19.

[488] Wenn die Wahrheit, die Richtigkeit aller Vorstellungen erfodert wird, wofern der Dichter verlangt, uns auf eine rechtmäßige Art zu vergnügen, und durch dies Vergnügen zu unterrichten: so ist Einheit und Uebereinstimmung in all den verschiedenen Handlungen einer Person, nach Maaßgabe ihres Charakters, ein sehr nöthiges Erforderniß hierzu. Das, was bis jetzt von dieser Einheit und Uebereinstimmung gesagt worden ist, bezieht sich mehr auf die Zusammensetzung der verschiedenen Charaktere, auf die mehr oder mindere[488] Aneinanderpassung und Wahrheit der einzeln Eigenschaften, als auf die Aeußerung dieser verschiedenen Personen, in Handlungen. Von dieser ist nun hier die Rede!

So wie es ungereimt seyn würde, einen ganzen Charakter aus einer einzeln Eigenschaft zu machen (denn in der ganzen Natur findet sich nicht eine Eigenschaft, eine Leidenschaft allein, und keine Mischung ist mannichfaltiger, und anders, als sie, nach den Umständen, worinn der Mensch sich von je her befunden hat, und noch befindet, hat möglich werden können. Clima, Nahrungsmittel, Erziehung, Religion, Stand, Gesetzgebung und tausend größere und kleinere Umstände mehr kommen zusammen, den Men schen dazu zu bilden, was er ist) –

So wie sich die verschiedenen Eigenschaften, die der Dichter seinen Personen giebt, in einem Charakter müssen finden lassen, mit einander vertragen, und vereinigen können, so daß nicht eine gerade die andre ausschließt; – Ferner

So wie die, mit einander vereinten Eigenschaften, sich eine in die andre fügen, und nur nach den Abänderungen und Einschränkungen erscheinen können, die eine durch die andre erhält, und besonders nach denen, die sie durch die Haupteigenschaft der Person erhalten – (Ulyß ist[489] tapfer, Nestor ist tapfer, Achill ist tapfer; wenn ihre Tapferkeit sich aber auf ähnliche Art äußerte, so wüßte ich nicht, daß Ulyß und Nestor auch ausserdem weise, kluge Männer wären. Wenn Achill einen seiner getödteten Krieger, den er liebte, hätte rächen wollen, würd' er nicht mit der Vorsicht, die Ulyß dabey gebraucht, in die ersten Reihen hervorgetreten seyn34. Auch steht es nur dem Ulyß allein, seines übrigen Charakters wegen, zu, daß er, da die Rede vom Zweykampf mit dem Hektor ist, der letzte unter denen ist, die da aufstehen, um sich zu diesem Zweykampf anzubieten. Und würde der weise Nestor, so wie der weise Ulyß, wenn er sich auch gebrauchen lassen, den Philoktet ins Lager zu bringen, von dem Theater verschwunden seyn, wenn Philoktet, die Waffen in Händen, im Zorn entbrennt35? Aber, so wie sich die Weisheit des Nestors von der Weisheit des Ulyß darinn unterscheidet, daß jene natürlich, und offen; diese aber Künsteley und List ist; eben so erhält auch die Tapferkeit dieser beyden Personen, durch die Hauptzüge ihres Charakters, durch ihre Weisheit und Klugheit, ihre Abänderungen und Einschränkungen; Nestors Tapferkeit zieht immer Erfahrung[490] zu Rathe; und die Tapferkeit des Ulyß geht beständig mit der größten Vorsicht zu Werke) –

Eben so sollen nun auch billig im Roman die Aeußerungen der verschiedenen Personen, in Thaten und Worten, Wirkungen seyn, von welchen ihr Charakter die Ursache ist. Charakter, und Rede oder That müssen in dem genauesten Verhältniß dieser Art, mit einander stehen. Der Mensch muß nichts thun, als was er, zufolge seines, aus verschiedenen Eigenschaften zusammengesetzten Charakters thun muß, oder wenigstens thun kann.

Wider diese Wahrheit, wider diese Nothwendigkeit nun, wird nirgends mehr verstoßen, als in den gewöhnlichen Romanen. Die Romanendichter scheinen es sich, als ein Vorrecht, zugeeignet zu haben, daß ihre verschiedenen Personen, ohne Uebereinstimmung zwischen Mann und That, auftreten dürfen; und glauben dadurch vielleicht das Wunderbare, das heißt, nach den gewöhnlichen Begriffen, das Anziehende in ihren Werken, zu vermehren. Und wo könnten sie auch die seltsamen Begebenheiten und Vorfälle hernehmen, wenn sie nicht, zu dieser Erfindung, ihre Zuflucht hätten? Wenn es ihnen um eine Wirkung, um einen Vorfall, eine Begebenheit in ihren Werken zu thun ist: so ist ihnen die Person sehr gleichgültig, die sie hervorbringt; genug, wenn die Wirkung erfolgt. Wie stimmt[491] es mit dem Charakter eines alten, wollüstigen Kriegers, z.B., zusammen, daß, wenn er ein jung Mägdchen behorcht, für welche er ungefähr das empfindet, was der hungrige Magen, um mich mit Fieldingen auszudrücken, für ein Stück gekocht Rindfleisch fühlet, daß, sage ich, er ein Lied, das dies junge Mägdchen eben, und nur einmal singt, (ein Lied, das noch dazu gar nicht in seinen Kram taugt, und für seine Denkungsart paßt) – auswendig lerne, oder gar aufschreibe? – Er, der alte Wollüstling, sieht das Mägdchen überdem das erstemal. – Wenn dies etwann Wirkung der Schönheit und Liebe seyn soll: so ist Charakter und Situation der Person, – gerade die beyden wichtigsten Sachen! – ganz dabey vergessen worden. Eben so ists, wenn Personen, welchen der Dichter buchstäblich viel Zurückhaltung zugelegt hat, bey der ersten, besten Gelegenheit, auf die erste Bekanntschaft mit ihrer Geschichte, heraus platzen. – Ich enthalte mich fernerer Beyspiele. Exempla sunt odiosa. Nur hüte sich der Romanendichter, der uns mit Wahrheit und Natur unterhalten, – der unser Lehrer werden will, vor ähnlichen Abschweifungen!

34

Illiad. Δ.

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Soph. Phil. Act. V. Sc. 3.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 488-492.
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