11.

[392] Wenn die Ausbildung und Formung, die ein Charakter durch seine mancherley Begegnisse erhalten kann, oder noch eigentlicher, seine innre Geschichte, das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans ist: so entsteht natürlich die Frage: bis zu welchem Punkte der Romanendichter den Charakter führen, wo er ihn stehn lassen könne, wenn der Leser beruhigt seyn solle?[392]

Es giebt Leute, die da behaupten, daß es gar nicht nöthig sey, den Leser zu einem beruhigenden Punkte zu bringen, sondern daß der Dichter das Recht habe, mitten im Lauf der Begebenheiten, aufzuhören. Man nennt so was täuschen; und glaubt dadurch dem Leser ein Vergnügen mehr gegeben; oder wenigstens Proben eines erfinderischen Genie's, in solcher Anordnung eines Werks, gezeigt zu haben. –

Home mag, an meiner statt, diese Leute widerlegen. In dem Kapitel von Würde und Niederträchtigkeit, heißt es: »jedes Werk, das Kunst und Erfindung zeigt, erregt unsre Neugierde nach zwey Umständen; zuerst, wie es gemacht ist, und hernach, zu welcher Absicht es gemacht ist. Unter diesen beyden Untersuchungen ist die letzte die wichtigste, weil allemal die Mittel der Absicht entsprechen müssen; und in der That wird unsre Neugierde von der Endursache weit mehr gereizt, als von der wirkenden Ursache. Dieser Vorzug, den jene vor dieser hat, fällt nirgends mehr in die Augen, als wenn wir die Werke der Natur betrachten. Wenn wir in der wirkenden Ursache Macht und Weisheit entdecken, so zeigt die Weisheit nicht weniger in der Endursache; und in dieser allein werden wir die Güte gewahr, die unter allen göttlichen Eigenschaften die wichtigste für den Menschen ist.«[393] Und an einer andern Stelle setzt er hinzu: »Die Methode, der Neugier des Lesers zu spotten – verhindert die Sympathie, die eine interessante Begebenheit wirkt, wenn man sie nicht untere bricht.«19

Es ist also der Vortheil des Dichters, seine Leser bis zu einem beruhigenden Punkte zu führen; und nichts weniger als ein Verdienst, ein Haufen Materialien zusammen zu führen, den Grund zum Hause zu legen, und dann es ohne Dach stehen lassen. Solch Haus fällt in den Grund, und Krähen und Raben nisten am Ende darinn. –

Und warum hätte der Dichter das, was er vorgehn und geschehen läßt, geschehen lassen, wenn es nicht zu einem gewissen Zweck, zu einer gewissen Absicht geschehen wäre? Wenn dieser Zweck, diese Absicht nun ein Nichts ist, wenn die ganze Reihe von Wirkungen und Ursachen nun mit einem mal abgeschnitten wird, ohne sich in einen Punkt zu vereinen: wie wird der Dichter von ihrer Anordnung, von der Ursache, warum sie vielmehr so, als anders verbunden sind, warum die Begebenheiten sich vielmehr so, als anders zugetragen haben, – wie wird er hiervon Rechenschaft geben können? Diese Rechenschaft ist er seinen besten Lesern schuldig;[394] und sie werden sie von ihm fodern. Ohne Vereinigung der verschiedenen einzeln Fäden eines Werks in ein Ende, ohne Verknüpfung ihrer in einen Knoten, läßt sich kein wahrhaftes Ganzes denken.

Die alte Erfindung, den Roman mit der Hochzeit zu enden, ist wirklich so ganz übel nicht. Dieser Punkt ist gewöhnlich der Ruhepunkt unsers äußern Lebens; und da nun diese Romane uns nur mit der äußern Geschichte ihrer Personen unterhalten: so hören sie natürlich hier am schicklichsten auf. An fernern Abentheuern würde es unsern Erfindern gewiß nicht fehlen, wenn sie nicht fühlten, daß die Reihe der Vorstellungen, die sie im Leser erregt haben, sich hier sehr gut enden könne, ohne daß unter den vorhergegangenen sich welche befinden, die die folgenden nothwendig machten.

Der bessere Romanendichter hat andre und muß andre Absichten mit seinen Personen haben, als die bloße Bestimmung ihres äußern Geschicks. Die Ausbildung, oder vielmehr die Geschichte ihrer Denkungs- und Empfindungskräfte ist sein Zweck. Diese in einem Zustande zu lassen, in welchem sie nichts stätes, nichts gesetztes haben, hieße so viel thun, als – Nichts. Denn warum etwas machen, das, weil es das nicht bleiben kann, was es ist, uns durch sein hin und her Schwanken nur in Unruhe setzen würde, und lieber ganz ungemacht, ganz[395] ganz ungethan hätte bleiben können? Der Punkt muß also stäte und fest seyn. –

Wenn wir den Roman bloß von der Seite ansehen, daß er nur die innre Geschichte einer Person enthält; so scheint er nicht das ganze Leben eines Menschen, von seiner Geburt, bis zu seinem Tode, umfassen zu dürfen. Es hat das Ansehn, als ob dies umsonst Dichten heißen könne, weil dies Etwas machen hieße, das wieder aufhörte zu seyn. Warum hätte der Dichter erst geschaffen, wenn er wieder untergehen lassen wollte? Warum hätte er sein Werk erst ins Seyn gerufen, wenn er es zum Nichtseyn wieder zurück fuhren wollte? Denn aus eben dem Keim, woraus die Vollkommenheiten des Menschen sich entwickeln, entwickelt sich auch ihre Vernichtung; oder vielmehr diese Vollkommenheiten, diese Eigenschaften des Menschen werden der Keim selbst, der die Vernichtung enthält. Und warum sie erst schaffen, wenn sie nur zu dem Gebrauch geschaffen sind? Was könnte dem Leser darüber Beruhigung geben? Die Genugthuung, die ihm hierüber die Natur gewährt, kann ihm der Dichter nicht verschaffen. In der Natur dauert alles fort; und aus dem, was sichtlich untergeht, entsteht etwas anders. Was aus dem Helden des Romans, wenn ihn der Dichter von der Wiege bis ins Grab geführt hätte, werden[396] würde, wüßten wir nicht, und könnten wir nicht wissen. Aber, daß aus dem Staube des Helden in der Natur etwas anders wird – und wäre es auch nur eine Staude, eine Blume – das sehen wir, davon sind wir überzeugt, und wissen, daß es nicht anders seyn kann. Und eigentlich geht von diesem Helden selbst gar nichts, vor unsern Augen unter. Der hier zerrissene Faden wird dort wieder angeknüpft; oder vielmehr der eigentliche, wahre Faden dauert ununterbrochen fort. Der Gedanke, die Vorstellung von einer Verwandlung in Nichts, ist für die Menschheit, in aller Art, der trostloseste, der schrecklichste aller Gedanken. Wir können ihn nicht aushalten, nicht ertragen. – Die gütige Vorsicht hat ihn uns unbegreiflich gemacht. –

Es scheint auch noch eine andre Ursache da zu seyn, warum der Dichter nicht bis zu diesem Punkt seinen Helden führen dürfe? Diese Ursache liegt vielleicht in den Gränzen seiner Kunst. Er würde uns nämlich nicht anschauend die Verbindung zeigen können, die sich zwischen diesem Ausgange aus dem Leben, zwischen diesem Ende seines Helden, als Wirkung, und zwischen den vorhergegangenen Zuständen desselben, als Ursach dieser Wirkung, findet. Die Verbindung liegt im Körper; und ist also außer seiner Macht. –[397]

Aber eben dadurch wird nun diese Veränderung des Zustandes eines Menschen, zu seiner äußern Geschichte gehören: und dann scheint dem Dichter auch diese Verwandlung erlaubt. Wenn nämlich der innre Zustand des Menschen ein solcher ist, daß er, auf keine Art, in dieser Welt mehr befestigt und stäte gemacht werden könne: so glaub' ich, daß der Dichter diesen äußern Zustand erfolgen lassen dürfe, weil nur dann dadurch der Leser befriedigt werden zu können scheint. Ich habe, unter dem Titel, Geschichte der Einbildung, einen Roman im Manuscripte gesehen, in welchem die innre Geschichte eines Menschen bis zu einem Punkte geführet war, wo die Person nicht stehen bleiben konnte, wenn nicht der Leser höchst unbefriedigt seyn sollte. Hier hatte der Dichter natürlich mit dem Tode schließen müssen. Doch was führ' ich unbekannte Beyspiele an? Wir haben eine Clarissa; und wenn gleich dieser Roman, besonders im Anfange nicht, Clarissens innre Geschichte enthält: so sehen wir doch in der Folge, und besonders gegen das Ende, sehr viel davon. Und diese innre Geschichte endigt sich mit Clarissens Tode. – Nur scheint es, daß in diesen Fällen der Dichter seine Personen in einem gewissen, schon fertigen Zustande aufnehmen, und von einem Zeitpunkte ihn anfangen müsse, wo, so zu sagen, die Grundlagen[398] schon, zu diesem Ausgange gelegt waren. Die Person muß schon geschaffen, muß schon da seyn; ihr Entstehn, ihr Werden muß sich nicht von ihm herschreiben, wenn er in diesem Falle sich nicht immer noch jenen Vorwurf, umsonst geschaffen zu haben, zuziehen will. –

Wenn aber diese Personen durch ihn geworden sind; wenn jene Veränderung des äußern Zustandes nicht statt finden darf, oder kann: so scheinen noch einige Bemerkungen nochwendig zu seyn. Der Dichter könnte alsdenn vielleicht seinen Helden auf einem Punkte stehen lassen, der, ob er gleich stäte und feste wäre, dennoch die Leser unbefriedigt und unberuhigt lassen könnte. Er könnte die Person nämlich zu einer höchst elenden Denkungs- und Empfindungsart geführt haben; und dies wäre dann so viel, als einen Haufen Materialien und Mittel zusammen schleppen, um ein Haus daraus zu bauen, das aus lauter Mängeln und Realitäten bestände, das unendlich mehr böse, als gut wäre. Und wer wollte gern solch ein Gebäude aufführen? wer gern dem großen Werkmeister der Natur so unähnlich werden? – Das Vergnügen, jemand glücklich zu sehen, und glücklich zu machen, hat zwar, selbst wenn man es auf Personen der Einbildung nur anwendet, so viel Reiz, daß dieser Fall nicht so leicht zu befürchten scheinet; aber dennoch ...[399] was geschieht nicht oft? – Allein es giebt auch Hütten, die gut und dauerhaft, nur in ihrer Art es sind, und diese – doch ohne Figur!

In der wirklichen Welt werden wir, durch alle Begebenheiten unsers Lebens, auf diese oder jene, aber immer auf die, für uns, für unser Seyn, für unsern ganzen Zustand aufs Beste passende Art ausgebildet. Wir, unser Charakter, unser eignes Selbst, ist am Ende, so schlimm wir selbst es auch oft angelegt haben, nach Maaßgabe aller Umstände, immer das Beste, das aus uns werden konnte. –

Der höchste Grad einer positiven Vollkommenheit braucht – und kann auch nicht der Punkt seyn, bis wohin der Dichter seinen Helden, um die Leser zu beruhigen, führen darf. Wenn der Leser nur nicht in ihm, geradezu den Schöpfer des Bösen erkennt; wenn er nur seine Personen in einen Zustand setzt, der, nach den, in seiner kleinen Welt befindlichen Umständen, und den Eigenschaften der Personen, der beste für sie ist. Hierdurch nur allein wird er der wahre, ächte Nachahmer des großen Alls, der er seyn will. Und hiermit verträgt sich die vorgedachte Veränderung des äußern Zustandes der Personen sehr gut. Denn bey der Lage ihres innern Zustandes, die dort angenommen worden, ist dann diese äußre Veränderung gerade das Beste für sie.[400]

Man kann hieraus sehr leicht folgern, daß, so wie in dem eben angeführten Fall, das Aeußre des Zustandes der Personen mit ihrem Innern, in so fern ganz zusammen, und übereinstimmte, so daß das eine für sie so gut das Beste war, als das andre, – diese Uebereinstimmung, als eine natürliche Folge der genauen Verbindung, worinn das Aeußre und das Innre des Menschen sich immer befindet, auch in allen übrigen Fallen nothwendig ist. Die äußre Situation, mit welcher das Werk sich endet, muß also auch für den Leser ein Punkt der Beruhigung seyn. –

Wenn das Innre des Menschen, die Geschichte seines Charakters, seines Seyns immer das Hauptaugenmerk des Dichters bleibet; – wenn der Weg zu dem Beruhigungspunkte, der hierinn für die Leser nöthig ist, oder eigentlicher zu jedem dieser besondern Punkte (denn ihrer können, wie vorhin gedacht, sehr viele seyn) vielleicht nur einer ist: so muß der Romanendichter also wohl vorher berechnen, damit er nicht Umwege nimmt, oder zu viel Wegs geht, um dahin zu kommen. Die Bildung und Formung der Person in diese, oder jene Gestalt, das Resultat ihrer innern Geschichte, muß durch solche Begebenheiten hervorgebracht werden, als

1) nöthig waren zu dieser Wirkung. Die Person muß gerade auf dem Punkte stehen, auf[401] welchem sie, nach Anlage der Umstände, und der Begebenheiten stehen kann.

2) Es müssen deren nicht mehr seyn, als nöthig waren. Der Eindruck der einen muß nicht durch den Eindruck der andern ganz vernichtet und überflüßig gemacht werden, so daß man der erstern hätte entbehren können.

3) Es müssen nicht widersprechende Begebenheiten seyn, vermöge welcher man glaubt, Eigenschaften in einer Person vereinigen zu können, die sich nicht mit einander vertragen. Mit einem Wort, es muß Uebereinstimmung, es muß Einheit im Charakter seyn. Das mehrere hierüber in der Folge!

19

Elements of Crit. Ch. 11.–9. (nach der ersten Auflage.)

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 392-402.
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