10.

[381] Ich glaube kaum, daß der Vorzug, den ich dem bessern, nach Anlage der Werke der Natur geordneten Roman gegeben habe, Partheylichkeit oder Vorurtheil heißen könne, wenn man sich die Mühe giebt, über alles das zurück zu denken, was hier von seinem Werth gesagt worden ist.

Ich verlange nicht, durch mein Urtheil, einige sehr berühmte und angenehme Werke der historischen Gattung, wie z.B. die Richardsonschen Romane, herunter zu setzen. Diese Romane sind mir besonders seit der Zeit werther als vorher, daß ich in den Gellertschen Vorlesungen die 258te Seite gelesen. Daß ich aber ein Werk, wie den Agathon z. B fürs bessere ausgebe, weil ich, wenn ich es als Roman und überhaupt als ein dichterisches Produkt betrachte, mit meiner ganzen Ueberzeugung es für besser erkenne, das glaub' ich sagen zu konnen, ohn' alle Umschweife.

Und warum sollt ich nicht? – Wenn mehr Leute, wie ich, den Agathon für ein sehr vortrefliches Werk erkennen, warum könnte vielleicht die Entwickelung seiner Einrichtung nicht Anlaß zu[381] Entstehung mehrer solcher und ähnlicher Werke geben? Man versteht mich schon, was ich unter ähnlichen Werken meine: solche, deren innre Einrichtung und Begebenheiten auf die Art nur geordnet sind, wie die im Agathon. Aehnlichen Innhalt rath' ich nur deßwegen nicht, weil zu viel Gefahr bey der Vergleichung seyn dürfte.

Die Sachen hat der Romanendichter ja in Händen, aus welchen er solch ein Werk aufbauen kann; Personen und Begebenheiten. Er glaube nicht, daß er zum Nachahmer, oder eigentlich zu dem Geschöpf werde, das Horaz ein servum pecus nennt, wenn er, in diesem Stück der Anordnung seines Werks, einem andern folgt. Denn dieser so wohl, als er, sind beyde hier nichts, als Nachahmer der Natur. In den wesentlichen, aus der Natur der Sache fließenden, und mit der wirklichen, von ihm nachgeahmten Welt, übereinstimmenden Stücken, müssen alle gute Dichter einander gleich seyn. Der Unterschied besteht bloß in der äußern Gestalt und Form, in den Zierrathen, und dem Putz, in welcher die Sache erscheint. Das si je fais – ma façon kann also nur hievon gelten. Und wer wird dem Dichter darinn Gesetze vorschreiben können? wenn er mit seinen Mitteln diejenigen Absichten verbindet, die sich aus der Natur dieser Mittel ergeben, wenn[382] er nicht bloß dichtet, um zu dichten, sondern mit seinen Arbeiten diejenigen Zwecke verbindet, ohne welche diese Arbeiten unnütze Zeitvertreibe sind; wenn er, bey Abfassung seiner Werke, sich nicht mit dem, sehr vom Ohngefehr abhängenden, Troste beruhigt, daß er doch wohl irgend einem Menschen nützlich werden könne, sondern wenn er sie so einrichtet, daß sie den, aus ihrer Natur und Gattung, herfließenden Vortheil, zu unserm Nuzzen und Vergnügen, gewähren: so hängt es sehr von seiner Willkühr ab, uns mit einem Agathon, oder Tristram, mit einem Helden, oder mit seinem Waffenträger zu unterhalten; es hängt sehr von ihm ab, Sternens oder Fieldings oder Goldsmits Laune anzunehmen, (wenn sich nur nicht zwischen ihr, und seinen Gegenständen ein beleidigender Kontrast findet.) Ich nenne die übrigen Veränderungen nicht, die aus dem Genie des Dichters, und seiner verschiedenen Absicht entspringen können, weil sie sich von selbst ergeben. Nur muß er ja dies Aeußere nicht fürs Wichtigste, fürs Nothwendigste, fürs Einzige bey der Sache ansehen (wie wir Beyspiele in Theorien haben) – sondern sich erinnern, daß auch im wirklichen Leben, wenn man nicht ein Hofman, oder ein Geck, oder ein junger Herr, oder ein Kind ist, das Kleid nie das Wesentlichste am Manne ausmacht. – Er gebe uns[383] also nur innre Geschichte; das andre hängt von seiner Willkühr ab! –

Man fürchte übrigens nicht, daß wir je, auch unter sehr guten Erziehungsanstalten, zu viel von denen Leuten erhalten werden oder können, bey welchen das Kleid nicht das Wesentlichste ist; Oder – weil die fortgesetzte Allegorie leicht bitter oder zweydeutig werden könnte – man fürchte nicht, daß die kommenden Romanendichter einen Mißbrauch von den hier angepriesenen und entwickelten Grundsätzen machen, und uns mit Werken dieser Art überschwemmen werden. Der Werke selbst könnten wir wohl so bald nicht zu viel erhalten; aber es gehört so viel Kenntniß des innern und äußern Menschen dazu; es bedarf so vieler Zeit, solch ein Werk zu Stande zu bringen, daß wir uns von unsern geschwinden Romanendichtern keinen Ueberfluß solcher Werke vermuthen dürfen. Und Mißbrauch im andern Sinn, das heißt unrichtige Anwendung der gefundenen Bemerkungen würde eben nicht schädlich werden können. Mißgeburt gegen Mißgeburt – denn zur Welt wird deren doch kommen – kann die noch immer am mindsten scheußlich aussehen, die nicht aus ganz ungesunder Nahrung entsprungen ist.

Auch nicht Einförmigkeit ist in unsern Romanen dadurch zu besorgen. Der Veränderungen[384] die aus dem verschiedenen Genie der Dichter, in der äußern Einrichtung des Werks entstehen können ist schon gedacht. Und in der Materie selbst kann sich eben so viel Verschiedenheit finden. Zuerst, in Ansehung des Aeußern!

Nicht allein so mannichfaltig, durch die Abwechselung der Begebenheiten, als die gewöhnlichen historischen Romane, sondern noch mannichfaltiger kann der bessere Roman werden. Die innere Geschichte verschiedener Menschen erfodert verschiedene Begebenheiten; und gewiß können und müssen sie abwechselnder seyn, als die Folgen einer Liebesintrige. Und wenn diese Verschiedenheit der Begebenheiten selbst nicht statt fände, wenn ein gewisses Einerley in ihnen herrschen müßte: so würden diese Begebenheiten durch ihren verschiedenen Beytrag zum Ganzen, durch ihre Einwirkung auf die verschiedenen Charaktere, eine Verschiedenheit erhalten, vermöge welcher uns eine und dieselbe Begebenheit unter hundertfacher Gestalt erscheinen könnte. Wie mannichfaltig, wie verschieden würde z.B. nicht die Liebe, nach Maaßgabe der verschiedenen Wirkung, die sie in verschiedenen Menschen hervorbringt, auftreten müssen? – Dem bessern Romanendichter stehen die Begebenheiten und Vorfälle des gewöhnlichen Romans frey, (wenn es nämlich nicht jene seltsame Abentheuer,[385] jene unnatürliche Vorfalle sind); er macht aber einen andern Gebrauch von den guten. Sie sind für ihn nichts, als Mittel, so wie sie für jenen Endzweck sind. Und wenn er natürlich jene Abentheuer aufgiebt: so verliert zuerst der Leser nichts dabey, und dann bietet dem Dichter die Natur so viel andre zu seinen Zwecken dar, daß er gewiß reicher ist, als der gewöhnliche Romanschreiber.

Und wenn die Begebenheiten, die äußre Geschichte so ist, daß sie sich nicht mit einer Art von Täuschung für wahr annehmen läßt; wenn sie auch, um mich mit verdienstvollen Kunstrichtern auszudrücken (S.N. Bibl. der sch. Wissensch.) einen Schein von Allegorie, von Erdichtung hat, – wenn nur die Charaktere, und ihre innre Geschichte nach der Natur geschildert, nur die Handlungen und Sitten, Handlungen und Sitten wahrer Menschen sind, – und ich setze hinzu, wenn er mit diesem Aeußern nur nicht, wie gedacht, ins Unnatürliche und Uebertriebene fällt: – so kann dieser romantische Anstrich so gar das Vergnügen des Lesers erhöhen. Da aber freylich nicht jede Imagination die Imagination des H. Wielands ist, um uns jene Schätze, jene Bezauberungen zu verschaffen, die auch im Agathon uns so sehr entzücken: so will ich, dieser Ursache wegen, auch hierinn die z wirkliche Welt lieber empfehlen.[386]

In Ansehung seines innern Innhalts hat der bessere Roman eben so wenig Einförmigkeit, als in Ansehung seines Aeußern. Der Punkt, von welchem der Dichter ausgehen, und wohin er seinen Helden führen will, hängt ganz von ihm ab. Die Einschränkungen wenigstens, die er über das Letztere, in der Folge dieses Versuchs, noch finden wird, lassen ihm immer noch tausendfältige Freyheit. Er kann den Held in der Wiege aufnehmen, (oder auch, wie Tristram sich an fängt, vor der Geburt schon) – und ihn, anschauend, vor uns ausbilden und werden; oder eine Person in gewissen schon fertigen Jahren wählen, und ihr die vorgesetzte, zweckmäßige Gestalt durch ihre verschiedenen Begebenheiten, vor unsern Augen, annehmen lassen. Er gebe uns nur innre Geschichte; er gebrauche nur das, was er braucht, nach seiner Natur; er verkenne nur seine Materialien nicht, und verwechsele Endzweck und Mittel mit einander! –


Der Freyheit, die er in der Wahl seiner Charaktere hat, hab' ich schon gedacht. Es wäre ganz französische Grille, hier Personen von gewisser Gattung auszuschließen, weil sie nicht in den Zirkel der gens du bon ton, der Leute von so genannter seiner Lebensart gehören.[387] Diderot18 nennt dies im Drama eine lächerliche Ehrerbietung; und im Roman kann es gewiß nicht anders heißen. Wenn uns der Dichter nicht mit dem low life der Engländer unterhalten darf: so kann doch der deutsche Landjunker so gut, wie der Hofmann, der balsamirte, Zuckersüße Petitmaitre so gut wie Sebaldus Nothanker, der Innhalt des Werks werden. Auch die Damen aller Art stehen ihm zu Gebot. Jeder Mensch hat seine innre Geschichte. –

Vorzüglich kann der Dichter uns bey dieser Behandlung des Romans, mit einheimischen Sitten unterhalten. Um das Innre irgend eines Menschen wahrhaft zu behandeln. Ursach und Wirkung immer in genauer Verbindung zu zeigen, muß man die äußern Umstände, die auf dies Innre zurück wirken können, und immer darauf wirken, in die genaueste Erwägung ziehen. Wer es uns aufklären, wer uns die innre Gestalt irgend eines Menschen anschauend darlegen will, muß alle die äußern Umstände genau kennen, die auf seine Ausbildung Einfluß haben, und gehabt haben. Dieser Einfluß ist sehr gewiß. Wer vermag ihn aber bey[388] Ausländern zu übersehen? – Und eben dadurch könnte dann der Dichter für die Nation höchst lehrreich werden, wenn er ihr zeigte, wie mit ihren Anstalten und Einrichtungen, mit ihren Vorurtheilen und Erziehungsplanen, aus dem jungen Deutschen nichts anders werden kann, als ein Geschöpf, das sich in andern oft selbst verachtet. Wir schreyen alle wider Nachahmungssucht; wir klagen alle über den Mangel von Originalität, und keiner zeigt, wie wir, vielleicht ohne daß wir selbst es wissen, das werden, was wir alle nicht gern seyn wollen, und vielleicht alle, mehr oder weniger, sind. Und wenn wir es durch Umstände würden, die nicht vom bloßen Menschen allein abhangen, warum sollte der Dichter nicht auch diese Umstände in einem Lichte zeigen können, das weder zu verhaßt, noch zu hell schiene? – Mit der vorgeschlagenen Behandlung der Begebenheiten, mit der Freiheit, den kleinsten unbedeutendsten Vorfall dar inn nützen und anziehend machen zu können, darf der Dichter ja nicht fürchten, daß diese kleinen Umstände dem Leser langweilig, oder seine Personen ununterhaltend dünken werden. Die Klage, daß deutsche Originale Ekel oder Schlaf erwecken, wird durch diese Behandlung – wenn der Dichter sonst seine Kunst versteht; und was gehn uns andre an? – unmöglich gemacht. – Eigentlich gilt diese Klage[389] auch nur vom Drama. Das Schauspiel kann uns, nach der Natur seiner Gattung, nichts, als schon fertige und gebildete Charaktere zeigen, die der Dichter, zur Hervorbringung eines Vorfalls oder einer Begebenheit unter einander verbindet. Zum Wirklichwerden einer Begebenheit wird dies erfodert; und dies Wirklichwerden ist der Zweck des Drama. – Hierinn liegt auch der eigentliche Unterschied zwischen Drama und Roman. So wie jenes die Personen braucht, damit eine Begebenheit ihr Daseyn erhalte, weil, wenn wir Shakespears historische Schauspiele ausnehmen, nur eine Begebenheit der eigentliche Innhalt desselben ist, eben so hat der Roman mehrere und besondere Begebenheit, die sich in einem größern Umfange von Zeit zutragen, mit einander zu verbinden; und diese Verbindung kann nun nicht anders, als natürlich durch die Formung und Ausbildung, oder innre Geschichte eines Charakters erhalten werden. Der dramatische Dichter hat nicht Zeit, noch Raum, uns auf diese Art zu unterhalten. Obgleich bey ihm das innre und äußre Senn seiner handelnden Personen so genau mit einander verbunden ist, als es im Roman nur immer seyn kann – ich habe Beispiele davon angeführt – obgleich diese Verbindung in ihm, sich so gut zeigen und sichtbar seyn muß, als im Romanendichter, wenn er etwas mehr[390] seyn will, als ein gewöhnlicher Werkmeister: so kann doch, wegen der Kürze der Zeit, und der Schnelligkeit der Handlung, dieser, durch die Begebenheiten im Charakter gemachte Eindruck, diese, als Wirkung der Begebenheiten erfolgte Formung, nicht anschauend sichtbar werden. Daher ist denn auch im Drama die Umschmelzung eines Charakters, das, was man durch Sinnesänderung ausdrückt, ein so gröblicher Verstoß wider Wahrheit und Natur, weil der dramatische Dichter nicht Zeit und Raum hat, diese Umformung zu bewirken. Dem Romanendichter aber ist die Veränderung des innern Zustandes seiner Personen eigenthümlich. Die innre Geschichte des Menschen, die er behandelt, besteht aus einer Folge abwechselnder und verschiedener Zustände. Freylich aber muß diese Veränderung nicht, wie schon gedacht, ohne hinlängliche, auf die Person wirkende Ursachen, und in einer Zeit wirklich werden, deren Umwahrscheinlichkeit wegen man sie dem dramatischen Dichter verbietet. – Der Romanendichter, der die Eigenthümlichkeiten seines Produkts nicht kennen oder nutzen, und da ihm die Behandlung vieler und mancherley Begebenheiten, ohne sie durch die Ausbildung und innre Geschichte eines Charakters unter einander zu verbinden versagt ist, sich auf die Behandlung einer einzeln wichtigen Begebenheit einschränken[391] wollte, würde dadurch sich freywillig der Vorzüge und Eigenthümlichkeiten seines Werks begeben, und sich zugleich der Gefahr, mit dem dramatischen Dichter verglichen zu werden, bloßstellen. Ich sage mit Recht, Gefahr. Denn bey ganz ähnlichem Innhalt und Endzwecken, und bey gleich vollkommener Behandlung des Gegenstandes, würde der Romanendichter sehr augenscheinlich verlieren. Die Illusion, die das Drama durch die vermeinte Gegenwart der Personen und seine ganze Einrichtung bewirkt, ist, verglichen mir der Illusion im Roman, so mächtig, so anziehend, daß man bey dieser sehr leicht einschlafen kann, wenn man nicht, durch die Eigenthümlichkeiten, und die übrigen Vorzüge des Romans, wach erhalten wird, die sich, in dem hier angenommenen Fall, nicht finden.

18

Un inconvenient trop commun, c'est que par une veneration ridicule pour certaines conditions, bientôt ce ne sont les feules dont on peigne les moeurs. T. 2. p. 260. (Edit. de Berl.)

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 381-392.
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