[Es ist ein Schnitter, der heißt Tod]

[612] Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,

Er mäht das Korn, wenn's Gott gebot;

Schon wetzt er die Sense,

Daß schneidend sie glänze,

Bald wird er dich schneiden,

Du mußt es nur leiden;

Mußt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Was heut noch frisch und blühend steht

Wird morgen schon hinweggemäht,

Ihr edlen Narzissen,

Ihr süßen Melissen,

Ihr sehnenden Winden,

Ihr Leid-Hyazinthen,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Viel hunderttausend ohne Zahl,

Ihr sinket durch der Sense Stahl,

Weh Rosen, weh Lilien,

Weh krause Basilien!

Selbst euch Kaiserkronen

Wird er nicht verschonen;

Ihr müßt zum Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Du himmelfarben Ehrenpreis,

Du Träumer, Mohn, rot, gelb und weiß,

Aurikeln, Ranunkeln,

Und Nelken, die funkeln,

Und Malven und Narden

Braucht nicht lang zu warten;

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Du farbentrunkner Tulpenflor,

Du tausendschöner Floramor,[613]

Ihr Blutes-Verwandten,

Ihr Glut-Amaranthen,

Ihr Veilchen, ihr stillen,

Ihr frommen Kamillen,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Du stolzer, blauer Rittersporn,

Ihr Klapperrosen in dem Korn,

Ihr Röslein Adonis,

Ihr Siegel Salomonis,

Ihr blauen Cyanen,

Braucht ihn nicht zu mahnen.

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein.


Lieb Denkeli, Vergiß mein nicht,

Er weiß schon, was dein Name spricht,

Dich seufzerumschwirrte

Brautkränzende Myrte,

Selbst euch Immortellen

Wird alle er fällen!

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Des Frühlings Schatz und Waffensaal

Ihr Kronen, Zepter ohne Zahl,

Ihr Schwerter und Pfeile

Ihr Speere und Keile,

Ihr Helme und Fahnen

Unzähliger Ahnen,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Des Maies Brautschmuck auf der Au,

Ihr Kränzlein reich von Perlentau,

Ihr Herzen umschlungen,

Ihr Flammen und Zungen,[614]

Ihr Händlein in Schlingen

Von schimmernden Ringen,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Ihr samtnen Rosen-Miederlein,

Ihr seidnen Lilien-Schleierlein,

Ihr lockenden Glocken,

Ihr Schräubchen und Flocken,

Ihr Träubchen, ihr Becher,

Ihr Häubchen, ihr Fächer,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Herz, tröste dich, schon kömmt die Zeit,

Die von der Marter dich befreit,

Ihr Schlangen, ihr Drachen,

Ihr Zähne, ihr Rachen,

Ihr Nägel, ihr Kerzen,

Sinnbilder der Schmerzen,

Müßt in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


O heimlich Weh halt dich bereit!

Bald nimmt man dir dein Trostgeschmeid,

Das duftende Sehnen

Der Kelche voll Tränen,

Das hoffende Ranken

Der kranken Gedanken

Muß in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Ihr Bienlein ziehet aus dem Feld,

Man bricht euch ab das Honigzelt,

Die Bronnen der Wonnen,

Die Augen, die Sonnen,

Der Erdsterne Wunder,

Sie sinken jetzt unter,[615]

All in den Erntekranz hinein,

Hüte dich schöns Blümelein!


O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!

Den Kranz helft mir winden,

Die Garbe helft binden,

Kein Blümlein darf fehlen,

Jed Körnlein wird zählen

Der Herr auf seiner Tenne rein,

Hüte dich schöns Blümelein!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 612-616.
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