[Ich nahm das Kreuz und zog durchs Labyrinth]

[479] Ich nahm das Kreuz und zog durchs Labyrinth,

Das wie ein Garten voll von Dornen war,

Drin saß das Mitleid, ein verschleiert Kind,

Und weihte sich als Opfer am Altar,

Erhob sich in jungfräulicher Gestalt,

Und war ein Engel und der Satan bebte,

Denn Huld und Treu und Fleiß tat ihm Gewalt,

Wo die geweihte Jungfrau helfend schwebte.

Den Kreuzweg baute sie am Höllenrande,

Trug dornbekränzt ihr Kreuz dem Herren nach,

Die Rose lehrt erröten da die Schande,

Der Lilie Reinheit teilte Sünderschmach;

Da ward die Sitte Keuschheit, Freundschaft Jesusliebe,

Die Treue Christentum, die Anmut Himmelswerber,

Der Glaube Werk, Pflichtweihe ward zum Triebe,

Die Hand der Einfalt pfleget den Verderber,

Und führt Verzweiflung in die Kinderlehre,

Der Unschuld Tränen heilten feile Pest;

Um Jesu Kreuz und Schmach war ihre Ehre,

In seiner Seite war der Taube Nest.

Ihr sah ich zu und nicht den Tageshelden,

Für deren Glorie ward ich taub und blind und lahm,

Und konnte Freundes Drohung Lügen schelten,

Weil besser ich hinweggieng, als ich kam.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 479.
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