Fortsetzung meines Tagebuchs

[150] Ich fühlte plötzlich, daß ich mich in meiner Erzählung verloren hatte, und aus der Folge meiner innern Erneuerung getreten war.

Ich hatte mich auf meiner Erzählung in mein wirres Leben zurückgetragen, ich hatte meinen Talisman abgelegt. Meine ganze Umgebung sprach mich wieder fremd an. Ich war mit diesem zarten einfachen Leben uneins geworden, und schauerte, in alle Farben der wilden Welt gehüllt, vor dem Umriß meiner Lage, die mich so farbenlos wie ein Geist anredete – die Natur kommt uns armen unnatürlichen Menschen leider oft so übernatürlich vor.

Tilie, die an meinem Arme hing, schwieg. Ihr Anblick überraschte mich, und ihre Berührung machte mir bang; die ganze Reihe von Bergen um uns her, deren Häupter unsre Nachbarn waren, verschwammen im Mondenglanz in die Wolken, und türmten sich regellos wie Dampfsäulen wechselnd in den Himmel.

Eine unergründliche Tiefe zwischen Jetzt und Ehedem, wie die Täler zu meinen Füßen, ohne eine einzige Gestalt, wie siedende Kessel voll weißer Nebel und Dünste, ein ganzes Klima zu erschaffen.

Alles um mich her, ohne eine einzige Stelle, etwas hinzustellen, alles so voll und so wogend wie ein Meer, und in mir die drückende Last und der Drang, mich ewig von den Erinnerungen zu trennen, die, ohne Frucht üppig in Blätter und geruchlose Blüten schießend, jedem Bessern die Nahrung stehlen.

Alles das hatte mich zugleich umfaßt, meine ganze Vergangenheit, die ich durch meine lebhafte Erzählung erweckt hatte, ergoß sich mißgestaltend in meine Gegenwart, ich war ganz verloren, und wachte in dem abenteuerlichsten Traum.

Ohne irgend etwas zu denken, meine Seele wie in einem Wirbelwinde unter tausend Bildern und Ungestalten herumschwindelnd, blickte ich in den Wald, während ich mit vollem Bewußtsein neben Tilien in der herrlichen Nacht hätte gehen sollen.[150]

Ich blickte schon eine Zeitlang auf einen leuchtenden Punkt im Holze, der, zwischen den Bäumen hin und her schwankend, in der Ferne zwischen die Blätter leuchtete, und das Grün der Bäume entzündend, schimmernde Zweige in der tiefen Nacht des Waldes erblühen ließ. Meine Zerstreuung suchte dies nicht näher zu erforschen, sondern reichte bequem lieber zu dem nahen Gefühle, das mir so oft die erleuchteten Hüttenfenster auf meiner Reise einflößten.

Unwillkürlich malte ich mir eine kleine Bauernstube, und fühlte das Behagliche der Ruhe nach der Ermüdung; ich sah die Kinder rund um den Ofen, die Spinnräder und die Lampe nach der Reihe einschlafen, und dachte gar nicht dran, daß hier auf eine Meile Wegs keine Bauernhütte sein könne.

Ich wollte schon anfangen, Tilien meine Gefühle über die Hüttenfenster mitzuteilen, als es mir auffiel, daß sie so lange geschwiegen habe.

Ach, es ist sehr traurig, wie ungeschickt uns unsre Erziehung macht; unsre Seele wird vom bürgerlichen Leben, wie von einem Tanzmeister, in eine wunderbare steife Konsequenz und eine auswendig gelernte Mannigfaltigkeit geschraubt, die, sobald wir in die Natur treten, zu höchstverderblicher Ungeschmeidigkeit und Einseitigkeit führen.

Mit meiner Rückkehr in meinen vorigen Seelenzustand verbanden sich nach und nach alle seine Schwächen, so wie ein Weltmann nicht leicht einen französischen Pas und einen natürlichen Sprung in der Mitte vereinigen kann.

Ich war zu verwirrt, ich möchte sagen, zu erniedrigt, um Tiliens hohes, reines Leben voraussetzen zu können, und meine Frage, warum sie so lange geschwiegen habe, schien nur eine gewöhnliche Dame zu berühren. Ich vermutete, sie sei ängstlich geworden, meine Erzählung von der weißen Marmorfrau, die Nacht und die Einsamkeit mit mir habe in ihr jene weibliche Furcht erregt, die uns Männern so hinreißend wird, weil sie eine der wenigen Aufwallungen ist, in denen sich das eigne innere Verhältnis noch äußert.

Es ist so selten, daß die bloße Liebe von beiden Seiten gleichtätig die Geschlechter näher verbindet, daß uns bis jetzt die raschere, bestimmtere Annäherung zugeteilt wurde; ebendeswegen[151] tut es uns äußerst wohl, wenn wir einmal der feststehende und nicht der bewegte Teil sind, wenn eine Bewegung der Luft, oder das Gewicht der Reife, die Rosen oder die Früchte, die wir pflücken wollen, uns entgegen bewegt.

Tilie hatte im Gehen dann und wann ihre Hand fester auf die meinige gelegt.


Ich:


Wie ist dir, Tilie, sag, warum so stille?


Tilie:


Daß ich nicht spreche, ist dein eigner Wille,

Wie konntest du das alles so erzählen,

Nur diesen hohlen bangen Ton erwählen,

Der wie durch einen dunkeln, tiefen Gang

In deiner seltsamen Erzählung klang.


Im Anfang folgt ich dir, verließ die helle,

Die sterngezierte Nacht, die ernste Schwelle

Neugierig überschreitend, drang ich vor,

Bis ich mich ganz in Dunkelheit verlor.


Du warst so weit, so tief hinein gegangen,

Und Tilie konnte dich nicht mehr erlangen.

Ich eilte rückwärts, hörte dich nicht mehr,

Nur deine Stimme klang noch zu mir her.


Ich setzte mich still an der Höhle nieder

Und liebte dich nicht, denn du kamst nicht wieder.

Ich schaute einsam durch die dunklen Räume,

Aus Waldestiefen kamen zarte Träume

Und spielten mit des Mondes Geisterbildern,

Um meines Freundes Abschied mir zu mildern.


Nur eins von allen blieb bei mir zurücke,

Die weiße Marmorfrau, und meine Blicke

Ließ ich durch Schatten und durch Lichter spähen,

Und hoffte fest, die Arme zu ersehen;

Aus den Gebüschen, glaubt ich, muß sie schauen

Und könne mir allein ihr Leid vertrauen.[152]


Mich ergriffen ihre Worte heftig, wohl war ich Armer in einem langen düstern Gang, und konnte nicht wieder heraus.

Ich konnte Tilien nicht antworten; ich wußte nichts, gar nichts, und hätte fast vom Wetter gesprochen, hätten mir die Hüttenfenster nicht eine freundliche Unterhaltung angeboten.


Tilie:


Hier oben – Hüttenfenster, sag, wie ist dir?

Hier oben sind ja keine Hütten –


Die Auflösung meines Irrtums, der sich nun schon eine ganze halbe Stunde lang in meine Gedankenreihe verflochten hatte, vollendete meine Zerstörung. Mit einem sehr häßlichen Unwillen fuhr ich fort:


Was denn sonst

Solls sein, was dorten leuchtet?


Sie:


Nun, es wird wohl

Ein stilles Licht sein, kennst du diese nicht?


Ich:


Ein stilles Licht? – Das ist ein Aberglaube.


Tilie:


Ein Aberglaube? – Sag, was nennst du so?


Ich:


Ein Aberglaube? Nun, ein falscher Glaube.


Tilie:


Wie sprichst du Mann, wie hast du dich verändert;

Die Worte, falsch und schief, versteh ich nicht.

Woher sind sie gekommen, hast du sie

Aus deiner falschen Welt heraufgebracht?[153]


Ich:


Ich meine, liebe Tilie, daß die Lichter

Aus der Natur entspringen, und daß jeder

Verschiedne Glaube ihres Ursprungs falsch sei.


Tilie:


Von allem diesem weiß ich nichts. Natürlich

Ist alles. Von den stillen Lichtern schweige,

Ich ehre sie, sie sind mir lieb. Sehr selten

Ists, daß sich eines zeigt; es gehet dann

In meinem Leben sicher etwas Seltnes

Und Wunderbares vor, sie schimmern

Wie Winke meines Schutzgeists in der Nacht,

Und wandeln ferne in der Gegenwart

Wie kühnere Minuten meiner Zukunft vor mir.

Eusebion lieben sie, er sprach schon oft

Mit ihnen, und sie tanzen freundlich um ihn.

Willst du mir meine zarten Freunde stören,

So gieb mir erst, was sie mir still gewähren.


So weit für heut, ich bin so müde.

Godwi

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 150-154.
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