[Die Rose blüht]

[262] Die Rose blüht; schloß gleich ein rauher Wind,

Als sie der goldnen Imme sich erschlossen,

Der Liebe arglos offnen Kelch geschwind,

Hat doch der Haß nicht Gift hineingegossen!

Sie schloß gleich einem bangen, zarten Kind

Die Augen, bis die Zornflut abgeflossen;

Vielleicht schloß sie in brünstigem Verlangen

Sich nur so schnell, die Biene einzufangen?


Die Rose blüht, die Biene ist entflohn,

Aufs neue muß sie mit den Frühlingsglocken

Des Zornes Stachel führnden, goldnen Sohn

In ihres Duftes keuschen Busen locken;

Ihr süß'ster Tau, kehrt er, wird ihm zum Lohn;

O kehr, mein Bienlein, sei nicht so erschrocken!

Zum Garten sieht mein Fenster, dorten wohn' ich.

Komm, liebe Imme, sammle Wachs und Honig!


Die Rose blüht; wenn alle Vöglein schlafen,

Wenn nieder hintern Wald die Sonne flieht,

Wenn treu der Mond mit seinen Wolkenschafen

An deiner Rose Stand vorüberzieht,

Zur Stunde, als Imeldens Töne trafen

Ein liebes Herz durch ein unschuldig Lied,

Da will am Fenster nieder zu dem Garten

Die Rose auf die fromme Biene warten.


Die Rose blüht; o fliehe, Licht der Sonnen,

O führe, Mond, die Sternenherde bald

Zum stillen, vollen, goldnen Mondesbronnen,

Streu aus den sichren Schatten, dunkler Wald,

Und bleiche, Mond, was Liebe hat gesponnen!

Doch mit Musik, die anderswo erschallt,

Mag Amor all die Schmetterlinge irren,

Die lauschend gern die Rose dir umschwirren.


Die Rose blüht, der Zorn ist voll Verderben!

Wer, Zorn, gerät in deine finstre Haft,[263]

Der mordet, martert, tötet ohne Sterben

Und hat der bittren Hölle Eigenschaft!

O Liebe, wer die Einsicht dürft' erwerben

Von deiner Gottestiefe Wunderkraft!

O Liebe, wer, ein Tröpflein, sich verlöre

In deines Segens weltumspielndem Meere!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 262-264.
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