[Wenn es stürmet auf den Wogen]

[324] [1816–]


Wenn es stürmet auf den Wogen,

Sitzt die Schifferin zu Haus,

Doch ihr Herz ist hingezogen

Auf die weite See hinaus,


Bei jeder Welle, die brandet

Schäumend an Ufers Rand,

Denkt sie, er strandet, er strandet, er strandet,

Er kehret mir nimmer zum Land.


Bei des Donners wildem Toben

Sitzt die Schäferin zu Haus,

Doch ihr Herz, das schwebet oben

In des Wetters wildem Saus.


Bei jedem Strahle, der klirrte

Schmetternd durch Donners Groll,

Denkt sie, mein Hirte, mein Hirte, mein Hirte

Mir nimmermehr kehren soll.


Wenn es in dem Abgrund bebet,

Sitzt des Bergmanns Weib zu Haus,

Doch ihr treues Herz, das schwebet

In des Schachtes dunklem Graus.


Bei jedem Stoße, der rüttet

Hallend im dunkelen Schacht;

Denkt sie, verschüttet, verschüttet, verschüttet

Ist mein Knapp' in der Erde Nacht.


Wenn die Feldschlacht tost und klirret,

Sitzt des Kriegers Weib zu Haus,

Doch ihr banges Herz, das irret

In des Kampfes wilden Strauß.[325]


Bei jedem Knall, jedem Hallen

Der Stücke an Bergeswand

Denkt sie gefallen, gefallen, gefallen

Ist mein Held nun fürs Vaterland.


Aber fern schon über die Berge,

Zogen die Wetter, der Donner verhallt,

Horch wie die jubelnde, trunkene Lerche,

Tireli, Tireli, siegreich erschallt.


Raben zieht weiter!

Himmel wird heiter,

Dringe mir, dringe mir,

Sonne hervor!


Jubelnde Lerche,

Über die Berge,

Singe mir, singe mir,

Wonne ins Ohr.


Mit Zipreß und Lorbeer kränzet

Sieg das freudig ernste Haupt,

Herr! wenn er mir niederglänzet

Mit dem Trauergrün umlaubt!


Dann sternlose Nacht sei willkommen,

Der Herr hat gegeben den Stern,

Der Herr hat genommen, genommen, genommen,

Gelobt sei der Wille des Herrn!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 324-326.
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