältnis zum wirklich vorhandenen Geld stand, geschweige denn zu den vorhandenen Waren. Unter einer solchen Wirtschaftsordnung mußten häufige, periodisch wiederkehrende Krisen mit derselben Naturnotwendigkeit eintreten, mit der ein Gebäude zusammenstürzt, dessen Schwerpunkt außerhalb seiner Unterstützungsfläche liegt. Zwar bildete man sich ein, daß nur die Regierungen und die von ihnen ermächtigten Banken Geld emittierten, in Wirklichkeit aber ward dies von jedermann emittiert, der auch nur für einen Dollar Kredit gewährte. Trug er doch dadurch dazu bei, die Geld- und Warenzirkulation künstlich zu steigern, bis die nächste Krise hereinbrach. Die gewaltige Ausdehnung des Kreditverkehrs bildet ein Merkmal der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts und erklärt zu einem guten Teil die fast unaufhörlichen Krisen jener Zeit. So gefährlich auch der Kredit war, so konnten Sie ihn doch nicht entbehren. Da für das Kapital Ihres Landes keine nationale oder sonstige öffentliche Organisation existierte, so blieb er Ihr einziges Mittel, Kapital zu konzentrieren und zu den wirtschaftlichen Unternehmungen heranzuziehen. Auf diese Weise steigerte[191] er ganz gewaltig die Hauptgefahr, die mit der kapitalistischen Produktionsordnung verbunden war: er ermöglichte den einzelnen Industriebetrieben, unverhältnismäßig große Summen des verfügbaren Kapitals im ganzen Lande aufzusaugen, und bereitete dadurch einen Zusammenbruch vor. Infolge des üblichen Kredits legten die Unternehmer in ihren Geschäften stets sehr viel fremdes Geld an, das sie voneinander, von Banken und einzelnen Kapitalisten entlehnten. Da man beim ersten Anzeichen einer Krise den Kredit schnell zurückzuziehen pflegte, so kam diese dadurch gewöhnlich nur um so schneller zum Ausbruch.

Es war das Verhängnis Ihrer Zeitgenossen, daß sie den Bau ihres Wirtschaftslebens mit einem Mörtel zusammenfügten, den ein Zufall jeden Augenblick in einen Sprengstoff verwandeln konnte. Sie befanden sich in der Lage eines Mannes, der ein Haus mit Dynamit baut, denn nur damit läßt sich der Kredit vergleichen.

Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, wie unnötig die Erschütterungen des Wirtschaftslebens durch Krisen waren, und daß diese einzig und allein von der zersplitterten, ungeregelten kapitalistischen Produktion in den Händen einzelner Unternehmer erzeugt wurden, so stellen Sie ihr unsere Ordnung und ihren Gang gegenüber. Eine Überproduktion in einzelnen Industriezweigen, das furchtbare Schreckgespenst ihrer Zeit, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Durch die Regelung der Verteilung und der Produktion richtet sich das Angebot so genau nach der Nachfrage wie der Gang der Maschine nach dem Regulator. Aber nehmen wir sogar an, daß ein Irrtum in der Vorberechnung eine zu starke Produktion von irgendeinem Gute bewirkt hätte. Niemand verliert sein Brot, wenn in der Folge davon die Herstellung dieses Gegenstandes eingeschränkt oder auch ganz eingestellt wird. Die betreffenden Arbeiter finden sofort in anderen Abteilungen der ungeheuren nationalen Produktionswerkstatt Beschäftigung, und sie verlieren nur die Zeit, die der Übergang zu dem neuen Gewerbe erfordert. Was schadet bei uns Überfüllung des Marktes? Unser Wirtschaftsleben ist kräftig genug, daß die Nation jede Menge eines über den Bedarf hinaus erzeugten Artikels so lange auf Lager behalten kann, bis die Nachfrage das Angebot eingeholt hat. In dem angenommenen Falle der Überproduktion gerät bei uns nicht wie bei[192] Ihnen eine ganze komplizierte Maschinerie in Unordnung, so daß der erste Fehler noch tausendmal vergrößert wird. Da wir kein Geld haben, so gibt es bei uns natürlich erst recht keinen Kredit. Alle unsere Berechnungen beziehen sich unmittelbar auf wirklich vorhandene Dinge: auf Mehl, Eisen, Holz, Wolle und Arbeit zum Beispiel, an deren Stelle bei Ihnen Geld und Kredit in so irreführender Weise traten. Bei unseren Kostenanschlägen können keine Fehler unterlaufen. Was für den Unterhalt des Volkes notwendig ist, das wird aus dem jährlichen Produktionsergebnis entnommen; es werden die Arbeiten angeordnet, die für die Deckung des Bedarfs im nächsten Jahre erforderlich sind. Der Überschuß an Arbeit und Material kann getrost zu Verbesserungen verwendet werden. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, so ist der Überschuß dieses Jahres ein geringerer als gewöhnlich, und das ist alles. Abgesehen von den gelegentlichen geringfügigen Wirkungen natürlicher Ursachen, wie Mißwachs, gibt es bei uns keine Schwankungen im Wirtschaftsleben. Der materielle Wohlstand der Nation fließt ununterbrochen, unaufhaltsam von Geschlecht zu Geschlecht, ein sich stetig erweiternder und vertiefender Strom.

Wie jeder andere der von mir bereits berührten Wesenszüge Ihrer Ordnung, Herr West«, fuhr der Doktor fort, »so bedeuteten auch die Krisen für sich allein schon eine so riesenhafte Verschwendung des nationalen, Reichtums, daß Ihre Zeitgenossen dauernd in Armut leben mußten. Doch habe ich als Ursache dafür noch einen weiteren Umstand zu erwähnen: das Brachliegen eines großen Teils Ihres Kapitals und Ihrer Arbeitskraft. Unsere Verwaltung hat die Aufgabe, auch dem winzigsten Teil Kapital oder Arbeitskraft im Lande eine beständige Verwendung zu sichern. In Ihren Tagen waren weder das Kapital noch die Arbeit einer einheitlichen Leitung unterstellt, deshalb blieb ein beträchtlicher Bruchteil des einen wie der anderen unbeschäftigt. ›Das Kapital ist von Natur furchtsam‹, so pflegten Sie zu sagen. Und gewiß, es wäre leichtsinnig gewesen, hätte es sich nicht in einer Zeit furchtsam gezeigt, in der die Aussicht auf den Mißerfolg jedes geschäftlichen Unternehmens größer war als die Möglichkeit des Gelingens. Wenn nur die nötige[193] Sicherheit vorhanden gewesen wäre, so hätte das in der industriellen Produktion angelegte Kapital jederzeit bedeutend vergrößert werden können. So aber war die in der Industrie angelegte Menge von Kapital beständig außerordentlichen Schwankungen unterworfen, je nachdem die Geschäftslage für mehr oder minder sicher galt. Das Ergebnis der Landesproduktion war denn auch in den einzelnen Jahren außerordentlich verschieden. Der nämliche Grund, der in Zeiten besonders großer Unsicherheit weit weniger Kapital anlegen ließ als in Zeiten etwas größerer Sicherheit, bewirkte aber überdies, daß sehr beträchtliche Kapitalien überhaupt stets unbeschäftigt blieben. Sogar in den besten Zeiten war eben das Risiko sehr groß. Auch noch eine andere Folge der aufgezeigten Verhältnisse machte sich geltend. Eine große Menge von Kapital stürzte sich stets dorthin im Wirtschaftsleben, wo einigermaßen sicherer Gewinn zu winken schien. Natürlich ward an solchen Stellen der Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Kapitalisten beträchtlich bitterer und furchtbarer. Das Brachliegen des furchtsamen Kapitals zog selbstverständlich ein Brachliegen von Arbeitskraft in entsprechendem Umfang nach sich. Weiterhin machten jede Veränderung des Produktionsbetriebs, jede leiseste Schwankung, jeder geringfügigste Umschwung in der Lage von Industrie und Handel beständig eine große Menge Menschen auf Wochen, Monate, ja Jahre hinaus brotlos. Von den fast unzähligen Bankrotten nicht zu reden, die auch in den besten Zeiten alljährlich stattfanden. Eine große Anzahl Arbeitsloser durchzog fortwährend das Land, Beschäftigung suchend. Die Brotlosen, Heimatlosen verwandelten sich mit der Zeit in Vagabunden, dann vielleicht in Verbrecher. ›Gebt uns Arbeit!‹ so tönte fast jederzeit der Schrei einer wahren Armee Arbeitsloser. In Perioden geschäftlichen Niedergangs schwoll ihre Menge zu einem gewaltigen und verzweifelten Heerhaufen an, der die Regierung selbst bedrohte. Herr West, Sie behaupteten, daß die kapitalistische Produktionsordnung ein wirksames Mittel war, die Nation reich zu machen. Betrachten wir sie unter diesem Gesichtswinkel. Kann es da einen schlagenderen Beweis für ihren Widersinn geben als die angeführte Tatsache? In einer Zeit allgemeiner Armut, allgemeinen Mangels mußten die Kapitalisten einander abwürgen, um nur Gelegenheit für eine sichere Anlage ihres Kapitals zu[194] finden, und die Arbeiter revoltierten, wurden Brandstifter, weil sie keine Beschäftigung finden konnten.

Bei allem, Herr West«, fuhr der Doktor fort, »dürfen Sie nicht vergessen, daß die von mir erwähnten Umstände nur in negativer Weise die Vorteile einer nationalen Arbeitsorganisation erkennen lassen. Sie beleuchten die unglaubliche Unvernunft der kapitalistischen Produktionsweise und legen gewisse verhängnisvolle Mängel bloß, von denen unsere Ordnung auch keine Spur zeigt. Sie müssen wohl zugeben, daß dies allein schon zur Genüge erklären würde, warum die Nation jetzt so viel reicher ist als zu Ihrer Zeit. Aber die größere, die positive Hälfte der Vorteile, die wir vor Ihnen voraus haben, konnte ich bisher kaum streifen. Angenommen, die kapitalistische Produktionsweise wäre mit keinem der erörterten schweren Mängel behaftet gewesen. Es hätte keine Vergeudung des nationalen Reichtums gegeben infolge verfehlter Unternehmungen, die ihren Grund in der falschen Schätzung der Marktverhältnisse hatten, in der Unmöglichkeit, einen Überblick über das gesamte Produktionsgebiet zu gewinnen; keinen Konkurrenzkampf, der die Kräfte zugleich lähmte und nutzlos zur höchsten Anspannung aufpeitschte; keine Verschwendung durch Krisen, Bankrotte und lange Geschäftsstockungen; keine durch das Brachliegen von Kapital und Arbeitskraft. Angenommen, alle diese Übelstände, die im Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung selbst wurzelten und unlöslich mit ihr verbunden waren, hätten plötzlich durch ein Wunder beseitigt werden können, während man die kapitalistische Produktionsweise fortbestehen ließ. Auch in diesem Falle würde der reiche Ertrag erweisen, daß unsere Wirtschaftsordnung mit ihrer Zusammenfassung und Organisierung aller nationalen Kräfte der kapitalistischen gewaltig überlegen ist.

Es gab zu Ihrer Zeit viele große Textilbetriebe, die sich allerdings ihrem Umfang nach durchaus nicht mit den unseren messen konnten. Gewiß haben Sie die eine oder andere dieser großen Fabrikanlagen besucht, die ganze Acker Land bedeckten, Tausende beschäftigten und unter einem Dache, einer Leitung alle die hundert verschiedenen Prozesse vereinigten, die zum Beispiel einen Ballen Baumwolle in einen Ballen Kattun verwandeln. Sie haben sicher die gewaltige Ersparnis an Menschen- und[195] Maschinenkraft bewundert, die dort durch das mustergültige, bis ins kleinste durchgeführte Ineinandergreifen und Zusammenwirken aller Räder und aller Hände erzielt wird. Ohne Zweifel haben Sie daran gedacht, um wie viel die nämliche Anzahl Menschen weniger leisten würde, wenn sie zersplittert wäre und jeder einzelne für sich allein arbeitete. Würden Sie wohl die Behauptung für eine Übertreibung halten, daß der größtmögliche Arbeitsertrag solcher einzeln schaffender Leute nicht nur um einen bestimmten Bruchteil, sondern um das Vielfache durch eine einheitlich geregelte und geleitete Organisation erhöht wird, wie sie der Fabrikbetrieb darstellt? Nun aber, Herr West, besteht bei uns eine einheitlich und planmäßig geleitete Organisation der gesamten nationalen Arbeit, eine Organisation, bei der alle Räder ineinandergreifen. Muß sich da nicht der Gesamtertrag der Arbeit in dem Maße über die höchste Ergiebigkeit der kapitalistischen Produktion erheben, wie das Zusammenwirken im Textilbetrieb den Arbeitsertrag jedes einzelnen Arbeiters steigerte? Ein anderer Vergleich. Unter der tausendköpfigen Leitung des Privatkapitals – sogar dann, wenn sich die einzelnen Kapitalisten gegenseitig nicht bekämpfen – verhält sich die Produktivität der nationalen Arbeitskraft zu der Produktivität unter einheitlicher Organisation genau so, wie sich die kriegerische Leistungsfähigkeit eines Volkshaufens oder einer Horde von Wilden unter Hunderten von Häuptlingen zu derjenigen eines wohlgeschulten Heeres verhält, das von einem einzigen General geführt wird – ich denke zum Beispiel an solch eine furchtbare Kriegsmaschine, wie die deutsche Armee sie unter Moltke darstellte.«

»Nach allem, was Sie mir auseinandergesetzt haben«, sagte ich, »wundere ich mich nicht darüber, daß die Nation jetzt reicher als vormals ist. Ich könnte höchstens erstaunt sein, daß nicht alle Ihre Zeitgenossen Krösusse sind.«

»Oh, es geht uns recht gut«, erwiderte Doktor Leete. »Wir können so luxuriös leben, wie wir nur wollen. Das Drängen, es in äußerem Prunk einander zuvorzutun, führte in Ihren Tagen zu einem Aufwand, der keineswegs zur größeren Annehmlichkeit des Lebens beitrug. Der Anreiz dazu ist natürlich aus einer Gesellschaft verschwunden, deren Glieder alle ein[196] gleich großes Einkommen haben. Unser Begehren gilt nur Dingen, die das Leben wirklich angenehmer machen und verschönern. Jeder einzelne von uns könnte in der Tat ein weit größeres Einkommen haben, als er jetzt bezieht, wenn wir den Überschuß des Produktionsertrags aufbrauchen wollten. Wir ziehen es jedoch vor, ihn auf öffentliche Werke und Veranstaltungen zu verwenden, die allen zugute kommen, und die alle genießen können. Wir errichten davon öffentliche Gebäude, Kunstgalerien, Brücken und Monumente, wir bauen Verkehrswege, verschönern die Städte, veranstalten große theatralische und musikalische Aufführungen und sorgen sonst noch in ausgedehntem Maße für Erholung und Unterhaltung des Volkes. Sie haben noch gar nicht gesehen, wie wir leben, Herr West. Unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit finden wir zu Hause, den Glanz des Daseins dagegen, an dem alle gleichen Anteil haben, den suchen wir in unserem öffentlichen, in unserem geselligen Leben. Wenn Sie erst das näher kennengelernt haben, so werden Sie begreifen, ›wo das Geld bleibt‹, wie man zu Ihrer Zeit zu sagen pflegte, und ich denke, Sie werden dann zugeben, daß wir unseren Reichtum richtig verwenden.«

Als wir von der Speisehalle heimwärts schlenderten, bemerkte Doktor Leete: »Gewiß würde kein Tadel Ihre Zeitgenossen empfindlicher getroffen haben als die Behauptung, daß sie nicht verstanden hätten, wie man Reichtum, Geld schafft, denn Ihr Jahrhundert betete das Geld an. Und doch ist es gerade dieses Urteil, das die Geschichte über sie gefällt hat. Ihre Gesellschaft unorganisierter, einander bekämpfender Wirtschaftsbetriebe war ökonomisch ebenso unsinnig wie moralisch abscheulich. Selbstsucht war ihre einzige Kunst, und im Wirtschaftsleben ist Selbstsucht Selbstmord. Konkurrenz, vom Instinkt der Selbstsucht beherrscht, ist gleichbedeutend mit Kraftzersplitterung. In der Zusammenfassung und Vereinigung aller Kräfte liegt das ganze Geheimnis eines reich ergiebigen Wirtschaftslebens. Erst wenn der Wunsch auf Vergrößerung des eigenen Vermögens dem Wunsche auf Vermehrung des Allgemeinbesitzes gewichen ist, erst dann ist auf wirtschaftlichem Gebiet ein Zusammenfassen und Zusammenwirken aller Kräfte zu einem Ziele möglich; erst dann geht die Gesellschaft daran, tatsächlich Reichtum zu schaffen. Selbst wenn das[197] Prinzip der Gleichstellung aller nicht die einzig menschenwürdige und vernünftige Grundlage jeder Gesellschaft wäre, würden wir aus wirtschaftlichen Gründen an unserer Ordnung der Dinge festhalten. Ein harmonisches Zusammenwirken aller Kräfte in der Produktion ist nicht möglich, solange nicht der zersetzende Einfluß der Selbstsucht unterdrückt worden ist.«

5

Dieser Irrtum – wie mancher andere noch – findet seine Erklärung dadurch, daß Bellamy einen utopischen Roman schreibt und kein Nationalökonom ist, auch kein wissenschaftlich durchgebildeter Sozialist. (Anmerkung von Clara Zetkin.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 182-198.
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